Als Aliens in einem Fremden Land

von Heiko Gärtner
05.12.2015 23:15 Uhr

Auch heute ging es weiter durch die Flachebene und noch immer war das Wandern alles andere als ein Genuss. Die Straßen waren holprig und teilweise fast unzugänglich und die Berge an Müll schlugen uns langsam aufs Gemüt. Noch vor ein paar Tagen waren wir froh gewesen, endlich einmal eine Weile durchs flache Land wandern zu können. Jetzt freuten wir uns schon wieder auf die Berge. Dort war es zwar anstrengender aber auch ruhiger und schöner. Albanien konnte nicht als gesamtes Land so grausam sein wie diese Gegend hier, da waren wir uns sicher.

Doch diese Gegend hatte es erst einmal in sich. Nachdem wir unser Zelt in den Feldern aufgeschlagen hatten, machte ich mich wieder auf die Suche nach Lebensmitteln und einer Stromquelle. Das Dorf in das ich dabei gelangte war noch weitaus unangenehmer als die, durch die wir zuvor gekommen waren. Ich weiß nicht warum, aber irgendetwas war hier anders. Alle starrten mich an als wäre ich ein Geist und mehrere Male lief es mir kalt den Rücken hinunter. In einem kleinen Lädchen fragte ich nach Wasser, doch es gab nur winzig kleine Flaschen, von denen ich ein Dutzend gebraucht hätte, um damit durchzukommen. Im zweiten Laden sah es ähnlich aus, doch hier entdeckte ich einen Sechserträger mit Eineinhalb-Liter-Flaschen, der versteckt hinter dem Tresen stand. Ich fragte den Ladenbesitzer danach, doch dieser bat mir wieder nur die kleinen Fläschchen an.

„Nein, nein!“ sagte ich und machte eine Handbewegung um Größe zu signalisieren. „Eine große Flasche!“

Wieder wies der Mann auf den Kleinkram, dieses Mal jedoch schon deutlich energischer. Ich versuchte es noch einmal und zeigte dabei auf die Flaschen hinterm Tresen. Da wurde der Mann sauer, drückte mir eine Miniflasche in die Hand und warf mich aus seinem Laden. „Die hier kannst du behalten!“ sagte er, „Und jetzt verschwinde und lass dich hier nie wieder blicken!“

Ich brauchte noch zwei weitere Läden, bis ich einen fand in dem ich dann wirklich Wasser kaufen konnte. Dabei geriet ich jedoch immer tiefer in den Ort hinein und je weiter ich in Richtung Zentrum kam, desto unangenehmer wurde es. Überall lauerten zwielichtige Gestalten in den dunklen Ecken und jede von ihnen starrte mich mit einer Mischung aus Angst, Gier und Faszination an, als wüssten sie nicht, ob sie mich fressen oder vor mir weglaufen sollten. War es wirklich eine gute Idee, hier irgendwo meinen Computer auszupacken und mit dem Arbeiten zu beginnen? Wenn ich jetzt schon so angegafft wurde, was würde dann erst passieren, wenn sie wussten, was ich für Werte bei mir trug? Gut fühlte sich das alles nicht an.

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Ich hielt mich wieder an größere Straßen und versuchte dabei in Richtung Ortsausgang zu gelangen, hielt aber dennoch Ausschau nach einer Bar oder etwas ähnlichem. Schließlich fand ich ein kleines Café, das von einem älteren Pärchen betrieben wurde. Das Pärchen selbst machte keinen gefährlichen Eindruck und von hier aus musste ich durch keine einsame Gasse mehr, um zurück zum Zelt zu gelangen. Noch immer fühlte ich mich nicht wirklich wohl bei der Sache, doch ich beschloss das Risiko einzugehen.

Erst jetzt stellte sich heraus, dass das gar nicht so einfach war, wie gedacht. Denn die Barleiterin war keinesfalls erfreut, dass ich ihren Strom nutzen wollte. Es war das erste Mal, dass ich in einem öffentlichen Café wirklich Überzeugungsarbeit leisten musste, um eine Steckdose benutzen zu dürfen. Schließlich willigte sie ein. Als ich jedoch meinen Computer anschloss, bekam sie fast einen Herzinfarkt.

„Ich dachte es geht um ein Handy!“ sagte sie entsetzt, „jetzt auch noch ein Computer?“

Doch ihr Mann beruhigte sie und nickte mir entspannt zu. Ich setzte mich in eine Ecke und richtete mich ein. Kurz darauf kam ein Junge mit zwei seiner Kumpels herein und setzte sich mir gegenüber. Er muss so um die sechzehn gewesen sein und war einer der Gründe, weshalb ich mich auf den Straßen so unwohl gefühlt hatte. Einen Moment lang schaute er mir zu, dann versuchte er ein Gespräch anzufangen in dem er mich auf eine Weise ansprach die in Deutschland als Aufforderung für eine Schlägerei durchgegangen wäre. Ich antwortete ruhig, ohne mich großartig unterbrechen zu lassen und der Junge fuhr damit fort in regelmäßigen Abständen neue Fragen zu stellen, dessen Antwort er nicht verstehen konnte. Sein Englisch reichte für dreisilbige Fragen, aber weiter leider nicht. Einen Moment lang gab er Ruhe, doch dann übermannte ihn wieder sein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom und er begann laut zu schnipsen und zu Pfeifen um eine Reaktion von mir einzufordern. Ich verhielt mich freundlich aber distanziert und versuchte dabei so uninteressant wie möglich zu wirken. Doch das funktionierte leider nicht besonders gut. Schließlich kam er sogar zu mir herüber und schaute mir beim Schreiben in den Bildschirm. Ein Gefühl für höfliche Distanz gab es offensichtlich einfach nicht und je länger der Junge in meiner Nähe blieb, desto schwerer fiel es mir, höflich zu bleiben. Ich empfand ihn als aufdringliche, penetrante Nervensäge, der so langweilig war, dass sie anderen um jeden Preis auf den Senkel gehen musste. Schließlich jedoch kamen noch weitere seiner Kumpel und er lief raus um mit ihnen Fußball zu spielen.

Als ich eine halbe Stunde später das Café verließ bolzte er noch immer direkt vor der Tür. Sofort kam er auf mich zu, verabschiedete sich freundlich und wünschte mir eine gute Reise. Ich war verblüfft. Sein ganzes nerviges Prollgehabe war also nichts weiter als eine Fassade gewesen, durch die er versucht hatte, nett zu sein. Nichts war böse gemeint sondern wirklich ein Angebot für eine Freundschaft gewesen.

Trotzdem fühlte ich mich noch immer unwohl in dem Dorf, nachdem nun so viele Menschen wussten, was ich in meinem Rucksack verbarg. ‚Raus!’ dachte ich, ‚Nur schnell raus hier!’ Erst als ich die Hauptstraße erreicht und jeden hinter mir gelassen hatte, der mir komisch vor kam, wurde ich wieder entspannter. Hier konnte ich nun auch wieder in Ruhe an den Türen klingeln und nach Essen fragen. Und hier hatte ich nun auch wieder das Gefühl, dass ich mit wirklichen Menschen umgeben war, mit denen man gefahrlos sprechen konnte.

Am nächsten Morgen war es dann endlich soweit, dass wir die Flachebene verlassen und wieder in die Berge wandern konnten. Wer hätte gedacht, dass sich Anstrengung einmal so gut anfühlen würde? Beim Raussuchen der Strecken hatte ich etwas Bedenken, weil es im bergigen Teil des Landes nur noch Hauptstraßen gab, die genauso bezeichnet waren, wie die unerträglichen Verkehrsadern in der Ebene. Wenn sie im Gebirge genauso unerträglich waren, dann kamen rund 60km Hölle auf uns zu.

Doch bereits der erste Blick war beruhigend. Kurz bevor sich die Berge aus der Ebene Erhoben endete der ausgebaute Teil der Straße und sie wurde zu einer gigantischen Baustelle. Damit sah sie eigentlich aus, wie jede andere Straße auch, nur das ein paar Baufahrzeuge herumstanden und dass es einige Schilder gab, die diesen Teil der Straße für unfertig erklärten. Kaum hatten wir auch nur einen Höhenmeter hinter, bzw. unter uns gebracht, änderte sich das Landschaftsbild radikal. Das Gebirge war fast menschenleer und wunderschön. Unter uns blickten wir noch in das Tal, das wie eine Hölle aus Müll vor uns lag und gleich auf der anderen Seite begann ein Paradies aus Wäldern, grünen Hügeln, Felsen und Seen. Sofort kehrte die Ruhe wieder ein und das Wandern wurde wieder zu einer Freude.

Etwa fünf Kilometer vom Ende des Flachebene entfernt öffnete sich die schmale Schlucht zu einem weitläufigen Tal in dessen Mitte sich ein flacher See mit einer einzigen kleinen Insel darin befand. An seinem Ufer gab es ein Restaurant, das fast vollkommen verlassen da lag. Zwei Männer waren zu sehen, die etwas herumräumten und bei denen es sich offensichtlich um die Eigentümer handelte. Ich fragte sie nach etwas zu Essen, wobei ich wieder nur auf unseren Zettel zurückgreifen konnte. Doch die Beiden willigten ein. Ich weiß nicht warum, denn eigentlich gab es dafür keine Anzeichen, aber trotzdem hatte ich ein etwas ungutes Gefühl und war mir nicht sicher, ob sie wirklich verstanden hatten, dass wir ohne Geld reisten. Vorsichtshalber ging ich noch einmal zum jüngeren der beiden und zeigte ihm mein Handy, auf dessen Bildschirm unser Google-Übersetzer folgenden Satz geschrieben hatte: „Wir reisen komplett ohne Geld um die Welt und können unser Essen daher nicht bezahlen. Ist es trotzdem in Ordnung?“

Der Mann nickte und versicherte mir, dass es überhaupt kein Problem sei. Beruhigt setzte ich mich wieder an den Tisch und wir warteten auf unser Essen. Es gab Pommes mit Käse, Paprika Wurst, kleinen Minifischen und einem gemischten Salat. Alles war frittiert worden, außer natürlich der Salat. Es lag zwar wie ein Stein im Magen, aber vom Geschmack konnte man nicht meckern.

Dann jedoch wurde die Sache komisch. Als wir uns verabschieden und bedanken wollten, schaute uns der Mann nur grimmig an und sagte nichts. Nach einem Moment des Schweigens machte er jene Geste mit der rechten Hand, die international anerkannt ist, um damit Geld zu symbolisieren. Zunächst verstand ich es nicht, weil ich überzeugt war, dass wir zuvor alles geregelt hatten, doch der Mann widerholte nur immer und immer wieder die gleiche Geste. Also schloss ich mich seiner Taktik an und widerholte noch einmal den Satz auf dem Handy. Nun sagte er überhaupt nichts mehr und reagierte auch auf keinen unserer Kommunikationsversuche.

„Keine Ahnung, was los ist!“ sagte ich an Heiko gewandt, dem es ähnlich ging. Da wir hier nicht weiterkamen, wiederholten wir noch einmal unsere Dankes- und Grußformel und verließen das Restaurant.

Am Eingang holte uns der Mann wieder ein und verlangte noch einmal Geld von uns. Dieses Mal sprach er sogar ein bisschen Englisch.

„Es tut uns leid!“ sagte ich, „aber wir haben von vornherein gesagt, dass wir um eine Spende bitten, die wir nicht bezahlen können. Wenn das nicht in Ihrem Sinne war, dann hätten sie einfach Nein sagen müssen!“

Einen Moment lang kam der Gedanke in mir auf, dass er mich vielleicht wirklich nicht verstanden hatte und dass auch der Satz, den ich beim zweiten Mal vorzeigte, nicht aussagekräftig genug gewesen war. War es am Ende doch unsere Schuld gewesen?

Dann aber fiel mir auf, dass das ganze Verhalten des Mannes in sich nicht schlüssig war. Er hatte nach dem Lesen genickt, hatte OK gesagt und mir dann in der Küche gezeigt, was er noch übrig hatte, um uns eine Kleinigkeit daraus zu zaubern. Hätte er nicht gewusst, dass wir kein Geld hatten, dann hätte er mir in diesem Moment auch einen Preis dazu gesagt. Doch das hatte er nicht. Er wollte, dass wir ein schlechtes Gewissen bekamen und hoffte, uns dadurch übers Ohr hauen zu können. In der Diskussion auf seiner Einfahrt wurde er dann sogar so dreist, dass er unser Smartphone als Bezahlung für sein Essen verlangte. Ich schaute ihn an und traute meinen Ohren nicht. „Wirklich? Ein Smartphone für rund 100€ als Bezahlung für ein Essen im Wert von gerade einmal 5€?“

Heiko hatte einen besseren Deal im Angebot. Er packte unsere Vorratstüte mit Obst aus und legte dem Mann so viele Äpfel und Birnen auf den Tisch, dass der Gegenwert für seine verbrauchten Zutaten wieder ausgeglichen war.

„Hier!“ sagte er, „dass muss reichen!“

Dann verließen wir das Tal, ohne uns noch einmal umzuschauen.

Das wirklich krasse bei der Geschichte war jedoch, dass wir uns am Ende sogar noch um die Äpfel betrogen fühlten. Ich weiß nicht, ob ihr dieses Gefühl kennt, wenn man auf einem türkischen oder tschechischen Markt mit einem Händler feilscht, den Preis um mehr als die Hälfte senkt, glaubt einen guten Deal gemacht zu haben und keine zwei Minuten später der Überzeugung ist, komplett übers Ohr gehauen worden zu sein. Dieses Gefühl hatten wir nun auch.

Um das Dorf zu erreichen, bei dem wir heute rasten wollten, mussten wir über einige kleine Nebenstraßen in ein weiteres Tal wandern. Es war der einzige Streckenabschnitt in diesem Gebirge, bei dem ich Nebenstraßen gefunden hatte, die zumindest auf dem Satellitenbild aussahen, als könnten sie wirklich existieren. In natura erwiesen sie sich jedoch als äußerst unpraktisch, den sie bestanden komplett aus Felsbrocken, die man nebeneinander gereiht hatte. Jeder von euch kennt Kopfsteinpflaster und weiß, wie unbequem es ist auf ihnen zu laufen oder gar fahrradzufahren. Stellt euch so ein Kopfsteinpflaster nun einmal mit richtigen Felsbrocken vor, die alle unterschiedliche Größen und Formen haben und die auch in sich schon uneben sind. Während wir über diesen Zustand einer Straße wanderten, verging keine Minute in der wir nicht darüber grübelten, wieso man derartige Straßen überhaupt baute. Sie waren doch für niemanden praktisch. Zu Fuß verstauchte man sich die Knöchel, mit dem Fahrrad war es vollkommen unmöglich, ein Auto musste kämpfen um durchzukommen und für eine Pferdekutsche war es die reinste Hölle. Nicht einmal ein Pferd oder ein Esel ging gern über eine solche Straße. Die einzigen, denen sie vielleicht gefallen würde, waren Steinböcke und Bergziegen aber für die war sie wahrscheinlich wieder zu unspektakulär. Hätte man den Boden an dieser Stelle einfach so gelassen, wie er war, wäre das Durchkommen einfacher gewesen. Umso mehr waren wir fasziniert, als wir wirklich kurz hintereinander von einem Eselkarren und einem normalen PKW überholt wurden.

Spruch des Tages: I´m an Alien, I´m a German Man in Albania. (Sehr frei nach Sting)

 

Höhenmeter: 380 m

Tagesetappe: 12 km

Gesamtstrecke: 12.563,27 km

Wetter: sonnig

Etappenziel: Atelier eines Brautkleid-Herstellers, 88837 Petilia Policastro, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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