Durch die Betonwüste: Die letzte Pilger-Etappe nach Speyer

von Franz Bujor
19.01.2014 03:02 Uhr
 

Durch die Betonwüste nach Speyer

Bevor ich mit den Ereignissen des heutigen Tages durch die Betonwüste nach Speyer beginne, muss ich noch einiges über gestern Abend berichten.

Bis uns Horst Hill, unser Gastgeber, um 21:30 abholte, hatten wir noch einiges an Zeit, die wir für Dinge nutzen konnten, die wir eigentlich schon lange einmal tun wollten. Unsere verspannten Muskeln einrenken, dehnen und massieren zum Beispiel. Oder etwas über die Dorntherapie lesen und das gelesene im Selbstversuch ausprobieren. Für den pensionierten Pfarrer, der am Fenster des Gemeindehauses vorbeispaziert kam, muss das ein irritierender Anblick gewesen sein: Zwei fremde Männer, von denen einer mit nacktem Oberkörper auf dem Tisch liegt, während der andere mit einer Hand auf seine Wirbelsäule herumdrückt und in der zweiten einen e-Book-Reader hält.

pilgeranhaenger

Mit dem Pilgeranhaenger durch den Wald.

 

Einige Zeit später bekamen wir dann Besuch von der Malscher Karnevalsgesellschaft, die heute ihren Kartenvorverkauf für die Prunksitzung startete. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir unsere Rückentherapiesitzung bereits beendet. Wie sich herausstellte, war Malsch trotz seiner geringen Größe eine berühmte Karnevalshochburg mit einer langen Tradition. Dies war auch der Grund, weswegen Horst erst ab halb zehn Zeit hatte. Er befand sich bei einer Probe des Herrenballetts und studierte eine Cheerleaderchoreografie ein. Als Pilger in der Stadt bevor es durch die Betonwüste nach Speyer geht zu übernachten, ohne den Malscher Karneval kennenzulernen, kam nicht in Frage. Also fuhren wir gemeinsam mit Herrn Hill, seiner Tanzlehrerin, dem Vereinsvorstand und seiner Frau ins sogenannte Wallhall. Hier wurde der Festtagswagen aufbewahrt, der mit seiner stattlichen Größe rund 22 Personen, mehrere Hundert Kilo Kamelle und einige Kisten Wein beherbergen und transportieren konnte. An den Wänden waren die Bilder des Prinzenpaares seit 1953 angebracht. Es war eine spannende Zeitreise, an der man sehr schön sehen konnte, wie sich die Mode in den letzten 60 Jahren verändert hat. Die Prinzessin von 53 war inzwischen etwas über 80 Jahre alt und lebte noch immer in Malsch.

Für Anekdoten sind wir immer zu haben

Bei Familie Hill zu hause saßen wir dann noch bis spät in die Nacht hinein im Wohnzimmer zusammen. Unser Gastgeber war früher Schulleiter gewesen und hatte einige Anekdoten aus dieser Zeit zu berichten. Wir wiederum gaben dafür Geschichten aus unserer Zeit als Erlebnispädagogen zum Besten, woraus insgesamt ein sehr lustiger Abend entstand. Horst war ein strenger aber gerechter Lehrer gewesen, vor dem seine ehemaligen Schüler bis heute großen Respekt haben. Einmal erwischte er einen Jungen vor der Sporthalle in der Betonwüste beim Rauchen. Ehe der Schüler den Rektor entdeckt hatte, hatte dieser ihm so eine Ohrfeige verpasst, dass ihm die Zigarette aus dem Mund fiel. Aus heutiger Sicht, eine eher unorthodoxe Methode, die aber ihre Wirkung erzielte. Der Junge rauchte nie wieder. Auf lange Sicht betrachtet, war diese Behandlung also deutlich unschädlicher als ihn rauchen zu lassen.

Wie ungewohnt es doch war, mal wieder in einem Auto mitzufahren

Heute morgen fuhren wir dann gemeinsam wieder zu unseren Pilgerwägen ins Gemeindehaus zurück und brachen von dort auf. Die Fahrten gestern und heute Morgen, waren das erste Mal seit Reisebeginn, wo wir wieder in ein Auto eingestiegen sind. 16 Tage sind noch keine lange Zeit, aber trotzdem fühlte es sich sehr komisch für uns an.

Vom Gemeindehaus in Malsch wanderten wir die Weinberge hinauf bis zu einer kleinen malerischen Kapelle. Jeder Mensch, dem wir auf diesem Weg und auf dem Weg ins Tal begegneten, grüßte uns freundlich und strahlte ein gutes Gefühl aus. Der erste Eindruck hatte uns also nicht getäuscht. Wir fühlten uns in Malsch von der ersten bis zur letzen Sekunde willkommen.

Durch die Betonwüste in Richtung Speyer

Durch die Betonwüste in Richtung Speyer

Von der Idylle in die graue Betonwüste

Dann jedoch änderte sich alles. Am Fuße des Weinberges begann eine Tiefebene, die uns über 20 Kilometer nur durch Industriegebiete, unter Starkstromleitungen hindurch und entlang von Schnellstraßen in die Betonwüste führte. Nach der Idylle vom Vortag wirkte hier alles tod, grau und unmenschlich. Das hier jemand leben wollte, schien uns unbegreiflich. Und tatsächlich machte es auch den Anschein, als lebte hier niemand. Wir trafen zwar viele Menschen, aber von der Lebensfreude der Malscher war nichts mehr zu spüren. Die Mehrzahl der Mundwinkel war an den Kniescheiben fest getackert worden und die meisten Menschen reagierten nicht einmal auf unser freudiges Grüßen.

Man sah ihnen an, dass sie ihre Umgebung fast vollständig ausblendeten. Ein absolutes Mysterium aber waren für uns die vielen Fahrradfahrer, die uns ununterbrochen überholten. Es gab so viele schöne Wege um Rad zu fahren in dieser Gegend. Warum fuhren sie ausgerechnet entlang der Schnellstraßen? Uns fiel nur eine einzige, logische Erklärung dafür ein. In einigen Kilometern Entfernung musste es eine Therme, ein Bordell oder einen Vergnügungspark geben, bei dem man freien Eintritt bekam, wenn man mit dem Rad anreiste. Wir konnten jedoch keine Bestätigung für diese Theorie finden.

Die Betonwüste lebt! Denn der Lebensraum vieler Tiere und Pflanzen hat sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch verändert. Statt in Wäldern und auf Wiesen leben sie auf Straßen und zwischen Betonwänden. Immer mehr Tier- und Pflanzenarten verlassen das Land und erobern die Stadt. Und passen sich dabei an ihr neues Umfeld an. Das erinnert einen auch etwas an die Musik von Kontra K, über die Betonwüste mit seinen Lyrics. Erkundet auch gerne das Synonym auch für die Betonwüste en español. Nicht ganz uninteressant wie wir finden!

Warum fühlen sich unsere Füße platt wie Flunder an?

Dank der unwirtlichen Umgebung zog sich der Weg heute wie Kaugummi. Durch den harten Asphalt der Betonwüste waren unsere Füße schon bald platt wie Flundern und Heikos Sehne begann mehr denn je zu schmerzen. Trotzdem waren wir dankbar dafür, einen ganzen Tag fast vollkommen ohne Schlamm und große Steigungen auszukommen.

Die Altstadt von Speyer bei Nacht

Die Altstadt von Speyer bei Nacht

 

Kurz vor Speyer überquerten wir den Rhein und konnten zum ersten Mal einen Blick auf den Dom werfen. Als wir das Eingangsportal des Doms erreichten, wurden wir bereits von Mini empfangen. Wir hatten uns am Vortag mit ihr über Couchsurfing zum Abendessen verabredet. Sie führte uns durch einige schmale Gassen in ihr trautes Heim, wo wir unsere Wägen im noch schmaleren Flur verstauten. Um ins Wohnzimmer zu gelangen, mussten wir anschließend über unsere Wägen klettern, was bestimmt ein lustiges Bild abgegeben hat.

Die unterschiedlichen Vorstellungen von Ästhetik

Gemeinsam kochten wir ein sehr leckeres, veganes Nudelgericht und setzen uns noch einige Zeit im Wohnzimmer zusammen. Unser Gespräch fiel schließlich auf das Thema Piercings und Tattoos, wobei uns Mini von einem Freund erzählte, der sich die Augen hatte grün tätowieren und den Bauchnabel und die Brustwarzen entfernen lassen. Wieder einmal waren wir beeindruckt davon, wie viele unterschiedliche Vorstellungen von Ästhetik es gibt.

Der Domplatz von Speyer

Der Domplatz von Speyer

Man trifft sich immer zweimal..

Gegen 19:00 brachen wir dann zu unserer letzten Station des Tages nach der Betonwüste auf. Gerhard, der Pilger den wir in Rothenburg ob der Tauber getroffen hatten, hatte uns eingeladen, unsere Nacht in Speyer bei ihm zu verweilen. Anhand einer Google-Maps-Beschreibung, bahnten wir uns nun unseren Weg durch das abendliche Speyer. Dabei stellten wir fest, dass es gewisse Uneinigkeiten zwischen Google und den Einheimischen gibt, was ihre Meinung vom Aufbau der Stadt betrifft. Zunächst vertrauten wir noch auf unsere Notizen, später dann auf die Passanten. Die Entscheidung war offensichtlich nicht verkehrt, denn mit ihrer Hilfe standen wir rund dreißig Minuten später vor dem Haus von Gerhard. Als wir uns gerade nach der richtigen Hausnummer umschauten, hielt ein Auto neben uns und hupte.

 

„Habt ihr es noch immer nicht gefunden?“ fragte eine vertraute Stimme. Es war Mini. Sie hatte uns bereits zuvor erzählt, dass sie sich an diesem Abend noch mit einer Freundin treffen wollte. Doch dass diese Freundin in der selben Straße wohnte wie unser Pilgerfreund, hatten wir alle drei nicht gewusst. Es heißt ja, man trifft sich immer zweimal. In diesem Fall, traf das Sprichwort schneller zu, als wir es uns vorstellen konnten.

gruppenfoto

Gruppenfoto mit Mini.

 

Die leckersten sauren Gurken die wir je gegessen hatten!

Gerhard empfing uns freudig nach der Betonwüste und auch sein Freund und Pilgergefährte, den wir ebenfalls in Rothenburg kennengelernt hatten, war dabei. Da unser letztes Abendessen schon wieder eine Weile her war, gab es noch eine kleine gemeinsame Brotzeit, mit einer besonderen Überraschung. Sie hatten unseren Blog regelmäßig verfolgt und gelesen, wie glücklich Heiko über die sauren Gurken gewesen war. Daher hatten sie extra für uns ein riesiges Glas saure Gurken aus eigener Ernte bereitgestellt. Wir haben schon einige saure Gurken in unserem Leben gegessen, aber dies waren mit Abstand die leckersten!

Gerhard erzählte uns, dass er seit einigen Jahren für die Tafel in Speyer arbeitete. Eine seiner Aufgaben war es, die Lidl-Märkte anzufahren und die Lebensmittel abzuholen, die nicht mehr verkauft wurden. Was er dabei mitbekam übertraf selbst unsere gewagtesten Hochrechnungen. Dass abgelaufene Lebensmittel zu Tonnen vernichtet werden, war uns ja bereits bekannt. Doch dass die Supermärkte ihre Kühltruhen bei jeder neuen Großlieferung komplett leeren, war uns nicht bewusst gewesen. Vor Weihnachten beispielsweise wurden palettenweise Geflügelprodukte an die Tafeln verschenkt, die noch Monate lang haltbar waren. Einfach nur um Platz für die Weihnachtslieferung zu schaffen.  Die Lebensmittelgeschenke waren bereits nur ein Bruchteil von dem, was wirklich weggeschmissen wurde und reichten aus, um alle Tafeln in der Umgebung zu versorgen. Danach mussten auch die Tafeln noch einen Großteil entsorgen, weil sie es einfach nicht unter die Leute bringen konnten. Noch tragischer ist das gleiche Spiel bei Produkten wie Spargel oder Kirschen, die im Winter aus Chile oder Kenia importiert werden, nur um dann bei uns auf dem Müll zu landen.

Spruch des Tages: Die wahre Lebensweisheit besteht darin, im Alltäglichen das Wunderbare zu sehen. (Pearl S. Buck)

Tagesetappe: 25 km

Gesamtstrecke: 358,37 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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