Tag 982: Der Angst stellen

von Heiko Gärtner
11.09.2016 18:32 Uhr

27.08.2016

Heute schaffte ich es, uns zu navigieren, ohne das wir uns verliefen, was die Tagestour jedoch nicht weniger anstrengend machte. Eigentlich wären heute wieder einmal die Sanktionen für die ganzen Herzensverstöße der letzten Tage fällig gewesen, doch wieder einmal fanden wir keinen Platz dafür. Dafür aber fanden wir heute relativ unkomplex einen Platz zum Schlafen. Wieder war der Pfarrer derjenige, der uns einlud, wobei wir dieses Mal sogar eine komplette Wohnung im Pfarrhaus zur Verfügung bekamen. Da unser Gastgeber selbst auf eine Hochzeit musste, waren wir die meiste Zeit für uns alleine und hatten dabei sogar volles Küchennutzungsrecht. So sorgfältig der Rest des Hauses eingerichtet und gepflegt war, so unmöglich und pekig war die Küche. Man merkte, dass die Pfarrer hier niemals selbst etwas kochten. Die Köchin war jedoch nur tagsüber da und so war anscheinend bislang niemandem aufgefallen, dass es kein wirklich funktionierendes Licht im Raum gab. Damit die Pfarre am Abend nicht verhungern mussten, machten ihnen die Köchinnen Boxen mit vorbereiteter Nahrung zurecht, die sie dann in den Kühlschrank stellten. Einige davon waren recht beliebt und verschwanden sofort wieder. Andere hingegen mussten schon eine komplette Ewigkeit im Kühlschrank liegen und hatten sogar schon wieder eine eigene Persönlichkeit entwickelt.

28.08.2016

Gleich nach dem Aufstehen bekamen wir ein Frühstück von der Köchin des Pfarrhauses. Draußen vor dem Fenster liefen bereits die Vorbereitungen für eine große Gemeindefeier, die hier heute stattfinden sollte. Der Parkplatz war voller Menschen und es wurde sogar ein Markt mit verschiedenen Verkaufsständen aufgebaut. Die Nacht war wieder einmal kurz gewesen und ich stand am Morgen noch immer vollkommen neben mir. Langsam wird es wirklich Zeit, dass ich es schaffe, mit dem Nachholen der liegengebliebenen Aufgaben fertig zu werden und wieder einen normalen Schlaf- und Tagesrhythmus anzunehmen. Denn der, den ich aktuell bestreite trägt nicht gerade zu meiner Aufmerksamkeit bei und führt auch nicht dazu, dass ich besonders effektiv oder hilfreich bin. Beim Packen unserer Säcke beispielsweise hat sich einer meiner Gurtspanner um meinen Reifen gewickelt. Ich suchte ihn sicher eine halbe Stunde, ohne ihn dort zu sehen. Von Heiko reichte schließlich ein Blick, um mich darauf aufmerksam zu machen. Ein klein bisschen deprimierend ist das schon!

Nach längerer Zeit erreichten wir heute wieder einen steilen Bergpass, der auf den ersten Blick einsam genug wirkte, um die Sanktionen abzuarbeiten, die sich in den letzten Tagen angesammelt hatten. Die lange Zeit und die immense Unachtsamkeit hatten einiges zusammenkommen lassen. So lag ich nun bei 1060 Rutenhieben auf den Arsch, 142 Hieben auf die Brust udn 150 auf die Hände. Wieder einmal war es eine Menge, die sofort die Angst in mir auslöste, es niemals durchstehen zu können. Spannend ist, dass dieses Gefühl inzwischen fast jedes Mal auftaucht. Auch hier verbirgt sich eine Kernangst: "Ich kann das nicht, ich schaffe es nicht, ich kann das nicht durchstehen!" Genau diese Angst ist es, die mich schon mein ganzes Leben in unglaublich vielen Bereichen ausbremst.

Letztlich stellte sich heraus, dass die Sanktion für Heiko fast schlimmer wurde als für mich, da er einen komplett lahmen Arm bekam, der ihm auch drei Tage später noch weh tat, weil er so verspannt war. Bei mir waren es vor allem die Schläge auf die Brust, die mir zu schaffen machten. Vor allem, da wir hier doch nicht so einsam waren, wie wir geglaubt hatten, denn permanent kamen Radfaher und Wanderer vorbei. Wir mussten uns also tief in den Wald zurückziehen und ich musste außerdem vollkommen leise sein, obwohl ich immer wieder den Drang verspürte, laut aufschreien zu wollen.

Der Abstieg, der nach dem Pass folgte, war der steilste unserer gesammten Reise. Es ging fast senkrecht den Berghang hinunter und das ohne jede Kurve oder Serpentine. Kurz bevor wir den Fuß des Berges erreichten, kamen wir an einem Grundstück vorbei, in dem zwei Männer und ein Hund saßen. Sobald der Hund uns erblickte, raste er auf uns zu, Kläffte uns so laut an wie er nur konnte und versuchte, uns in die Waden zu beißen. Ich wehrte seinen Angriff ab, indem ich nach ihm trat, wobei ich ihn nur um wenige Zentimeter verfehlte. Er erschrak kurz, ging etwas auf Abstand und bellte dann weiter mit dem gleichen Angriffsgeschrei wie zuvor. Die beiden Männer sahen sich die ganze Situation an und krümmten keinen Finger. Dass der Hund gestört war, konnte man ja auf eine gewisse Weise noch nachvollziehen, das Verhalten der Männer jedoch nicht. Wie konnte man nur so resistent sein? Wie konnte es sein, dass einem alles so vollkommen gleichgültig war? Der eigene Hund attackierte Passanten und man schaute dabei zu, ohne auch nur das geringste Interesse. Dann wehrten sich diese Passanten und waren kurz davor, den Hund zu verletzen und auch dieses war einem vollkommen wurscht. Ich glaube, in Deutschland kann man sich nicht einmal vorstellen, wie wenige hier eine Hundehaltung mit Tierliebe zu tun hat. Es sind reine Sachgüter, die sogar schlechter behandelt werden, als jeder tatsächliche Gegenstand.

Unten im Tal wurde es dann aber gleich noch einmal härter für unseren mitteleuropäischen Verstand. Direkt am Ufer eines Flusses führte die Autobahn endlang, von der ein schier unerträglicher Geräuschpegel ausging. Und trotzdem wurde der Fluss als offizieller Badebereich für die Touristen angesehen. Überall lagen Menschen in der Sonne, planschten im Wasser, angelten oder knutschten auf dem Handtuch mit ihrem Partner herum. Wenn man taubstumm war, dass musste dies nach einem traumhaften Ort aussehen. Mit Ton jedoch, war es vollkommen unverständlich, wie sich hier jemand auch nur fünf Minuten länger aufhalten konnte, als unbedingt nötig war. Was die Schlafplatzsituation anbelangte, hatten wir auch heute wieder Glück. Als wir unseren Zielort erreichten, war gerade Messe, doch direkt danach konnten wir mit dem Pfarrer sprechen, der uns einen Platz in einem kleinen Nebengebäude anbot.

Spruch des Tages: Ich kann das nicht durchstehen!

Höhenmeter: 420 m Tagesetappe: 28 km Gesamtstrecke: 17.852,27 km Wetter: Regen von morgens bis zum Nachmittag, dann einige vorsichtige Sonnenstrahlen Etappenziel: Zeltplatz am Waldrand, kurz hinter 753 01 Zamrsky, Tschechien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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