Aufmerksamkeit durch Stören gewinnen

von Heiko Gärtner
10.11.2017 12:33 Uhr

30.07.2017

Mit der kleinen Gemeindehalle hatten wir nun langsam den nördlichen Rand der Pannines, also des Hügelgebietes erreicht, das wir die letzten Tage durchwandert haben. Zum ersten Mal seit Shanias Ankunft mussten wir daher wieder durch eine Stadt und an einer Hauptstraße entlang wandern. Man muss ganz ehrlich sagen, vermisst haben wir das in den letzten Tagen nicht, denn die Städte bieten hier außer einer beeindruckenden Portion Hässlichkeit fast gar nichts mehr. Nicht einmal ein Döner oder eine anständige Portion Pommes waren drin.

Jungvogel nach erstem Flugversuch.

Jungvogel nach erstem Flugversuch.

Hinter der Stadt überquerten wir einen Hügel und landeten dann in einem einsamen Nachbartal, wo wir wieder in einer Kirche einziehen durften. Hier zu tätowieren war zunächst einmal ein komisches Gefühl, denn es gab keinen Nebenraum, in dem wir uns verstecken konnten. Wir konnten nur die Eingangstür absperren, so dass wir ein paar Sekunden Zeit bekamen, die Farben und Nadeln zu verstecken und mir meine Robe überzuwerfen, falls wirklich jemand kommen sollte. Einmal bekamen wir Besuch, von der Frau, die uns die Schlaferlaubnis erteilt hatte. Ansonsten blieben wir ungestört und durften sogar die Dusche der Nachbarin nutzen. Außer ihr gab es hier nur noch einen Reiterhof sowie eine junge Familie mit einem autistischen Kind. Letztere lebte in einem kleinen Haus und besaß nahezu keine Möbel. Es war wahrscheinlich eine der ärmsten Familien, die wir in Großbritannien überhaupt angetroffen haben und dennoch (oder vielleicht sogar deswegen) eine der großzügigsten und hilfsbereitesten überhaupt. Wenn ich die junge Mutter nicht gestoppt hätte, wäre sie noch in die nächste Stadt gefahren und hätte für uns eingekauft.

Tagebuch des Tattoo-Rituals: Tag 5

War ich vielleicht doch der einzige Mensch auf der Welt, der untätowierterbar war?

Seit dem ersten Moment an wollte die Farbe nicht unter meiner Haut haften bleiben. Wie war das möglich? Andere stachen sich mit einer Nadel und etwas Kugelschreibertinte und bekamen diese nie wieder weg, doch bei mir konnte Shania teilweise hunderte, ja tausende von Malen über die gleiche Stelle stechen und es änderte sich nichts. Wie konnte das sein?

Im Nachhinein sind die Zusammenhänge erkennbar.

Im Nachhinein sind die Zusammenhänge erkennbar.

Um uns ein wenig zu unterstützen begann Heiko parallel zu Shanias Linien-Ziehen heute bereits mit den ersten Füllarbeiten und machte dabei die gleiche Erfahrung. Immer und immer wieder stach er über ein und dasselbe Areal und machte nahezu keine Fortschritte. Während meine Haut immer wunder und gereizter wurde, ohne dass ein Erfolg in Aussicht stand, spürte ich, wie in mir der Frust aufstieg und ich langsam zu verzweifeln begann. Mit einem Mal musste ich losheulen und konnte die Tränen nicht mehr stoppen. Ich hatte das Gefühl, niemals weiterzukommen, nicht nur in Bezug auf das Tattoo, sondern insgesamt in meinem Leben. Mit einem Schlag kam nun der ganze Frust darüber hoch, so als hätten Heiko und Shania mit den letzten Stichen eine Lawine der Gefühle in mir losgetreten. Doch was stand dahinter? Dass ich mich hier irgendwie blockierte und mir selbst im Wege stand war klar, aber wieso ich es tat und wie ich es ändern konnte war mir ein Rätsel.

Lektion 11: Anerkennung durch negatives Verhalten

Um dieses Rätsel zu lösen, machten wir einige Austestungen, die mich zunächst gleich noch mehr frustrierten. Gerade einmal 0,01 % der Farbe blieb in meiner Haut haften. Das bedeutete, dass Shania nun 1000x stechen musste, um den gleichen Erfolg zu erzielen, den man unter Idealbedingungen mit nur einem einzigen Stich erzielen konnte. Und der Grund dafür war nichts anderes als Trotz. Es stand noch immer das gleiche, sabotierende Prinzip dahinter, das ich als Kind meiner Mutter gegenüber angewandt hatte. Wenn es hieß: „Räum dein Zimmer auf!“, dann sorgte ich dafür, dass es möglichst chaotisch blieb um so auf unterbewusste Weise Aufmerksamkeit zu erhaschen. Denn Aufmerksamkeit für positives Verhalten zu bekommen war in den Illusionsfilmen über meine Kindheit nur schwer oder gar nicht möglich gewesen. Es war stets normal gewesen, dass ich gute Noten mit nach Hause brachte, also gab es keinen Grund, dies besonders zu würdigen. Es wurde auch vorausgesetzt, dass ich mich anständig benahm, keinen Ärger machte, nicht zu lange fort ging und dergleichen mehr. Sobald ich mich also an Regeln hielt, passierte einfach nicht. Verstieß ich jedoch dagegen, gab es sofort eine heftige Reaktion. Niemals eine angenehme, aber immerhin irgendeine. Ein einziges Mal beim Feiern eine halbe Stunde nach Hause zu kommen reichte für ein Donnerwetter. Auch wenn ich stets das Gefühl hatte, diese Situationen vermeiden zu wollen, gab mir das Negativ-Feedback trotzdem irgendetwas, von dem ich, glaubte es zu brauchen. Es zeigte mir, dass ich doch nicht egal war, sondern dass es doch Gefühle in meiner Familie gab. Ich hasste diese Situationen, aber ich fühlte mich in ihnen auch gesehen und als Mensch anerkannt, während ich als braver, guter Sohn stets nur eine gefühllose Puppe war. Diesen Wunsch nach Aufmerksamkeit hatte ich noch immer und deshalb sabotierte mein Unterbewusstsein wo es nur konnte. Bislang hatte ich stets das Gefühl gehabt, lernresistent zu sein und Fehler einfach nicht abschalten zu können, selbst wenn ich sie erkannte. Nun wurde mir bewusst, dass dies nicht stimmte. In meiner abstrakten Wahrnehmung waren es keine Fehler, die man abschalten musste, sondern gut funktionierende Strategien, um Anerkennung zu gewinnen. Ich machte diesen Blödsinn, also nicht OBWOHL ich wusste, dass er scheiße war und zu Ärger führte, sondern WEIL ich wusste, dass ich damit Anerkennung in Form von Ärger erhalten konnte! Wie krass ist das denn???

Dies zu erfahren löste gleich noch einmal mehr Frust, Verzweiflung und Trauer aus und ich heulte nun ohne Unterlass. Als ich mich wieder etwas beruhigt hatte, kam Heiko auf ein anderes zentrales Thema zu sprechen: „Wie oft hast du dich eigentlich bei deinem Rücken bedankt, dafür, dass er all dies über sich ergehen lässt? Wie oft hast du ihm erklärt, warum er ein Tattoo bekommt, so dass er weiß, warum er die Farbe überhaupt annehmen sollte? Du hasst so Tattoos und all diese Dinge! Das war schon immer so und plötzlich soll sich dein Rücken wohl damit fühlen, dass er nun ein riesiges Bild aufgepresst bekommt? Als ich würde da auch keine Farbe annehmen!“

Er hatte recht! Tatsächlich hatte ich ihn kein einziges Mal um Erlaubnis gebeten, hatte nichts erklärt, mich nie bedankt und auch sonst keinen positiven Bezug zu meiner Haut und meinem Rücken aufgebaut. Irgendwie war klar, dass dieses Tattoo wichtig war, aber das war dann auch schon alles, was ich darüber sagen konnte.

Heiko forderte mich auf, meinen Platz zu verlassen und mich vorne in die Kirche an den Altar zu stellen, während Shania und er auf der ersten Bank Platz nahmen.

„Wir sind jetzt dein Rücken!“, erklärte er die Übung, „und du darfst uns nun erklären, warum wir den ganzen Tag gepikst werden und warum wir die komische Farbe aufnehmen sollten.“

Da stand ich nun mit 1000 Gedanken im Kopf, wollte lossprechen und brachte kein einziges Wort heraus. Meine Kehle war wie zugeschnürt und auch wenn ich viele Argumente wusste, die das Tattoo bedeutsam machten, hatte ich das Gefühl, kein einziges davon autistisch aussprechen zu können. So wie ich zuvor keinen Bezug zu meinem Rücken hatte, hatte ich nun auch keinen Bezug zu meinen Gefühlen. Etwas stand mir im Weg, blockierte mich und schnitt mich von allem ab.

Und wieder war dieses Etwas die noch immer offene Rechnung mit meiner Mutter.

Worum aber ging es dabei?

Fortsetzung folgt...

Spruch des Tages: Auch negative Aufmerksamkeit ist Aufmerksamkeit

 

Höhenmeter: 430 m

Tagesetappe: 47 km

Gesamtstrecke: 23.467,27 km

Wetter: überwiegend trocken und windig

Etappenziel: Schottische Kirche, Killin, Schottland

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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