Tag 1065: Alpenüberquerung mit dem Pilgerwagen

von Heiko Gärtner
09.12.2016 19:00 Uhr

24.11.2016

Es ist nun noch genau Monat bis Weihnachten! Als mir dies heute bewusst wurde, konnte ich es kaum glauben. Seit unserem Weihnachtsfestessen in der Dachlosen Schule in Italien ist viel Zeit wahnsinnig viel passiert und doch kommt es mir noch immer so vor, als wäre es erst ein paar Tage her. Das Frühstück im Kloster Einsiedeln war noch weitaus spartanischer als das Abendessen und bestand im Grunde nur aus einem Laib Brot mit etwas Butter und einigen Portionen abgepacktem Schmelzkäse. Zumindest was dies anbelangte pflegten die Mönche hier also doch noch die Tradition des Lebens in Einfachheit.

Von Einsiedeln aus führte unser Weg zunächst an einem kleinen Bach entlang ins hintere Ende des Tals. Eigentlich hätte dieses langgezogene, schmale Tal einer der schönsten und ruhigsten Orte der Welt sein müssen. Links und rechts ragten die schroffen, schneebedeckten Felsen empor, um uns herum gab es nichts als saftig grüne Wiesen und hin und wieder kamen einige winzige Orte mit zehn bis zwanzig urigen, alten Häusern. Doch auf eine gekonnte Art und Weise schafften es die Menschen, auch dieses Tal unangenehm zu machen, in dem sie einige simple aber effektive Methoden aus dem Lehrbuch „Lebensraumzerstörung für Anfänger“ anwandten.

Schritt Nr. 1: Verteile so viel Scheiße in der Landschaft wie möglich. „Scheiße“ ist in diesem Fall übrigens wörtlich zu nehmen, denn nahezu jedes Feld und jede Wiese wurde mit Jauche überhäuft. Nach einigen Kilometern wurden wir allein durch die Beobachtung zu regelrechten Scheiße-Fachleuten und konnten bereits auf den ersten Blick erkennen, wer welche Methode anwendete. So gab es die Flüssigdungsprüher, die ihren Kuhmist mit Wasser verdünnten und ihn dann in hohen Fontainen über ihre Wiesen sprühten. Dies waren die häufigsten Vertreter ihrer Gattung. Weniger Häufig kam die Sprutz-Schiss-Methode zum Tragen, bei der man den kompletten Stallmist inklusive Stroh in eine Art Hechsler stopfte, der die übelriechende Masse in kleine mundgerechte Häppchen zerteilte und dann in einem großen Bogen in die Luft schleuderte.

Schritt Nr. 2: Erschaffe einen unangenehmen Grundton, der durch das ganze Tal hallt. Dieser Ton wurde hier mit Hilfe einer Biogasanlage erzeugt, zu der ein lautes, schrilles Motor-Pumpwerk gehörte. Schritt Nr. 3: Nutze die ganze Palette technischer Errungenschaften, um auf möglichst vielfältige Weise Lärm zu erzeugen. Dazu eignen sich vor allem Traktoren, die bei dieser Gelegenheit auch gleich noch etwas Kuhscheiße transportieren können, sowie Motorroller, Kettensägen, Laubbläser und dergleichen mehr. Hier sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt. Wichtig dabei ist nur, dass man die einzelnen Lärmquellen so über das Tal verteilt, dass immer mindestens einer von ihnen in Hörweite ist, egal wo man sich befindet.

Schritt Nr. 4: Verändere die Natur so, dass auch sie zu einem Störfeld wird. Dieser Schritt ist schon eher eine Maßnahme für Fortgeschrittene, da er ein hohes Maß an logistischem Geschick, sowie einiges an Vorbereitung und Planung benötigt. Dafür ist es umso effektiver, da man am Ende ein verlässliches Störgeräusch erhält, das sogar dann noch aktiv ist, wenn keine Autos mehr fahren und alle Arbeiter bereits im Bett liegen. In diesem Fall waren die Grundvoraussetzungen für diesen Schritt bereits gegeben, denn es gab einen Bach, der mitten im Tal verlief. Dieser musste nun zunächst in seinem natürlichen Verlauf gestört werden, so dass er sich nicht mehr nach unten schlängelte, sondern gerade in einer Linie verlief, so dass das Wasser möglichst schnell wurde. Nun musste man das Wasser nur noch dadurch wieder verlangsamen, dass man künstliche Staustufen im Abstand von etwa 30 Metern einbaute. Über diese konnte der ansonsten ruhige Fluss nun hernieder rauschen, wodurch das Gefühl entstand, dass man sich permanent neben einem Wasserfall befand. Nur ohne den Wasserfall.

Wenn man all diese Schritte beachtete, konnte man es schaffen, dass man ein Gebiet voller Idylle und Schönheit so veränderte, dass es trotzdem keine Harmonie mehr gab. Eine reife Leistung, auf die man schon auf Stolz sein konnte. Dass dieses Konzept in der Schweiz blendend aufging wurde uns spätestens vier Stunden später in der Kantonshauptstadt Schwyz klar, als wir allein im Stadtkern an vier Fachgeschäften für Hörgeräte und Ohrakustik vorbeikamen. So sehr uns die Leistung in Sachen Harmonievermeidung auch beeindruckte, so sehr freuten wir uns doch, als wir das Tal schließlich verlassen konnten, um in die Berge hinaufzuwandern. Klar dauerte es keine drei Minuten, bis wir uns das flache Land zurücksehnten, denn nun ging es knapp 500 Höhenmeter in steilen Serpentinen hinauf. Vor uns lag der höchste Pass, den wir auf dem Schweizer Jakobsweg überwinden mussten. Er hatte eine Höhe von gut 1400 Metern über dem Meeresspiegel.

Bereits auf der Hälfte der Strecke tauchten die ersten kleinen Schneefelder auf und schon Bald war die Landschaft um uns herum mehr weiß als grün. Wir hatten nur Glück, dass in den letzten Tagen fast permanent der warme Föhnwind geblasen hatte, denn ohne ihn wäre der Schnee noch immer mehrere Meter hoch gewesen. So aber war er bis auf wenige Zentimeter zusammengeschmolzen und der Weg selbst war größtenteils vollkommen frei. Wenn uns vor drei Jahren jemand gesagt hätte, dass wir einmal mit unseren Pilgerwagen mitten im Winter eine Alpenüberquerung machen, dann hätten wir ihn für verrückt erklärt. Jetzt aber taten wir genau dies und waren uns nicht ganz sicher, ob wir uns deswegen nun nicht selbst für verrückt erklären sollten. Aber wie so oft war uns der Wettergott bislang hold gesonnen und wir vertrauten darauf, dass dies auch so blieb.

Oben auf der Alm war es dann wirklich so schön und idyllisch, wie man es von der Schweiz erwartete. Vollkommen verschwitzt aber glücklich erreichten wir den Pass und mit einem Mal wurde der Blick auf die andere Seite des Tals frei. Zunächst sah man nur das Kreuz einer kleinen Bergkapelle und als Heiko dies erblickte konnte er kaum mehr an sich halten. „Das gibt’s ja nicht!“ rief er, „Hier sind wir also! Jetzt musst du aufpassen, der Ausblick, der gleich kommt wird dich umhauen!“

Als Heiko das letzte Mal über diesen Pass gewandert war, war er als Steinzeitpilger und in Begleitung seiner damaligen Freundin unterwegs gewesen. Schon tagelang hatte es ununterbrochen wie aus Eimern geregnet und die Stimmung unter den beiden war bereits auf dem Siedepunkt. Der Umstand, dass sie an einem einzigen Tag vom Zürichsee, also etwa von Lachen aus hier her gewandert waren und erst Stunden später unten im Tal einen Platz zum Zelten fanden, machte es natürlich auch nicht unbedingt besser. Doch für diesen einen Moment waren die Sorgen, Probleme und Spannungen wie weggeblasen. Und Heiko hatte mit seinem Ausruf nicht übertrieben. Vor uns lag nun ein Bergpanorama wie man es nur an wenigen Orten auf dieser Welt zu sehen bekommt. Die Berge waren noch immer verschneit und ergaben gemeinsam ein epochales Gesamtbild. In der Mitte davon und gute 1000 Meter unter uns lag der Vierwaldstädtersee mit den Städten Brunnen und Schwyz an seinem Ufer. Am Himmel türmten sich die Wolken zu Bergen auf, die mit den Alpen durchaus mithalten konnten und an einer Stelle lugte ein klein wenig die Sonne hervor, die alles in ein mystisches Licht tauchte. Für diesen Anblick hatte sich der Aufstieg mehr als nur gelohnt.

Auch Heiko und seine Freundin hatten sechs Jahre zuvor für einige Augenblicke wie gebannt dagestanden und das atemberaubende Bergpanorama in sich aufgesogen. Dann hatte die junge Dame das Gipfelrestaurant entdeckt und ihr wurde wieder bewusst, dass sie vollkommen ausgemergelt und energielos war.

„Wir sehen uns später, Heiko!“ hatte sie nur noch gerufen und war Hals über Kopf hinunter in die Gaststube gejoggt, um sich dort einen großen, heißen Apfelstrudel mit Vanillesauce und eine Latte Macchiato zu gönnen. Heiko, dessen Mission es zu diesem Zeitpunkt war, sich rein von der Natur zu ernähren, hatte solange oben an einem Aussichtspunkt gewartet. Heute jedoch waren wir mit einer anderen Mission hier und somit sprach nichts dagegen, in besagter Wirtschaft nach einem Gipfelschmaus zu fragen. Doch das Glück war uns nicht hold und so mussten wir am Ende doch auf unser mitgebrachtes Wurstbrötchen zurückgreifen.

Der Abstieg ins Tal hinunter dauerte noch einmal gute zwei Stunden. Die Zeit, bis die Störfaktoren, die die Almidylle wieder zerstörten, zu uns zurückkehrten, war hingegen wesentlich kürzer. Bereits wenige Meter unterhalb des Passes stand schon wieder der nächste Jauchetransporter bereit und fast den kompletten Abstieg über liefen wir mit einer Hand an der Bremse und mit der anderen an der Nase. Der Gestank wäre sonst nicht zu ertragen gewesen. Teilweise war die Straße sogar so arg zugeschissen, dass wir aufpassen mussten, nicht auf der Dungschicht auszurutschen. Zum Glück hatte der Bauer, der für die Sauerei verantwortlich war eine Frau, die für ihn die Drecksarbeit erledigte. Mit einem großen und inzwischen dunkelbraunen Reisichbesen fegte sie den Mist nicht nur von der Straße, sondern auch von den zwei Meter hohen Pfählen, die man links und rechts davon als Schneemarkierungen aufgestellt hatte. Ihre ursprüngliche Farbe war ein leuchtendes Signal-Orange gewesen, nun aber waren sie bis zur Spitze mit einer dunklen, übelriechenden Schleimschicht bedeckt. Dass die Frau bei dieser Arbeit ebenfalls irgendwie scheiße drauf war, konnte man ihr eher nicht übel nehmen.

Unten im Tal kamen wir relativ unvermittelt in die Innenstadt von Schwyz. Die Stadt war an und für sich nicht groß und hatte von oben sogar recht einladend ausgesehen. Aus der Nähe betrachtet war sie jedoch das reinste Stressloch, in dem es keinen einzigen Platz zu geben schien, an dem man nicht ununterbrochen dem lauten Verkehr ausgesetzt war. Vielleicht war dies wirklich die lauteste und unruhigste Stadt, die wir je bereist haben. Vielleicht kam es uns auch nur so vor, weil wir gerade aus den Bergen kamen und nicht glauben konnten, dass beides so dicht beieinander lag. Gleich beim betreten der Stadt, hatten wir das dumpfe Gefühl, dass wir hier wohl eher keinen Schlafplatz auftreiben würden. Ein Gefühl, dass sich schon recht bald bestätigte.

Wie fast immer in solchen Hauptstädten, gab es auch hier leider keinerlei Infrastruktur, weder von Seiten der Kirche, noch von Seiten der Stadt. Arme kleine Hauptstadt! Wäre es hier nicht so unaushaltbar gewesen, hätten wir fast zu einer Spendenaktion aufgerufen, um für den Bau eines anständigen Gemeindehauses zu sammeln. Es ist ja schließlich kein Zustand, dass jedes kleine Dorf einen Platz für Reisende hat, eine so große Stadt aber nicht. Ich weiß nicht warum, aber die Pfarrsekretärin fand die Kommentare in dieser Richtung gar nicht so lustig, wie ich es erwartet hätte.

Eine knappe Stunde nach verlassen der Stadt erreichten wir das Kloster Ingenbohl, ein Frauenkloster das den Franziskanern zugehörig ist. Laut Aussage eines Kapuzinerbruders, den wir in Schwyz getroffen hatten, sollte es hier einen Platz für uns geben. Tatsächlich trafen wir gleich am Eingang auf eine kleine, fröhliche und sehr sympathische Nonne, die sich unser Anliegen in Ruhe anhörte.

„Ich denke, dass wir euch hier schon weiterhelfen können!“ meinte sie lächelnd, „aber ihr seit hier in der Schule gelandet!“ Sie schnappte sich zwei ihrer Schülerinnen und beauftragte sie damit, uns ins Pilgerhaus zu führen. Wenig später trafen wir hier auf zwei weitere Schwestern, die uns sehr freundlich aufnahmen. Nach einer wohltuenden und sehr nötigen Dusche trafen wir uns zu einem gemeinsamen Abendessen. Dabei erfuhren wir, dass der Orden ein weltumspannendes System war, das aber wie fast alle großen Orden der Heutigen Zeit ein echtes Problem mit dem Nachwuchs hatte. Es gab nur noch wenige Schwestern, die unter 60 waren und wo noch vor einigen Jahren der gesamte Schulunterricht von Nonnen geleitet wurde, gab es heute hier im Kloster keine einzige unterrichtende Schwester mehr.

Spruch des Tages: Eins steht fest, eine Alpenüberquerung machen wir auf diese Weise nicht!

Höhenmeter: 160 m Tagesetappe: 24 km Gesamtstrecke: 19. 421,27 km Wetter: vormittags eisiger Wind und -7°C, ab mittags sonnig Etappenziel: Besprechungsraum der Kirche, Interlaken, Schweiz

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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