Angst vor der Angst

von Heiko Gärtner
27.05.2017 20:47 Uhr

Fortsetzung von Tag 1191:

Und bis heute glaube ich noch immer, dieser Mensch zu sein, der mir damals in den Filmen gezeigt wurde. Jemand der nie wiederspricht, der immer der brave, freundliche Arschkriecher ist und niemandem auf die Füße tritt, weil er keine eigene Persönlichkeit hat, mit der er das tun könnte. Für diesen Tobias war es natürlich ein absolutes Tabu, irgendetwas anzunehmen oder an sich zu verändern, das erkennen lassen würde, dass er doch einen Charakter oder auch nur einen funken Männlichkeit hat. Muskeln ausbilden geht nicht, Haare färben geht nicht, ein ausgefallener Kleidungsstil geht nicht und Tattoos und Piercings gehen erst recht nicht. Nicht einmal meine Studentenwohnung konnte ich mir individuell einrichten. Ich weiß noch, dass ich damals den Plan hatte, mir alles über Second-Hand-Märkte zusammenzustellen und so eine richtige improvisierte Studentenbude einzurichten. Aber dann kamen meine Eltern um mir beim Umzug zu helfen und innerhalb von zwei Stunden hatte ich plötzlich eine Standart-Möbelhaus-Einrichtung die aussah, wie das Wohnzimmer meiner Eltern in klein und billig. Wieder war es nun ein Zimmer, in das man hinein kam und sagte: „Oh, anständig!“ Nicht schön, nicht kreativ, nicht gemütlich, nicht extravagant. Anständig.

Dieses Bild trage ich nun schon mein ganzes Leben lang mit mir herum. Der anständige, brave Junge, den keiner ernst nehmen kann und der niemals gegen irgendetwas aufmucken wird. Egal was ich auch angestellt habe und wie krass auch die Aktionen waren, die ich alleine oder mit Heiko unternommen habe, ich blieb in den Augen anderer stets die kleine, freundliche Schwuchtel. Die Komentare nach den Fernsehdokumentationen zum Beispiel, in denen ich im Eis gebadet, mich von tausend Mücken stechen lassen oder mich ohne Gurt von einem Felsen abgeseilt habe lauteten immer gleich: „Wer ist denn dieses Weichei, dass da durch den Wald läuft? Die Frage ist berechtigt! Wer ist das? Bin ich das wirklich? Bin das wirklich ich? Oder sind es viel mehr Selbstbilder die in mir erzeugt wurden, um mich davon abzuhalten, zu erkennen, wer ich wirklich bin und was ich wirklich kann? Vom Verstand her leuchtet es mir ein. Ich bin dieser Mensch nicht. Es waren Illusionsbilder, von denen keines je real war und somit spricht nichts dagegen, das alles hinter mir zu lassen. Doch vom Gefühl her bin ich noch immer überzeugt, der Tobias zu sein, den man mir vorgespielt hat. Und auch wenn ich ihn nicht mag, habe ich Angst davor, ihn sterben zu lassen. Warum?

Hier kommt der zentrale Punkt. Ich habe das Gefühl, dass ich mir sobald er stirbt eingestehen muss, dass ich noch nie gelebt habe. Mein Leben beginnt also jetzt in diesem Moment, was mich gewissermaßen zum Säugling macht. Wenn Tobias stirbt, ist das, was übrig bleibt ein hilfloses Wesen ohne jede Fähigkeit, das ununterbrochen Hilfe braucht, dem man alles erklären und zeigen muss und der nichts selbstständig erledigen kann. Anders als ein Säugling habe ich dabei aber keinen Baby-Bonus mehr und somit bin ich ein unnützer Klotz am Bein, den keiner gern haben oder bei sich behalten kann, weil er nicht hilfreich ist. Deswegen ist diese immense Verlustangst in mir, die Angst, dass ich verstoßen werde, wenn ich das zulasse. Eine Angst übrigens, die ja laut Illusionsfilmen gerechtfertigt ist, weil mit mit den Menschen, die mich eigentlich hätten beindungslos Lieben sollen ja genau das passiert ist. Einmal aufmucken und schon ist man Geschichte.

Aufgrund dieser Angst kommt das Gefühl, mich an irgendetwas klammern zu müssen, um eben nicht zu diesem hilflosen Säugling zu werden. Und das einzige an das ich mich klammern kann, sind die Fähigkeiten von Tobias. Ich habe also das Gefühl, dass ich ihn noch brauche, weil ich seine Fähigkeiten nutzen muss um eben nicht verstoßen zu werden. Das Problem an dieser Strategie ist nur, dass Tobias überhaupt keine Fähigkeiten besitzt. Er hat ja nie gelebt sondern war stets nur eine Illusion. Ich war dieser Tobias ja nie, weil es ihn nie gab und er somit auch nie Fähigkeiten hätte entwickeln können. Und genau das macht mich gerade auch so fertig, das Gefühl einfach nichts zu können und vor allem nichts zu lernen. Immer und immer wieder die gleichen Fehler zu machen und auf der Stelle zu treten, egal wie sehr ich mich auch anstrenge. Es ist nicht, dass ich glaube, dass Tobias großartige Fähigkeiten hatte, die ich nun verliere, wenn ich als Franz neu anfange, es ist viel mehr so, dass ich glaube überhaupt nichts zu können, dies aber verheimlichen und daher permanent Fähigkeiten vortäuschen zu müssen. Wenn ich nun aber versuche, mit diesen vorgetäuschten Fähigkeiten etwas zu erschaffen, ist es etwa so, als würde ich träumen, dass ich etwas erschaffe. Ich schlafe in gewisser Weise, nicht mit geschlossenen Augen aber in der Form, dass ich nie wirklich wach bin. Ich träume dabei, dass ich arbeite, permanent im Stress bin, nie genug Zeit habe und immer mehr und noch mehr tun muss. Und dann wache ich auf und alles ist wieder wie am Anfang, so als hätte ich überhaupt nichts getan. Habe ich ja auch nicht, denn es war ja nur ein Traum. Das ironische dabei ist, dass ich dadurch bin wie ein kleines Baby, das den ganzen Tag schläft, kurz aufwacht und nach Essen schreit. Essen ist bei mir gerade so ziemlich das einzige, bei dem ich zumindest eine Teilpräsenz besitze. Wenn ich aufwache bin ich hungrig und wenn ich gegessen habe, verfalle ich wieder in meinen Zombie-Modus. Ich bin also schon genau das, wovor ich Angst habe, dass ich es werden könnte, wenn ich Tobias loslasse, und ich bin es genau deshalb, weil ich ihn nicht loslassen kann. Ist das nicht paradox? Deswegen ist es auch kein Wunder, dass nichts mehr funktioniert. Ich fühle mich selbst nicht mehr, erkenne niemanden, habe keine Ziele, keine Vorstellungen, keine Meinung, keine Interessen. Ich bin wie eine Art Warteschleife, die auf neue Anrufe oder Aufträge wartet und dann so tut als würde sie eine Antwort geben. Die Schleife arbeitet permanent, aber sie bringt niemanden auch nur einen Schritt weiter.

Wie kann ich mit der Situation umgehen?

Wie immer ist der erste Schritt zunächst einmal, die Lage anzuerkennen wie sie ist. Ich muss keine Angst davor haben, ein unnützer Säugling zu werden, weil ich es bereits bin. Und als jemand, dessen Leben gerade erst begonnen hat, ist es auch OK, ein hilfloser Säugling zu sein. Diesen Zustand anzunehmen bedeutet nämlich zwei Dinge. Zum einen, zu erkennen, dass man als Illusionswesen mit Illusionsfähigkeiten niemals wirklich hilfreich sein kann, so dass es auch nichts nutzt, diese Fassade aufrecht zu erhalten und zum anderen anzunehmen, dass die Säuglingsphase in unserem Leben die ist, in der wir die größten und intensivsten Lernfortschritte machen. Wenn wir anerkennen, dass wir hilflose Säuglinge ohne Vorerfahrung sind erkennen wir auch an, dass wir unbeschriebene Blätter sind, die alles in sich aufsaugen können und die sich in kurzer Zeit enorm entwickeln. Denn es stimmt ja nicht ganz, dass wir keine Fähigkeiten besitzen. Wir hatten immer mal wieder Realmomente, wenn auch kurze, in denen wir bereits einen kleinen Ansatz von Fähigkeiten entwickeln konnten, die wir nun weiter ausbauen können. Dazu müssen wir nur aufhören, sie mit den Pseudofähigkeiten zu überlagern, unter denen wir sie bislang verschüttet haben. Warum lernen wir als kleine Kinder so schnell? Weil wir hier noch wesentlich stärker mit dem Allwissen und der Urquelle verbunden sind. Wir sind noch am Anfang des Weges, auf dem uns der Verwirrer von uns selbst wegbringt, also ist noch mehr Verbindung zur Göttlichkeit in uns, die dazu führt, dass wir uns ans Allwissen anschließen und dadurch unsere Fähigkeiten entfalten können.

Nun geht es darum, wieder zu erkennen, dass wir Lichtwesen und keine Illusionswesen sind. Wir sind nicht diese kleinen, unfähigen Kreaturen, die man uns in den Illusionsfilmen vorgeführt hat und die wir deshalb nun zu sein glauben. Je mehr wir dieses Illusionsbild ablegen, um zu erkennen, dass wir die Lichtwesen sind, desto mehr können wir uns auch wieder ans Allwissen anschließen und desto mehr werden sich unsere Fähigkeiten automatisch entwickeln. Oder besser: Desto mehr erkennen wir, dass wir bereits alles sind und alles können. Es geht ja gar nicht darum, etwas zu lernen, sondern nur darum, es unter dem Illusionsblödsinn freizuschaufeln. Dazu muss ich das alte natürlich loslassen, aber davor habe ich ebenen Schiss, weil ich glaube, dass ich dann nicht mehr hilfreich sein kann. Um diese Angst zu verlieren ist es erst einmal wichtig, zu erkennen, dass man als Illusionswesen überhaupt nicht hilfreich sein kann. Ich bin wie ein Geist, der beim Umzug helfen will. Klar kann ich den ganzen Tag hin und her laufen und versuchen Möbel zu bewegen, aber ich habe keinen Körper und wie sehr ich mich auch anstrenge, ich kann einfach nicht hilfreich sein. Das heißt, ich bin natürlich schon hilfreich, weil alles hilfreich ist. Aber im Moment besteht mein Beitrag darin, als Gegenspieler bei der zur Ausdehnung zu helfen, in dem ich den Weg immer länger mache. Das ist natürlich nicht mein Ziel, sondern eine klare Themaverfehlung. Das Ziel ist das Erwachen, also die Maske abzustreifen und den stressigen, auslaugenden Traum hinter mir zu lassen.

Damit bin ich nun bei dem Punkt mit der Körperveränderungen angekommen. Wir hatten ja vor kurzem von von der Art und Weise gesprochen, wie der Verwirrer handelt und wie er uns vom Erwachen abhält. Er sorgt dafür, dass die Tür, die uns zum Erwachen führt aus unserem Bewusstsein verschwindet, so dass unser Hunger verschwindet, danach zu suchen. Und er sorgt dafür, dass sie durch etwas überlagert wird, das in uns die stärkste Ablehnung und Angst hervorruft. Etwas, mit dem wir am meisten in Resonanz gehen. Etwas, das wir als Heidi und Tobias nie sein durften und von dem wir auch glaubten, es nie sein zu wollen. Wie gesagt, eine Hose mit Schlag oder ein leicht gefärbtes Haar wäre zu viel gewesen und somit standen Tattoos, Piercings oder gar Brandings vollkommen außer Frage. Spannend ist, dass es hier einen großen Unterschied zwischen Shania und mir gibt. Meine Präsenz und meine Bewusstheit über mich selbst sind stets so gering gewesen, dass ein einfacher strenger Blick oder ein beifälliges Wort reichte, um mich gefangen zu halten. Meine Rebellionskraft liegt knapp über Null, weshalb ich nie wirklich etwas erleben musste. Es reichte die Andeutung aus, dass ich verstoßen werden würde, wenn ich etwas tat, das nicht dem gewollten Bild entsprach und schon ging ich beifuß. Bei Shania war es anders. Ihre Rebellionskraft ist um rund 99% höher als meine und sie hätte sich von ein paar Anmerkungen nicht abhalten lassen. Sie hast rebelliert und wäre ausgebrochen, weshalb man ihr die härteren Bilder zeigen musste, um verständlich zu machen, dass ein Ausbruchsversuch Konsequenzen hat, die sie nicht tragen will. Sie musste das Gefühl haben es einmal probiert zu haben und damit mächtig auf die Schnauze gefallen zu sein. Nur eine Warnung hätte nichts gebracht.

Spannend finde ich gerade auch, dass mir in diesem Zusammenhang auch Filme übers Erschaffen gezeigt wurden. Immer wenn es darum ging, eine Aufgabe zu erfüllen, wie meine Bachelorarbeit, mein Abi, meine Hausarbeit in der Schule etc. dann musste ich mein Leben dafür auf Pause stellen. Die Zeit reicht nicht aus, um produktiv zu sein und gleichzeitig noch leben zu können. Lass also alles stehen und liegen, begib dich in einen Ausnahmezustand und ackere durch, bis zu es fertig hast. Danach kannst du dich dann wieder entspannen. Deswegen kommt in mir nun das Gefühl auf, dass Erschaffen anstrengend und unangenehm sein muss. Es ist etwas, vor dem man sich auf der einen Seite drückt und das man auf der anderen Seite nur schnell abgerissen haben will, damit man dann endlich wieder leben kann. Dass es mit dieser Einstellung schwer ist, außer permanentem Stress irgendetwas zu erschaffen ist ja logisch. Aber zurück zu den Körperveränderungen. Mein Türwächter könnte durch kaum etwas besser vertreten werden, als durch ein Branding, denn es vereint die Punkte, sich selbst freiwillig Schmerz zuzufügen und den Körper auf eine weise zu verändern, durch die er nicht mehr gesellschaftlich präsentierbar ist. Hier spüre ich auch wieder gleichzeitig den starken Wunsch und immensen Hunger auf der einen Seite und die gewaltige Angst auf der anderen. Ich kann und darf nicht der männliche, erhabene Rocker, voller ausgefallener Tattoos sein, der darauf scheißt, was andere von ihm halten, der zu sich steht, der weiß was er kann und es auch nutzt und der erhobenen Hauptes durchs Leben geht. Das darf ich nicht sein, deswegen darf ich auch keine Piercings, Brandings und Tattoos haben. Alles in mir sträubt sich dagegen und gleichzeitig spüre ich eine unendliche Sehnsucht danach, genau dieser Mann zu sein.

Die Frage ist also erneut: Woher kommt die Angst? In mir steckt der Satz, dass ich geächtet und verstoßen werde, sobald ich auch nur einen kleinen Teil von diesem männlichen, extravaganten Sein annehme. Sobald ich auch nur ein kleines bisschen aufgemuckt habe und nicht nur wie ein Hund hinterher laufe, werde ich nicht mehr gemocht und verstoßen. Sowohl wenn das absichtlich passiert als auch aus versehen. Bislang führte dies dazu, dass ich teilweise sogar Angst davor hatte, meine Meinung zu einem Film zu äußern, da diese als Falsch angesehen werden und daher ein Verstoßungsgrund sein könnte. Und nun will ich mich tätowieren und branden lassen und damit klar nach außen zeigen, dass ich ich bin und nichts darauf gebe, was andere von mir halten. Kein Wunder, dass mir das Angst macht. Deswegen ist es bei Shania und mir immer so präsent, dass wir dieses Gefühl haben, „ich bin Heidi“ oder „ich bin Tobias“, so dass wir es nicht loslassen können.

Spruch des Tages: Wenn man sich seine Angst bei Licht betrachtet, sieht sie gar nicht mehr so beängstigend aus.

Höhenmeter: 150 m Tagesetappe: 15 km Gesamtstrecke: 21.859,27 km Wetter: Sonnig und relativ warm Etappenziel: alter Rathaussaal, 62170 Marles sur Canche, Frankreich

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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