Tag 696: Das Stundenhotel

von Heiko Gärtner
01.12.2015 16:37 Uhr

Durch den Terror, den Heikos Magen-Darm-Trakt veranstaltete, wurden wir etwas vorsichtiger, was das Trinkwasser anbelangte. Die Einheimischen mochten das Wasser aus den Leitungen ja trinken, doch für uns war es vielleicht nicht so hundert prozentig geeignet. Immerhin kam es aus Wasserspeichern, die ebenso mit Müll umgeben waren, wie alles andere auch. Doch der Versuch, das Leitungswasser zu umgehen, stellte mich vor eine neue Herausforderung, die auf den ersten Blick vielleicht gar nicht so besonders klingt, die aber doch größer wurde, als ich dachte. Ich musste Läden finden, in denen man Flaschenwasser bekam. Ideal war es natürlich, es geschenkt zu bekommen, doch da es im Umkreis von fünf Kilometern in der Regel gerade einmal einen einzigen kleinen Verkaufsstand gab, der überhaupt Wasser im Angebot hatte, konnte ich das Risiko abgelehnt zu werden kaum eingehen. Noch wenige Tage zuvor hätte ich jeden ausgelacht, wenn er mir gesagt hätte, dass Wasser einmal deutlich schwieriger zu bekommen sei, als Essen und dass wir dafür mehr Geld ausgeben werden, als wird insgesamt im Balkan für unsere Nahrung gebraucht hatten.

Wie sich herausstellte war das Wasser aber nicht unser einziges Problem. Heiko war noch immer schlecht und die permanente Hitze, sowie die kurzen, unruhigen Nächte machten wenig Hoffnung darauf, dass er sich richtig regenerieren würde, wenn wir einfach so weiter machten. Irgendwie mussten wir es schaffen, einmal einen Ruhetag einzulegen, der wirklich Entspannung brachte und nicht nur ein Ausharren in Hitze und Müllgestank. Wir brauchten ein Hotel oder etwas vergleichbares um wieder einmal zu uns zu kommen, um uns duschen, waschen und ausruhen zu können und um wieder einmal in einem richtigen Bett zu schlafen. Die Frage war nur: Wo konnten wir so einen Ort finden?

Die Erfahrung der letzten Tage hatte gezeigt, dass wenn es überhaupt eine Chance auf einen Indoorschlafplatz gab, wir diese an einer der Hauptstraßen finden würden. Etwa fünf Kilometer von unserem Standort entfernt mussten wir ohnehin eine überqueren, also beschlossen wir, dort unser Glück zu versuchen.

Wir hatten sogar noch etwas mehr Glück, als wir zuvor erwartet hätten. Denn das erste Hotel auf unserem Weg lag sogar bereits kurz vor der Hauptstraße und es war so weit davon entfernt dass man den Verkehrslärm hier noch nicht hörte.

Leider war der Chef des Hotels nicht anwesend, weshalb man uns keinen Schlafplatz gegen eine Werbepartnerschaft anbieten konnte. Doch das Gespräch mit dem Hotelier war trotzdem sehr interessant und aufschlussreich. Denn wir befanden uns nicht einfach bei einem gewöhnlichen Hotel, in das man zum Urlaubmachen fuhr. Wir befanden uns in einem Etablissement, das aus einem ganz bestimmten Grund gestaffelte Preise für unterschiedliche Aufenthaltszeiten hatte. Man konnte ein Zimmer für ein paar Euro für eine einzige Stunde mieten, für etwas mehr Geld für drei Stunden, für Fünf Stunden für eine ganze Nacht oder auch für volle vierundzwanzig Stunden. Je nachdem, wie durchhaltevermögend man gerade war und wie viel Zeit und Lust man mitbrachte.

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In klaren Worten: Wir waren hier in einem Stundenhotel gelandet, das verliebten Paaren die Möglichkeit bot, sich abseits ihrer Großfamilien zu treffen, um einen Moment wirklich ungestört zu sein. Dies erklärte dann auch, wie es zu der enormen Kinderflut kommen konnte, die uns bereits zuvor aufgefallen war.

Mit einer Werbepartnerschaft hätten wir hier also ohnehin schlechte Karten gehabt, denn die Hotelbetreiber waren nicht im Geringsten auf ausländische Gäste angewiesen. Dennoch konnten wir den Herren vom Empfang zu einem Deal überreden, durch den wir ein Zimmer den ganzen Tag nutzen durften, aber nur den Preis für 12 Stunden zahlen mussten.

Nachdem das geschäftliche Geregelt war, führte uns der Mann zu unserer Suite. Das Hotel bestand nicht aus einem einzelnen Gebäude sondern aus lauter kleinen Bungalows, die in einem kleinen Park nebeneinander angeordnet waren. Um sie betreten zu können gab es keine Türen, sondern Garagentore, hinter denen sich zunächst eine Garage und dann der Eingang zum Zimmer befanden. Diskretion wurde hier also wirklich groß geschrieben. Man kam an, fuhr mit seinem Auto direkt in die Garage und verschwand dann in seinem Zimmer. Auf diese Weise konnte man sich weder durch ein parkendes Auto verraten, das vielleicht von einem Passanten gesehen wurde, noch musste man zu erkennen geben, mit wem man das Hotel betrat. Für uns war es natürlich auch von Vorteil, denn wir konnten unsere Wagen ganz bequem in der Garage abstellen und hatten gleich alle sicher verstaut.

Das Zimmer selbst bestand aus einem kleinen Vorraum, einem Bad und einem Schlafzimmer mit einem riesigen Bett darin. Der ganze Raum wurde nur durch eine Art Sternenhimmel aus LEDs beleuchtet und war daher fast vollkommen dunkel. Das war auch gut so, denn so konnte man als wildes Liebespaar einfach ins Bett stürmen und musste sich keine Gedanken über die Schimmelflecken, den abgeblätterten Putz und die vielen anderen Blessuren machen, die das Zimmer zierten. Wichtig dabei war nur, dass man so sehr in Leidenschaft aufging, dass man außer der eigenen Lust und dem Körper des anderen überhaupt nichts mehr spürte. Denn sonst wurde man unweigerlich von dem Mückenschwarm abgelenkt, der bereits in der Dunkelheit auf einen lauerte.

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Heiko und ich waren jedoch eher untypische Gäste für dieses Etablissement und betrachteten uns den Raum in Ruhe. Dabei fielen uns nicht nur die kleineren und größeren Macken sondern auch die ersten Mücken auf. Sofort holten wir eine Taschenlampe und eine zusammengerollte Zeitung und machten uns auf die Jagd. Allein im Badezimmer erschlugen wir mindestens vierhundert kleine Biester und fast noch einmal genauso viele im Schlafzimmer. Wenn man hier wirklich als Paar hereingestürmt kam und sich sofort übereinander hermachte, musste man am Ende vollkommen blutleer sein. Klar kamen die meisten hier her, um einen Stich zu landen oder zu ergattern, aber so war das sicher nicht gemeint.

Nachdem die Mückenplage beseitigt war, konnten wir uns an die eigentliche Arbeit machen. Heiko legte sich erst einmal hin, denn er musste sich ja schließlich auskurieren. Ich kümmerte mich in der Zwischenzeit um unsere Wäsche. Als ich damit fertig war, waren meine Hände aufgequollen wie bei einer Wasserleiche. Literweise war eine dunkelbraune bis schwarze Pampe aus unserer Kleidung in den Abfluss geflossen und ich hatte fast eine ganze Seife verbraucht. Jetzt benötigte ich nur noch einen Platz, um die nassen Sachen zum Trocknen aufzuhängen. In unserem Zimmer war es zu kühl, also nahm ich alles mit nach draußen und suchte dort nach einem geeigneten Platz.

Dummerweise dachte ich in diesem Moment nur über die Wäsche nach, nicht aber darüber, wo ich mich gerade befand. So lief ich ein wenig in unserem Hotelpark herum und fand dabei zwar keine Wäscheleine, dafür aber einige offene Fenster hinter denen es ganz ordentlich zur Sache ging. Vor dem ersten hingen Gardienen, sodass ich nur einige lustvolle Laute vernahm, aber nichts sehen konnte. Schnell huschte ich davon und landete dabei direkt vor dem nächsten Fenster. Dieses Mal waren die Vorhänge zurückgezogen und ich starrte mitten in das Gesicht einer dicken Frau, die von meiner Anwesenheit ebenso überfordert war, wie ich von ihrer. Glücklicherweise trug ich einen riesigen Berg an nassen Kleidern auf den Armen, hinter denen ich mich verstecken konnte. Sie hingegen trug überhaupt keine Kleider und war eigentlich auch nicht in der Stimmung, sich großartig zu verstecken. Ehe der Mann, der unter der korpulenten Dame lag auch noch Wind von meiner Anwesenheit bekam, machte ich mich aus dem Staub und zog mich wieder in den ungefährlichen Teil der Hotelanlage zurück. Eine Frage pochte mir dabei jedoch durch den Kopf, die einfach nicht verschwinden wollte: „Wie konnte diese Paar dort bei offenem Fenster und ohne Vorhänge vögeln, wenn es hier so viele Mücken gab?

Zu meinem Glück hatte das Hotel einen relativ hohen Außenzaun, der eine ganz hervorragende Wäscheleine abgab. Da ich nicht riskieren wollte, noch einmal in irgendein Rückfenster zu geraten, hielt ich mich dabei an den Eingang und verzierte den Zaun direkt neben der Rezeption.

Der komplette restliche Tag ging dann für die übrigen Nachhohlarbeiten drauf. Insgesamt musste ich 18 Berichte einstellen, von denen ich fast alle zuvor noch einmal korrekturlesen wollte. Dann suchte ich die weitere Strecke für unsere Wanderung heraus und schrieb dutzende von Mails an Sponsoren, Verlage und alle, die in letzter Zeit sonst noch von uns vernachlässigt wurden. Heiko arbeitete aus dem Bett heraus und kümmerte sich derweil um die Fotos und weitere Dinge, die liegen geblieben waren. Zwischendurch gönnte ich mir einmal eine Pause, um nach Essen zu fragen und um nach der Wäsche zu sehen. So vergingen die Stunden und der Tag wurde zur Nacht, ohne dass ich es recht bemerkte. Gegen 23:00 legte sich Heiko zur Ruhe. Er war vollkommen erschöpft und sein Bauch spielte noch immer verrückt, wenngleich er sich schon ein bisschen erholt hatte. Um vor dem Einschlafen noch einmal wirklich runter zu kommen und sich entspannen zu können, ließ er sich von seinem Computer eine geführte Meditation zum Stressabbau und zur Blockadenlösung vorspielen. Nach etwa der Hälfte der Zeit hörte ich ihn zunächst leise, dann immer lauter schnarchen. Ich selbst war in meine Arbeit vertieft und bekam die Meditation nur leise im Hintergrund mit.

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„HERZLICH WILLKOMMEN ZU MEINEM VORTRAG!“ schrie plötzlich eine Stimme auf mich ein, so dass ich zusammenzuckte und fast vom Stuhl gefallen wäre. Was war den jetzt los?

Ich brauchte eine Sekunde, bis ich begriff, dass die Stimme nicht von draußen, sondern von Heikos Computer kam und zur nächsten Audiodatei gehörte. Die Meditation war vorbei und Heiko hatte offenbar nicht darauf geachtet, dass der Player danach automatisch stoppte. Schnell sprang ich auf und klappte den Computer zu, damit die Stimme wieder verstummte. Heiko sollte ja schlafen und nicht gleich wieder aufgeweckt werden.

Einige Minuten herrschte Stille, abgesehen von Heikos schnarchen. Dann setzten die Schnarcher zwei mal auf, Heiko zuckte zusammen und war plötzlich wieder wach: „Hey!“ rief er empört, „wieso hast du denn einfach meine Medi ausgemacht?“

Ich grinste nur und ehe ich etwas sagen konnte, war er bereits wieder eingeschlafen.

 

 

Spruch des Tages: Das Hotel für gewisse Stunden

 

Höhenmeter: 380 m

Tagesetappe: 16 km

Gesamtstrecke: 12.426,27 km

Wetter: bewölkt und kühl

Etappenziel: Gemeindehaus der Kirche, 87060 Cropalati, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Meine Nacht wurde wieder einmal besonders unruhig. Ich konnte zunächst stundenlang nicht einschlafen und wälzte mich anschließend im Schlaf hin und her. Auch meine Träume drehten sich um Unruhe und um schwierige Situationen. Ich träumte unter anderem, dass mein Wagen auseinander fiel, mir die Reifen abbrachen und ich irgendwie versuchte, alles zu kitten und trotzdem weiter zu kommen, auch wenn ich riesige Angst davon hatte, das alles schief gehen würde. Irgendetwas machte mich nervös, hektisch und unausgeglichen. Die Frage war nur: Was?

Hatte es vielleicht damit zu tun, dass sich nun bereits die Berichte von fast einem Monat angestaut hatten, die ich alle irgendwie nachholen wollte, damit jedoch kaum voran kam? Ich spürte jedenfalls einen permanenten Zeitdruck in mir und hatte das Gefühl, immer mehr schaffen zu wollen, als ich schaffen konnte. Allein zum Einstellen würde ich nun schon einen ganzen Tag brauchen und bald musste ich auch schon wieder eine neue Strecke heraussuchen. Sobald ich morgens aufstand hoffte ich darauf, dass wir möglichst bald ankamen, damit ich so viel und so effektiv schreiben konnte, wie nur möglich. Ich war also wieder einmal in meiner alten Stressschleife angekommen und lebte nur noch in der Zukunft. Das Wandern rückte für mich in den Hintergrund und ich konnte mich kaum noch auf spontane Gegebenheiten einlassen. Alles wollte ich so schnell wie möglich abhandeln. Angefangen beim vorankommen über das Zeltaufbauen bis hin zum Fragen nach Essen und Wasser. Doch das klappte natürlich nicht, denn je größer meine Hektik wurde, desto mehr sorgte ich unbewusst dafür, dass mich alles ausbremste. So war es dann wohl auch zum Malheur mit meinem vollgelaufenen Wagen vor drei Tagen gekommen und so hatte ich sicher auch die Sache mit dem Hund und dem gefressenen Essen angezogen. Je mehr ich in Hektik verfiel, desto mehr zeigte mir das Universum, dass ich dadurch keinen Schritt schneller wurde. Ich konnte mich also auch einfach entspannen. Doch obwohl ich das wusste, wollte es mir nicht gelingen. Stattdessen stiegen nur die Angst davor, dass mir noch mehr dazwischenkam und die Sorge, niemals wieder auf einen Nulllevel in Sachen Tagesberichte zu kommen.

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Auch heute durften wir wieder durch eine weite, schöne Landschaft laufen, die leider komplett mit Müll übersäht war. Der Hund, den wir gestern kennengelernt hatten, war nicht der einzige, der von diesem Müll lebte. Er hatte viele Kollegen, die es ihm gleich machten und teilweise schienen sie sich zu wahren Müllhalden-Gangs zusammengerottet zu haben.

Auf unserem Weg durch die kleinen Dörfer fiel uns auf, dass es in diesem Land unverhältnismäßig viele Kinder geben musste. Es gab zum Teil nur wenig Häuser, aber selbst die kleinsten Dörfer hatten riesige Schulen, die immer voll mit Kindern waren. Gleichzeitig spielten aber auch immer Kinder auf den Straßen. Zunächst konnten wir uns das nicht erklären, doch dann kamen wir zu dem Schluss, dass es hier Schichtunterricht geben musste. Weil die Schulgebäude nicht ausreichten, hatten immer einige Kinder vormittags und andere am Nachmittag Unterricht. Wenn man beides zusammen nahm, dann kam man auch eine Menge an Kindern, die wir uns kaum mehr vorstellen konnten.

Je weiter wir in Richtung Osten und Süden kamen, desto mehr wandelte sich das Bild von einer ländlichen Agrarregion zu einer Ansammlung von Schwerindustrie. Das Land wurde immer wieder von einigen großen Straßen durchzogen, an denen sich alles angesammelt hatte, was zu einer modernen Zivilisation dazu gehörte. Dazwischen gab es hingegen nahezu nichts, das einer Infrastruktur gleichkam. Dummerweise führte diese Art der Verteilung dazu, dass wir fast nichts von dem nutzen konnten, was uns das Land bot, denn immer wenn wir an einen Laden, ein Restaurant oder eine Imbissbude kamen, war es so ungemütlich, dass wir nicht stehenbleiben wollten. Die einzige Ausnahme bildete heute ein italienisches Restaurant, in dem wir zwei Burger geschenkt bekamen. Der Besitzer erzählte uns, dass er eine weile in Italien gelebt hatte. Langsam zeichnete sich da eine gewisse Regelmäßigkeit ab. Fast jeder hier hatte eine gewisse Zeit seines Lebens im Ausland verbracht und diese Zeit hatte sie sowohl von der Mentalität als auch von ihrem Berufsfeld her stark geprägt. Wenn man ein italienisches Restaurant fand, dann gehörte es eigentlich immer jemandem, der in Italien gelebt hatte. Die Besitzer von Schlossereien, Handwerksbetrieben oder Autowerkstätten hatten hingegen meist eine Weile in Deutschland, Österreich oder der Schweiz gelebt.

Kurz vor einem kleinen Dorf errichteten wir unser Zelt dieses Mal an einem Waldrand. Einen Ort zu finden, an dem es vollkommen still war, war unmöglich, denn in dem flachen Land hörte man jede Straße viele Kilometer weit. Aber es war schon mal ein Platz, an dem es deutlich ruhiger war, als an den beiden vorherigen.

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Meine Tour durch den Ort bestätigte dann noch einmal mein Gefühl vom morgen. Am ersten Haus wurde ich komplett abgewiesen, was hier zulande selten vorkam. Die zweite Familie nahm mich hingegen etwas zu freundlich auf. Ein alter Mann mit nur einem Auge lud mich ein, auf der Terrasse mit ihm Platz zu nehmen, während seine Tochter und seine Frau mir etwas zu Essen zubereiten wollten. So jedenfalls verstand ich es, doch aus dem kurzen gemeinsamen Teetrinken wurde dann ein beisammensitzen von über einer Stunde. Die Kinder kamen und spielten auf der Terrasse, der Schwiegersohn unterhielt sich mit mir und alle setzten alles daran, dass ich mich wohl fühlte. Sogar eine Nachbarin kam vorbei, die ein bisschen Deutsch sprach und daher einige Zeilen übersetzen konnte. Alles war so nett, dass ich es nicht übers Herz brachte, die Sache abzukürzen und wieder zu gehen. Doch innerlich saß ich wie auf heißen Kohlen und diese machten die Hummeln langsam unruhig und nervös, die durch meinen Bauch schwirrten. Immer wieder schaute ich auf die Uhr und versuchte dann, mich irgendwie verständlich zu machen um zu sagen, dass ich nicht so viel Zeit hatte. Doch es war vergebens. Schließlich sah ich es ein und gab meinen inneren und ohnehin vollkommen nutzlosen Widerstand auf. Ich war nicht ohne Grund in diese Familie geraten. Am Morgen hatte ich mich noch gefragt, warum ich so unruhig und nervös war. Jetzt wusste ich es ohne jeden Zweifel. Und wenn ich es selbst nicht schaffte, gelassen u werden, dann musste mich das Leben eben dazu zwingen. Als ich nach rund eineinhalb Stunden wieder ging, ging ich entspannt und langsam. Es war nun eh schon egal, ob ich mich noch beeilte. Viel schaffte ich an diesem Tag nicht mehr, aber das war vielleicht auch gar nicht nötig.

Auch in Heiko wütete etwas, wenngleich es sich auf eine vollkommen andere Art und Weise zeigte, wie bei mir. Sein Magen spielte verrückt, ihm wurde schlecht und er bekam heftigen Durchfall. Lag es am Wasser? Oder vielleicht an dem Burger vom Italiener, der nicht ganz so kräftig durchgebraten war, wie es vielleicht gut für ihn gewesen wäre? Oder hatte es mit der unerbittlichen Hitze zu tun, die nun jeden Tag auf uns hereinprasselte?

Um halb sieben in der Früh war Heiko bereits so schlecht, dass er nicht mehr liegen konnte. Da ich auch bereits wach war und mich nur noch dösenderweise hin und her wälzte, beschlossen wir aufzubrechen um so zumindest der heftigen Mittagssonne aus dem Weg zu gehen.

Es war eine ganze Weile her, seit wir das letzte Mal zu so früher Stunde unterwegs gewesen waren. Die Morgensonne strich sanft über die Felder und ließ einen leichten Dunst aufsteigen, der sich weiter hinten mit dem Smog und der Luftverschmutzung der großen Industriestadt vermischte. Es war gleichzeitig ein idyllisches und vollkommen abartiges Bild, das sich da vor uns abzeichnete. Mit Worten ist es kaum zu beschreiben.

So früh wie wir starteten, kamen wir auch an unserem Ziel an. In der Hoffnung, dass die Sonne so weiterwandern würde, wie wir es berechnet hatten, bauten wir unser Zelt hinter ein paar Büschen auf. Leider lag unsere Berechnung ziemlich daneben und so verfehlte uns der Schatten der Büsche fast den ganzen Tag lang. Für Heikos Zustand war das nicht gerade förderlich, jedenfalls fühlte es sich nicht so an, denn zu seinem permanenten Schlechtigkeitsgefühl kamen nun auch noch Schweißattacken hinzu. Er versuchte dennoch, es sich so kühl und angenehm wie möglich zu machen und schaffte es sogar, einige Stunden Schlaf zu finden. Ich selbst suchte in der Zwischenzeit nach einem Platz zum Arbeiten und traf dabei einen netten jungen Mann, der recht gut englisch sprach und mich zu sich nach hause einlud, wo ich sowohl Strom als auch Internet bekam um zumindest schon einmal drei Tagesberichte einstellen zu können.

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Eigentlich hatten wir gehofft, eine Tropfsteinhöhle besuchen zu können, die hier ganz in der Nähe sein sollte und die genauso vielversprechend klang, wie die, die wir damals in Bosnien besucht hatten. Doch so wie es Heiko nun ging, erschien uns diese Idee bei weitem nicht mehr so sinnvoll zu sein. Vielleicht war es morgen ja wieder etwas besser!

Aber nein! Die Nacht wurde sogar noch schlimmer als die letzte. Heiko musste immer wieder aus dem Zelt sprinten, weil sein Durchfall so stark geworden war, dass er ihn fast nicht mehr aufhalten konnte. So heiß, wie der Tag gewesen war, so kalt wurde nun die Nacht und so kam er jedes Mal vollkommen ausgekühlt zurück. Wenn er dann warm genug war, um wieder einschlafen zu können, musste er fast schon wieder für den nächsten Schub nach draußen.

Auch ich konnte kaum schlafen und wurde von einer neuen, noch stärkeren Unruheattacke geplagt. Was war nur los, dass ich mich selbst so kirre machte?

Wieder beendeten wir die Nacht in aller Herrgottsfrühe und wanderten in der Kühle des Morgens über die Felder. Weit kamen wir nicht, denn Heiko war kurz davor, richtig schlapp zu machen. Nach ein paar Kilometern stellten wir unser Zelt zwischen zwei Maisfeldern auf und richteten es uns halbwegs gemütlich ein. Immerhin hatte ich nun genügend Zeit, um mit meinen Berichten weiterzukommen, weshalb ja zumindest die Unruhe von mir langsam einmal abfallen müsste. Doch so richtig wollte es auch heute noch nicht klappen.

 

 

Spruch des Tages: Auch Weltreisende fühlen sich einmal unwohl

 

Höhenmeter: 60 m

Tagesetappe: 21 km

Gesamtstrecke: 12.410,27 km

Wetter: regen ohne Ende

Etappenziel: Zeltplatz in einem Olivenhain, kurz hinter 87067 Rossano Stazione, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Nässe wurde langsam zur Normalität. In den Nächten kühlte es nun regelmäßig so sehr ab, dass unser Zelt von innen und außen voller Kondenswasser stand. Auch unsere Kleidung und sogar die Computerbeutel waren klamm. Tagsüber konnten wir vieles wieder trocknen und auch die Tabletten und die Kochplatte hatten sich von meiner unfreiwilligen Material-Badeaktion fast wieder erholt. Und doch zerrte das Gefühl an uns, nie wieder vollkommen trocken zu werden. Auch Sauberkeit wurde langsam ein Zustand, den wir nur noch aus Gerüchten und Sagen kannten. Die letzte Dusche hatten wir auf dem Pferdehof in Montenegro abbekommen und dies war nun schon fast einen Monat her. Unsere Kleidung konnten wir zwar noch ein paar Mal unter einer Quelle oder einem Wasserhahn waschen, aber auch das war jedes Mal recht dürftig gewesen. Vor allem führte es uns wieder zum ersten Problem zurück, nämlich zu dem, das ohnehin schon alles nass war.

Mit ruhigen Nebenstraßen war es heute erst einmal vorbei. Wir mussten an der Hauptstraße entlangwandern, bis wir auf die Autobahn kamen und uns dann noch einmal dreieinhalb Kilometer auf dem Seitenstreifen besagter Autobahn halten. Erst dann konnten wir wieder nach rechts in die Walachei ausweichen. Ein großartiger Fortschritt wurde das jedoch zunächst auch nicht, denn nun wanderten wir wirklich durch eine Müllhalde. Zuvor hatten wir zwar geglaubt, dass wir in Müllhalden gekommen waren, doch dies war jedes Mal nur eine normale Landschaft mit etwas Müll gewesen. Dieses Mal jedoch wanderten wir mitten zwischen Müllbergen hindurch und das auf einer Länge von rund vier Kilometern. Dann, fast übergangslos, kamen wir wieder in ein kleines Dorf. Einige Kinder spielten in den Straßen. Eine von ihnen hatte sich eine Art Skatebord aus einem einzelnen Rollschuh gebaut, auf dem er nun sitzenderweise den Berghang hinabfuhr. Wie er seine Arme, sein Beine und seinen Hintern so koordinierte, dass er sich auf dem winzigen Schuh halten konnte, blieb uns ein Rätsel. Ein zweiter Junge versuchte das gleiche mit einem alten Rollkoffer, hatte damit aber weit weniger Erfolg und beschloss daher, sein Spielzeug einfach nur neben sich herzuziehen. Der Spaßfaktor mochte dabei eindeutig auf Seiten des Rollschuhjungen liegen, doch vom Lärmpegel, den sie durch ihr Spiel verursachten, unterschieden sie sich wenig. Als sie uns sahen kamen sie sofort auf uns zugelaufen und stellten uns alle möglichen Fragen auf albanisch, von denen wir nichts verstanden. Das wir ihnen mitteilten, dass wir nichts verstanden änderte an ihrer Begeisterung wenig. Stattdessen wollten sie uns nun noch einmal ganz speziell ihre Spiel- und Fahrkünste präsentieren und rollten, knatterten und tollten um uns herum, so gut sie nur konnten. Angenehm war das ganze nicht, aber es war lieb gemeint. Sicher hätten wir es unter anderen Umständen auch etwas besser würdigen können, doch gerade waren wir vom Autolärm und dem ständigen Müllgestank ohnehin schon leicht gereizt, so dass wir einfach nur froh waren, als wir die Kinder hinter uns lassen konnten.

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Je mehr wir von den Einheimischen mitbekamen, desto schleierhafter wurde uns das Verhältnis, das hier zwischen Männern und Frauen herrschte. Während die Männer einander und auch uns fast immer kumpelhaft grüßten, grüßten die Frauen überhaupt nicht. Sie reagierten auch auf keinen Gruß, sondern schauten nur so schnell wie möglich weg und versuchten jeden Blickkontakt zu vermeiden. Ein bisschen so, wie Paulina es eigentlich hatte lernen wollen, nachdem sie in Serbien und Montenegro so schlechte Erfahrungen mit den Männern gemacht hatte. Die Frauen untereinander traten schon in einen gewissen Kontakt, doch außerhalb der Häuser schienen Männer und Frauen wie in zwei unterschiedlichen Welten zu leben. Sogar die Jugendlichen, die nach der Schule an einer Bushaltestelle warteten, standen dort streng nach Geschlechtern sortiert mit einem Abstand von gut drei Metern zwischen der männlichen und der weiblichen Gruppe.

Landschaftlich war der Kosovo ein bisschen wie ein Zebrastreifen aufgebaut. Es gab immer wieder eine langgezogene Hügelkette und dazwischen ein langgezogenes, flaches Tal. In den Tälern verliefen, meist mittig die größeren Straßen und Ortschaften, während sich an den Bergketten die kleineren Dörfer verteilten. Für heute hatten wir uns vorgenommen, das vor uns liegende Tal noch bis zur gegenüberliegenden Seite zu durchqueren, um uns dann dort etwas abseits wieder einen ruhigen Schlafplatz zu suchen. Denn Ruhe hatten wir heute noch fast gar nicht abgekommen und die vergangene Nacht war auch nicht gerade voll davon gewesen. Doch die Welt hatte mal wieder andere Pläne mit uns.

Die Straße am anderen Ende des Tals war zwar wenig befahren, aber sie war befahren und der aufgeraute Asphalt sorgte dafür, dass man jedes Auto klar und deutlich wahrnahm. Wir versuchten ein bisschen abzugehen um unser Glück in den seichten Hügel neben der Straße zu finden, doch wohin wir auch schauten, alles war so voller Müll, dass man hier unmöglich schlafen konnte. Schließlich gaben wir es auf und kehrten doch wieder zu der Wiese neben der Straße zurück. So schlimm wird es schon nicht werden, dachten wir und behielten damit Recht. Es wurde bedeutend schlimmer! Denn kaum hatten wir unser Zelt aufgebaut, begannen zusätzlich zum Autolärm noch ein paar Hunde zu bellen. Sogar die Natur schien sich gegen uns verschworen zu haben, denn nun kamen auch noch ein schreiender Eichelhäher dazu, der sich alle Mühe gab, seine Stimmbänder zum zerreißen zu bringen. Und kurz darauf begannen dann auch noch die Frösche im nahegelegenen Teich mit ihrem Balzgesang. Es war ein Orchester des Grauens.

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Einen Moment lang waren wir schon wieder kurz davor, alles wieder abzubauen und weiterzuwandern, doch die nahende Dunkelheit und die Aussicht darauf, alles noch einmal machen zu müssen, hielt uns letztlich dann doch davon ab. Und kaum hatten wir unseren Entschluss gefasst, beruhigten sich zumindest die Frösche und die Vögel wieder.

Für die Nahrungssuche wanderte ich in einen Ort auf der gegenüberliegenden Seite des Berges. Essen aufzutreiben war hier noch einmal eine ganz eigene Sache. Es gab nun so gut wie gar keine Lädchen mehr, in denen man fragen konnte, so dass ich mich vollkommen auf Privatpersonen spezialisierte. Diese waren in aller Regel sehr freundlich und hilfsbereit, doch gehörte in den meisten Fällen auch eine Einladung auf einen Kaffee oder zumindest einen Saft dazu. Auch dieses war sehr nett, doch es führte dazu, dass jeder Hausbesuch eine recht langwierige Angelegenheit wurde. Man konnte nicht einfach kurz klingeln, nach ein paar Tomaten fragen und wieder gehen. Man musste für eine Weile bleiben und die Gastfreundschaft, die einem angeboten wurde, auch annehmen. Das Problem dabei war nur, dass man immer erst am Ende erfuhr, was man letztlich bekam. Es konnte also sein, dass man eine halbe Stunde mit reden verbrachte und dafür lediglich eine einzige Tomate erhielt. Genauso kam es aber vor, dass man von einer Familie gleich das Essen für die nächsten zwei Tage bekam. Vorausgesetzt natürlich, wir hätten es transportieren können.

An diesem Tag erwischte ich drei Familien, die mir jeweils sehr kleine Portionen an Essen mitgaben, die sie aber zuvor mühevoll zubereitet hatten. Meine Sprachkenntnisse reichten leider nicht aus, um sie davon abzuhalten und sie zu bitten, sich keine Mühe zu machen, sondern einfach eine Tüte mit rohem Gemüse aus dem Garten zusammenzustellen.

Am Ende hatten wir daher gerade so viel, dass es wahrscheinlich reichte, aber vielleicht auch ein bisschen zu wenig war. Ein weiteres Haus hätte mir aber nun so viel Zeit gekostet, dass ich sonst überhaupt nichts mehr gemacht hätte. Also kehrte ich zu unserem Zelt zurück und stellte die Sachen ab. Es waren einige Früchte dabei, sowie etwas Gemüse, ein Laib Brot und einige frisch gebratene Cevapcici. Es war nicht besonders gut durchdacht, aber um mir einen Überblick zu verschaffen breitete ich alles vor unserem Zelt aus. Dann verließ ich den Platz kurz, um hinter ein paar Büschen auf´s Klo zu gehen.

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Nun geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Erstens kam ein Kuh-Hirte mit seiner Herde den Berg herunter und alle Kühe bimmelten mit ihren Glocken um uns herum, wobei sich einige von ihnen unangenehm nahe an meinen Toilettenplatz begaben. Zweitens kam ein Autofahrer den Weg von der Hauptstraße zu uns heraufgefahren. Er besaß einen Pickup mit einer Ladefläche voller Müll, den er nun direkt vor unser Zelt kippte. Und drittens schlich sich der Hund wieder an, der zuvor schon einige Male um unser Zelt schlawinert ist. Er entdeckte die Cavapcici und das Brot und schlang alles in sich hinein, so schnell er eben konnte. Heiko lag zwar nur wenige Zentimeter daneben im Zelt, bekam es jedoch nicht mit, weil der Müllmann und die Bimmelkühe zu viel Lärm machten. Und ich war bis vollends damit beschäftigt, mein Geschäft zu verrichten, bevor mich die Kühe erreichten und von meinem Donnerbalken schubsten.

Als Heiko den Hund schließlich doch bemerkte, war es bereits zu spät. Die Cevapcici waren bis auf den letzten Krümel verschwunden und von unserem Brot war nur noch ein angesabberter Rest übrig geblieben.

Dies war der letzte kleine Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Den ganzen Tag über hatten die Ungemütlichkeit, der Lärm und der Gestank unsere Gemüter mit einem explosiven Gas gefüllt und nun hatte der Hund mit seinem Mundraub einen letzten Funken gezündet. Heiko war sauer, weil ich das Essen nicht ins Zelt gelegt hatte, ich war sauer, weil er den Hund nicht rechtzeitig verscheucht hatte. Und jeder waren wir sauer auf den Hund, sowie auf uns selbst, weil wir uns das, was der jeweils andere uns vorwarf selbst ebenfalls vorwarfen. Nach allem, mit dem der Tag an uns gezerrt hatte, hatten wir nun zu allem Überfluss jetzt auch noch die Aussicht auf ein wirklich maues Abendessen. Ich verstaute die Reste im Zelt und wollte die Eingangstür schließen. Doch es ging nicht. Der Reißverschluss klemmte. Das Zelt war zu sehr gespannt und die Tür war zu stramm, so dass man sie nicht schließen Konnte, ohne zu riskieren, dabei den Reißverschluss zu zerstören. Ich versuchte die Schnüre zu lockern und probierte es dann noch einmal. Wieder nichts! Was stimmte denn mit dem verdammten Ding nicht, dass es sich nicht mehr schließen ließ.

„Kruzifix noch eins!“ schnaubte Heiko nun wutentbrannt aus dem Inneren des Zeltes los. „Es kann doch gottverdammt nicht so schwer sein, so einen beschissenen Reißverschluss zuzumachen! Muss ich jetzt wirklich erst aufstehen und hier rauskriechen, damit dieses Zelt zu geht? Das kann doch nicht wahr sein!“

Ehe ich darauf reagieren konnte kam er aus dem Zelt gesprungen und versuchte es selbst. Mit dem gleichen Misserfolg. Nach und nach lockerte er alle Heringe und zog den Gurt, der die Tür im richtigen Abstand hielt etwas fester. Es war nichts, was ich nicht auch vorgehabt hätte, nur war ich für alles etwas zu langsam gewesen. Langsamer jedenfalls als es Heikos Geduldsfaden in diesem Moment aushielt.

Auch in mir tobte es nun wie bei einem Gewittersturm, nur dass ich meine Wut wie immer nicht nach außen schreien konnte. Ich war stocksauer darüber, schon wieder alle Schuld auf mich abgewälzt zu bekommen und als Ventil herhalten zu müssen, dafür dass Heiko mit der Gesamtsituation unzufrieden war.

Wir spürten beide, dass es gerade kein guter Zeitpunkt war, um einander auf die Pelle zu rücken und so suchte ich mir einen Baum, der in einiger Entfernung vom Zelt lag und wir machten uns beide wieder daran, zu schreiben.

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Noch immer grummelte und tobte es in mir und mein Magen rumorte wie eine ganze Industriestraße. Ich war nun sauer auf alles, auf mich, auf Heiko, auf die Kühe, den Müll, die Straßen, das ganze Land und ganz besonders auf diesen Scheißköter, der all unsere Mettröllchen gefressen hatte. Heiko ging es ähnlich und auch er brauchte eine Weile, bis sein Ärger wieder verraucht war. Der Tag hatte ihm noch mehr zugesetzt als mir, da er den Lärm ja permanent noch einmal um einiges lauter wahrgenommen hatte. Komplett gereizt hatte er sich dann an seinen Text gemacht, sich aber kaum darauf konzentrieren können. Gerade als er einigermaßen wieder den Faden gefunden hatte, riss ihn die Sache mit der verklemmten Zelttür wieder raus und der ganze Frust des Tages sprengte an die Oberfläche.

Erst als wir uns gemeinsam ans Kochen machten und feststellten, dass wir doch noch immer ausreichend zum essen hatten, normalisierte sich unsere Stimmung wieder. Plötzlich stand der Hund wieder vor uns, der uns das Essen gestohlen und damit den ganzen Ärger ausgelöst hatte.

„Na warte du Drecksau!“ rief Heiko, sprang auf und wollte schon nach einem Stein greifen, um ihn nach dem Hund zu werfen. Dann aber kam der Vierbeiner noch ein Stückchen näher und zeigte sich ganz. Seinen Schwanz hatte er verkrampft zwischen seine Hinterbeine geklemmt. Der Kopf war eingezogen und geduckt und er schaute traurig und verlassen. Sein ganzer Körper war abgemagert, sein Fell glanzlos und jede einzelne seiner Rippen zeichnete sich ab. Traurig und schuldbewusst schaute er uns an.

„Oh, Gott!“ sagte Heiko mitleidig, „du armer Kerl! Verdammt, wenn du so da stehst, kann man dir einfach nicht böse sein!“

Ich nickte und spürte, dass auch meine Wut auf den Essensdieb verraucht war. So gerne wir die Cevapcici auch gegessen hätten, der Hund hatte sie dringender nötig und im Nachhinein gönnten wir sie ihm nun von Herzen.

 

 

Spruch des Tages: Essen ist für alle da

 

Höhenmeter: 160 m

Tagesetappe: 26 km

Gesamtstrecke: 12.389,27 km

Wetter: bewölkt und kühl, zwischenzeitig sonnig, dann heftiger Regen

Etappenziel: Oratorio (Jugendhaus) der Kirche, 87064 Corigliano Scalo, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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