Tag 239: Alte Ängste, alte Wut

von Heiko Gärtner
28.08.2014 22:23 Uhr

Die Idee mit den Triggerpunkten war ja nicht schlecht, doch irgendwie führt das ganze dazu, dass es immer schlimmer wird. Ich brauche nun noch länger für meine alltäglichen Handlungen und gerate noch eher in Stress, wodurch ich dann noch mehr Fehler mache und mich noch mehr über mich selbst ärgere. Irgendwie komme ich so nicht weiter.

Auf der Wanderung ging ich das Thema mit Heiko daher noch einmal durch.

„Wenn ich dich richtig verstehe,“ sagte er, „dann kommentierst du gerade alle deine Handlungen in deinem Kopf. Das heißt du bist noch mehr in deiner Gehirnstimme und noch weniger im Moment, richtig?“

„Verdammt, das kann sein!“ antwortete ich. „Mir sind schon einige Dinge aufgefallen dadurch, aber meine Handlungen werden dadurch natürlich ein bisschen so wie von einem Roboter. Es ist nicht mehr intuitiv, sondern kommt alles vom Kopf.“

„Genau!“ fuhr Heiko fort, „Deine Idee war, dich mehr in die Präsenz zu bringen, doch das funktioniert so nicht. Es gibt einen Unterschied, ob man bewusst ist, oder ob man sich ein System erschafft, in dem man funktioniert, auch wenn man unbewusst ist. Und du versuchst gerade das zweite. Du hast Recht, es ist eine Trainingssache und du musst deine Aufmerksamkeit trainieren. Aber denk deinen Ansatz doch mal in Extremsituationen durch. Dann wird deutlich, dass er so nicht funktionieren kann. Du hast dir angewöhnt, alles erst einmal falsch zu machen, es dann zu merken und dann zu korrigieren. Dadurch brauchst du so viel mehr Zeit und dadurch nervst du dich und deine Mitmenschen. Jetzt versuchst du, in einer Situation erst einmal gar nicht zu reagieren, bis drei zu zählen und dann überlegt zu handeln. Doch was ist, wenn wir in eine Messerstecherei geraten und jemand auf mich los geht? Willst du dann bis drei zählen und schauen was passiert? Oder wenn du Eier aus dem Hühnerstall holen willst, wie gestern in dem Garten von unserem Gastgeber, und wenn dann ein Huhn davonläuft. Willst du dann warten bis es drei Sekunden Vorsprung hat? Ich glaube du gehst gerade noch von der falschen Seite an das Problem heran. Du willst trainieren, es richtig zu machen, doch du willst dir nicht anschauen, warum du so handelst, wie du handelst. Stell dir einmal die Frage, warum es dir so wichtig ist, andere Menschen mit deinen Handlungen zu nerven und zu vertreiben. Das muss ja einen Grund haben, sonst würdest du es nicht machen. Irgendwo, steckt da eine Angst dahinter.“

Ich überlegte, stand aber wieder einmal auf dem Schlauch. „Du meinst also, dass unstrukturiert und verpeillt bin, weil ich vor irgendetwas Angst habe? Aber anstatt mich der Angst zu stellen, versuche ich mir ein neues System zu erschaffen, mit dem ich funktioniere, ohne die Angst anzuschauen und aufzulösen?“

„Genau das!“ sagte Heiko.

„Ich glaube, dass es ebenfalls auch meiner Kindheit kommt und irgendwie mit meiner Familiensystematik zu tun hat.“ sagte ich mit einigem Zögern.

„Du meinst, dass deine Verplantheit und deine Dummheit beim Handeln eine Art Rebellion gegen deine Eltern ist?“

„Ja, ich denke schon. Ich weiß nur noch nicht genau wie!“ sagte ich.

„Was hat es denn für Vorteile, unstrukturiert zu sein, so dass niemand einen logischen Sinn in deinen Handlungen erkennen kann?“

„Ok, jetzt habe ich glaube ich einen Geistesblitz!“ sagte ich „Man ist nicht mehr so manipulierbar. Oder zumindest fühlt es sich so an!“

„Du bist auf dem richtigen Weg!“ bestätigte Heiko.

Die Kernessenzen des Gesprächs, so wie ich sie verstanden habe, sind die folgenden:

Aufgrund des vielen Leids, das meine Eltern in ihrer eigenen Kindheit erfahren haben, haben sie es sich vorgenommen, uns, also meiner Schwester und mir, ein perfektes Familienleben zu ermöglichen. Es sollte immer Harmonie und Frieden herrschen und es sollte weder Streit noch gegenseitige Verletzung geben. Das war eine schöne Idee, doch sie konnte natürlich nicht funktionieren und fühlte sich daher oft unauthentisch an. Da ich mich nie getraut habe, die Harmonie zu stören (oder nur in wenigen Fällen) und offen zu mir zu stehen, musste ich nach anderen Wegen suchen um gegen meine Eltern zu rebellieren. Ähnlich wie meine Mutter mir nichts direkt verboten hat, sondern immer durch indirekte Manipulationen meine Richtung so ablenken wollte, dass ich das tat, was sie für richtig hielt, wurde auch ich zum Manipulator. Ich traute mich nicht, offen zu rebellieren, also machte ich es im versteckten. Ich störte den oberflächlichen Frieden in dem ich mir lauter störende Verhaltensmuster aneignete, die dafür sorgten, dass eine Disharmonie entstehen musste. Wie dämlich das ist, wird mir erst jetzt bewusst, denn ich versuchte indirekt dadurch aus dem Familiensystem auszubrechen, dass ich unbewusst lauter Dinge tat, die mich unerfolgreich werden ließen. Wenn ich es schaffte, meinen Eltern lange genug auf den Keks zu gehen, dann würden sie mich irgendwann von alleine verstoßen und ich brauchte nicht offen zu sagen, was ich will.

In meiner ersten Beziehung widerholte sich dann das gleiche Muster. Ich war mit einer Frau zusammen, die einen ganz anderen Weg verfolgte, als ich und das wusste ich von der ersten Sekunde an. Doch aus Angst davor, wieder alleine zu sein, verschwieg ich meine wahren Wünsche und Träume und versuchte mich so gut es ging anzupassen. Auch hier verwendeten wir die gleichen Muster. Meine Freundin stupste mich Stück für Stück von meinem Lebensweg herunter in eine vollkommen andere Richtung. Ich hatte damals sogar wirklich kurzzeitig die Idee, sesshaft zu werden, einen festen Job anzunehmen und mit ihr eine Familie zu gründen. Doch tief in mir spürte ich, dass dies nicht mein Leben war und auch niemals werden konnte. Als mich ein Freund eines Tages fragte, was ich von der Idee hielt, mit ihm nach Australien zu segeln, war mein Herz sofort Feuer und Flamme. Mein Kopf sagte jedoch, dass ich das niemals machen könnte, solange ich mit meiner Freundin zusammen war. Da ich Angst davor hatte, zu mir zu stehen und ihr direkt zu sagen, dass es mit uns nichts werden würde, brauchte ich wieder einen anderen Weg. Ich musste mich selbst so unattraktiv machen, dass sie sich schließlich von mir trennen würde. Der Plan ist aufgegangen, wenngleich mir nie bewusst gewesen war, dass ich diesen Plan überhaupt verfolgt hatte.

Nach der Trennung wurde die Angst, mich durch eine neue Beziehung noch weiter von meinem Weg abbringen zu lassen immer größer. Ich hatte bereits davor ein komisches Verhältnis zu Beziehungen und zu Sexualität, aber jetzt war es erst recht gestört. Auch wenn ich offensichtlich nach einer neuen Partnerin suchte, tat ich doch unbewusst alles um jede Frau von mir fernzuhalten. Ich hatte eine so große Angst davor, wieder eingesperrt zu werden, dass ich niemanden mehr an mich heran ließ.

„Verstehe ich das richtig,“ fragte Heiko, „dass du eigentlich zwischen zwei Arten von Frauen unterteilst. Diejenigen, mit denen du Sex hast, die dann aber nur Sexualpartnerinnen sein sollen und diejenigen, mit denen du nur befreundet bist, die dann aber wirklich eine Rolle in deinem Leben spielen?“

„Ich fürchte schon,“ sagte ich traurig, „wenn beides zusammenkommt, dann macht es mir immer Angst und ich setze unbewusst alles daran, es irgendwie kaputt zu machen. Ich hatte in Hannover eine gute Freundin, mit der ich lange befreundet war und mit der ich mir wirklich eine Beziehung hätte vorstellen können. Doch ich hatte so eine Angst davor, die Freundschaft zu gefährden, dass ich mich nie getraut habe, etwas zu verändern. Solange bis es zu spät war.“

„Aber hat das nicht auch dazu geführt, dass du die Freundschaft zerstört hast?“

„Vielleicht schon! Wir haben jedenfalls so gut wie keinen Kontakt mehr.“

„Also fassen wir das ganze doch noch einmal zusammen. Du hast Angst davor, dass du Manipuliert und von deinem Weg abgebracht wirst, weil du dir selbst unklar darüber bist, was du eigentlich willst. Dadurch kannst du nicht klar zu dir stehen und hast dir lauter manipulative Verhaltensweisen angewöhnt, die dazu führen, dass du jeden Menschen, der dir nahestehen will aus deinem Leben vertreibst, in dem du ihn in den Tod nervst. Das klingt noch nicht so Hilfreich!“

„Ist es auch nicht!“ sagte ich, „Ich weiß nur noch nicht so genau, wie ich das abschaffen soll!“

„Erst einmal indem du vergibst und wirklich loslässt. Nur, weil du keinen Kontakt mehr zu deinen Eltern hast, heißt das ja noch nicht, dass du damit alle Themen hinter dir gelassen hast. Du hast über Jahre hinweg so viel Wut und Groll angestaut, die noch immer in dir brodeln, dass du kaum an etwas anderes denken kannst. Deine Wut hält dich fest wie eine eiserne Kette und führt dazu, dass du nicht im Jetzt sein kannst. Du musst begreifen, wirklich begreifen und nicht nur verstehen, dass alles, so passieren musste, wie es passiert ist. Du verurteilst deine Eltern dafür, wie sie ihr Leben gelebt haben und du gibst ihnen die Schuld dafür, dass du nicht perfekt bist. Du bist sauer auf sie weil du ihre Handlungen für schlecht hältst. Aber du musst die Dinge aus einem größeren Kontext heraus sehen. Alles hat seinen Grund und wenn du den begreifst, dann kannst du nicht mehr werten und verurteilen. So lange du noch nicht vergeben kannst, wirst du in deiner Wutspirale gefangen bleiben und immer unachtsamer werden. Ich glaube, du weißt, dass es ansteht, aber du schiebst es gerade immer weiter auf, weil du Angst davor hast und weil du glaubst, keine Zeit zu haben.“

Ich überlegte einen Moment. Dann sagte ich: “ Können wir dann heute Abend ein Vergebungs- und Heilungsritual machen? Ich merke, dass ich irgendetwas tun muss, bei dem ich weiß, dass ich wirklich die Wut loslasse und nicht nur glaube ich würde es machen, ohne dass sich irgendetwas verändert.“

„Ja,“ sagte er, „das können wir gerne machen!“

Als wir später am Nachmittag Villacaña erreichten, bat ich die Schöpfung darum, uns ein gemütliches Hostel zu schicken, wenn eine solche Heilungssession heute das Richtige war. Genau nach einer halben Stunde hatten wir einen Platz im Hostal Prickly. Es scheint also ein guter Zeitpunkt zu sein.

Villacaña war vor einigen Jahren einmal die Hochburg der Türenhersteller. Jetzt liefen wir beim Betreten der Stadt über 2 Kilometer an verlassenen und verfallenen Türenfabriken vorbei. Sogar die Stromleitungen waren gekappt worden, weil der ganze Stadtteil nicht mehr gebraucht wurde. Ich will nicht pessimistisch erscheinen, aber für mich sieht das nicht nach einer Krise aus. Eine Krise ist ein kurzzeitiger Tiefstand, nach dem es wieder besser wird. Doch hier wird die Wirtschaft regelrecht demontiert. Ein erneuter Aufschwung ist da nur schwer vorstellbar.

Spruch des Tages: Wir müssen die Dinge lustiger nehmen, als sie es verdienen,   zumal wir sie lange Zeit ernster genommen haben, als sie es verdienen.  

Höhenmeter: 60 m

Tagesetappe: 19 km

Gesamtstrecke: 4711,47 km

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare