Fürstentum Liechtenstein

von Heiko Gärtner
28.11.2016 01:05 Uhr
17.11.2016 Heute erreichten wir das Fürstentum Liechtenstein. Zu unserem Erstaunen sah es in etwa so aus, wie wir uns eigentlich Andorra vorgestellt hatten. Dafür war Andorra in etwa so gewesen, wie wir es von Liechtenstein erwartet hätten. Als man uns vor knapp drei Jahren von Andorra erzählte, hatten wir das Bild eines saftigen, grünen Tals inmitten der Berge vor Augen. Und genau das ist Liechtenstein. Das Fürstentum hatte ich mir hingegen immer als eine kleine, abgelegene Bergregion vorgestellt, die man zu Fuß kaum erreichen konnte. So haben wir am Ende dann trotzdem beides erlebt, nur eben anders herum.   Gleich nach unserem Aufbruch trafen wir uns an einer Brücke mit Dominik, einem Reporter der Voralberger Nachrichten. Anders als die meisten Reporter, die uns bislang interviewt haben, setzte er sich nicht mit uns in die Redaktion oder auf den Stadtplatz, sondern begleitete uns für eine weite Strecke bei der Wanderung. Es war daher ein vollkommen anderes Interview und hatte viel mehr die Form eines freundschaftlichen Besuchs, als die eines formellen Treffens. Gleichzeitig war Dominik so auch unser Wanderführer, da er sich in dieser Gegend recht gut auskannte. Kurz vor der Liechtensteiner Grenze wurden wir von einer Dame angesprochen, die mit ihrem Hund spazieren ging. Wenige Tage zuvor hatte man hier Schilder aufgestellt, die es Hundeführern verboten, ihre Hunde frei laufen zu lassen. Die Frau hatte sich natürlich nicht daran gehalten und war prompt von einem Polizisten überrascht worden. In der Hoffnung, dass er ihren Fehltritt nicht bemerkte, war sie wie eine Verrückte hinter ihrem Hund hergesprintet und hatte versucht, ihn wieder einzufangen. Unter anderen Umständen wäre dies auch sicher keine dumme Idee gewesen, doch sie hatte erst am Vortag eine schwere Herzbehandlung bekommen und nun war sie so erschöpft und fertig, dass sie mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten. Für einen kurzen Plausch mit uns reichte es aber trotzdem noch. Die Grenze von Österreich nach Liechtenstein war nicht wirklich spürbar. Es gab einen kleinen See, mit einer Fußgängerbrücke darüber und schon waren wir in Land Nummer 29. Hier verabschiedeten wir uns dann von unserem Begleiter, der sich von einem Kollegen abholen ließ. Wir selbst gingen weiter auf die Berge und auf Vaduz zu, den Regierungssitz des Fürstentums. Auffällig waren vor allem die vielen Firmen, die hier ansässig waren. Hilti beispielsweise hatte sogar einen eigenen Bahnhof und auch das Firmengebäude von ThyssenKrupp war nicht zu übersehen. Keine der Firmen war jedoch sonderlich beeindruckend. ThyssenKrupp beispielsweise bestand fast ausschließlich aus einem Parkhaus, während man die Büro- und Firmengebäude kaum erkennen konnte. Dominik hatte uns bereits darauf hingewiesen, dass wir hier sehr viele „Briefkästen“ vorfinden würden. Diese Firmen waren zwar ein bisschen größer, aber im Grunde waren sie nichts anderes. Sie standen hier nicht, weil Liechtenstein so ein günstiger Wirtschaftsstandort war, sondern weil es steuerliche und finanzrechtliche Vergünstigungen gab, wenn man seinen Hauptsitz hier und nicht irgendwo anders hatte. Und dafür brauchte man nun mal nicht viel mehr, als einen Briefkasten und eine offizielle Anschrift.   Kurz vor Vaduz kamen wir an einer italienischen Kirchengemeinde vorbei und erwischten durch einen glücklichen Zufall gerade noch den Pfarrer, der bereits im Gehen war. Er stellte uns einen Seminarraum und eine Küche zur Verfügung und ließ uns dann erst einmal eine Weile allein. Als er später wieder zurück kam, zeigte er uns das Buch eines Liechtensteiner Pfarrers, der auf ganz ähnliche Weise wie wir eine Pilgerreise durch ganz Europa bis nach Israel gemacht hatte. Auch er war im traditionellen Mönchsgewand unterwegs gewesen und hatte in vielen Bereichen ähnliche Erfahrungen gemacht wie wir. Sein Buch ist unheimlich schön aufgemacht und erzählt seine Geschichte sehr anschaulich. Für alle, die unseren Blog oder generell ausgefallene Reiseerfahrungen mögen ist es absolut empfehlenswert. Wenn ihr wollt, könnt ihr hier einmal einen Blick darauf werfen: Tagebuch eines Jerusalem Pilgers Spruch des Tages: So klein und schon ein Fürstentum Höhenmeter: 630 m Tagesetappe: 16 km Gesamtstrecke: 19.298,27 km Wetter: heiter bis wolkig und windstill, Temperaturen um die 15°C Etappenziel: Kloster Einsiedeln, Einsiedeln, Schweiz Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

16.10.2016

Am Abend stießen Heiko und ich erneut auf einige Knackpunkte, die mir gerade im Wege stehen und durch die ich mich immer wieder im Kreis drehe. Solange ich mich zurückerinnern kann, versuche ich nun schon, immer mehr zu mir selbst zu finden und einfach nur vollkommen ich zu sein. Und schon immer hatte ich dabei das Gefühl, dass es in der Mitte eine dicke, schwere Blockade gibt, an der ich einfach nicht vorbei komme. Ich habe immer wieder verschiedene Selbsterfahrungen, Fortbildungen und Schulungen gemacht und hatte jedes mal das Gefühl, schon ein bisschen gelernt zu haben und weitergekommen zu sein, dabei aber immer wieder an die gleiche Blockade zu stoßen. Es war wie bei dem Sinnbild mit dem Esel. Ständig machte ich neue Schritte nach vorne, merkte dabei aber nicht, dass ich an einen Pfahl gebunden war und daher immer nur im Kreis ging. Seit ich Heiko kennengelernt habe, habe ich nun versucht, diese Taktik zu ändern und den Pfahl aus dem Boden zu ziehen.

Das Problem dabei ist nur, dass es natürlich nicht wirklich ein Holzpflock ist, an dem ich angebunden bin, sondern eine innere Blockade, von der ich nicht weiß, woraus sie besteht, was sie ausmacht und wie man sie beseitigt. Stück für Stück habe ich mich nun immer wieder etwas näher an sie herangearbeitet und jede Krise, die seither in meinem Leben stattgefunden hat, hat etwas mehr von dem Pfahl freigelegt. Es ist ein bisschen wie mit einem Blattsalat. Um an den Kern zu kommen, muss man zunächst einmal die äußeren Blätter abreißen und sich dann immer weiter in die Mitte vorarbeiten. Je näher man dem Kern dabei kommt, desto stärker sind die Schichten ineinander verwoben und desto schwerer wird es, sie auszulösen. Und gleichzeitig kann es sein, dass die inneren Blätter deutlich bitterer schmecken, als man es erwartet hatte. Denn hier befinden sich all die Aspekte von einem selbst, die man aus gutem Grund tief in seinem inneren vergraben hat.

Und doch gibt es keinen anderen Weg, den Kern freizulegen und damit auch selbst frei zu werden, als diesen Blick in sein eigenes inneres zu wagen und sich all seinen Schatten und Dämonen zu stellen. Und genau das tue ich nun seit vielen Jahren immer wieder, manchmal voller Freude und Enthusiasmus, manchmal voller Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Oft sogar beides gleichzeitig.

 

Gerade das ist es, was einen Medizingang ausmacht. Es ist das größte Geschenk, das uns die Reise macht, auch wenn es mir oft wie ein Fluch vorkommt. Das Geschenk besteht darin, dass man nicht mehr verdrängen und unterdrücken kann. Man kann sich keine Ausflüchte und Ersatzlösungen suchen, mit denen man um seine Lebensthemen und damit auch um die eigene Lebensaufgabe herum lebt. Mein Lieblingsmuster besteht darin, dass ich mir die dunklen Seiten in meinem Inneren immer wieder anschaue, darüber erschrecke, mich selbst dafür fertig mache, mir vornehme, etwas zu verändern und dann versuche alles wieder zu vergessen und genau so weiter zu machen wie bisher, nur mit der Hoffnung, dass jetzt alles anders ist. Für alle, die sich eine ähnliche Taktik ausgesucht haben kann ich sagen, dass sie eher mal mäßig funktioniert. Und genau da kommt die Heilungsreise ins Spiel. Zuhause würden die Phasen der Unterdrückung und der Verdrängung so lang werden, dass ich mich keinen Millimeter bewegen könnte. Hier jedoch reichen Kleinigkeiten um die Fassade wieder einstürzen zu lassen und mich dazu zu bringen, ein weiteres Salatblatt von meinem Seelenkern zu wickeln. Genau so eine Sache gab es auch gestern Abend wieder. Auch hier ist eine Auffälligkeit. Die Abstände werden immer kürzer. Ich schaffe es zwar noch immer nicht, den Pflock aus dem Boden zu ziehen und mich zu befreien, aber ich ich spüre nun immer heftiger und immer häufiger, dass dieser Pflock da ist. Er ist wie eine dicke Panzerglaswand, die mein Herz umschließt und die verhindert, dass ich über meinen Schatten springe und endlich zu leben anfange.

Die Situation war folgende: Ich habe mal wieder aus reiner Verplantheit und aus meinem hirnlosen Funktionieren heraus dafür gesorgt, dass unnötige Kosten und unnötige Zeitverplämperung entstanden sind. Dieses Mal ging es dabei um den Aufbau der Erlebnisgeschenke-Homepage, die gerade noch einmal vollkommen überarbeitet wird.

Das Thema, das dabei noch einmal deutlich spürbar wurde ist, dass ich im Moment, oder auch schon seit langem, so gut wie alles "Falsch" mache, was ich anpacke. Ich kann einfache, stupide Tätigkeiten ausführen, aber alles was irgendeine Form des Mitdenkens beinhaltet geht schief und ich mache irgendetwas kaputt. Ich bin unaufmerksam, schaffe es nicht, auf mich selbst zu achten, mich zu pflegen, positive Routinen einzuhalten und benehme mich insgesamt wie ein Trottel. Die ganze Zeit über habe ich das Gefühl, neben mir zu stehen, oder in mir selbst gefangen zu sein, so als würde ich im Autopilotenmodus laufen, in den ich selbst aber nur wenig eingreifen kann. Manchmal will ich etwas greifen und meine Hand macht einen Schlenker um es umzuwerfen, ohne dass ich das Gefühl habe, es beeinflussen zu können. Ich komme mir dabei die ganze Zeit immer wie ein Zombie vor und im Gespräch mit anderen Menschen ist es so, als wäre wie eine Wand zwischen uns, so dass ich den anderen gar nicht richtig wahrnehmen kann. Oft weiche ich im Gespräch automatisch dem Blick meines Gegenübers aus, so dass ich nur noch seine Worte höre, ohne ihn dabei selbst wahrzunehmen, oder so dass ich nur erzähle, ohne mitzubekommen, wie der Zuhörer auf meine Worte reagiert. Ich weiß noch, dass meine Schwester als wir Kinder waren eine Phase hatte, in der sie sich fühlte, als würde sie gesteuert oder von irgendetwas beeinflusst, so dass sie nicht mehr Herrin über ihre Handlungen war. Ich habe das damals nie wirklich ernst genommen, aber langsam habe ich das Gefühl, dass ich nun genau das selbe spüre.

Das Problem, oder besser die Ursache dahinter ist, dass ich noch immer an der offenen Rechnung mit meiner Familie festhalte. Das ist jetzt der Teufelskreis in dem ich mich befinde. Ich fühle mich schuldig, weil ich meinen Eltern und meiner Familie Leid zufüge, dadurch, dass ich ich sein will. Das Maximum, das ich in Sachen Ich-Selbst-Sein bislang irgendwann einmal erreicht habe, waren 0,000000000000000000000000000000000000000000000001% (47 Nullen).

Und da habe ich mich bereits so schuldig gefühlt, dass ich mich am liebsten umgebracht hätte. Gleichzeitig gebe ich aber auch meiner Familie die Schuld daran, dass ich so verkorkst bin, mich nicht wandeln kann und immer wieder auf der Stelle trete. Ich fühle mich daher vom Leben verarscht und glaube, dass mir meine Familie und meine Freunde noch etwas schuldig sind. Ich habe nicht das Gefühl, dass alles gut ist, wie es ist. Ich habe das Gefühl, dass ich falsch bin, dass meine Eltern daran Schuld sind. Ich weiß vom Verstand her, dass alles einen Sinn hat und genau so sein soll, wie es ist, dass ich mir all dies selbst ausgesucht habe, weil ich so die Liebe am meisten ausdehnen kann. Doch was ich fühle ist etwas vollkommen anderes.

 

Gleichzeitig habe ich Angst davor zu erkennen, dass ich was meine Familie anbelangt vollkommen alleine bin und bereits niemanden mehr habe. Im Kopf weiß ich es, aber ich fühle es noch immer nicht. Deswegen habe ich noch immer Angst davor, fallengelassen zu werden und dadurch auf die Klappe zu fallen. Ich habe Angst, zu spüren, dass ich keine Familie habe, dass es niemanden mehr gibt, den ich Stolz machen muss, den ich um Anerkennung anbetteln könnte oder dem ich mich verpflichtet fühlen muss. Ich bin bereits vollkommen allein und doch habe ich noch immer eine so große Verlustangst, dass ich alles was ich tue, denke, sage, fühle und ausrücke, so mache, wie ich glaube, dass meine Eltern es von mir wollen würden. Alles was ich tue, tue ich noch immer vollkommen für sie. Es ist, als wären noch immer Marionettenschnüre an meinem ganzen Körper befestigt, gegen die ich permanent anzukämpfen versuche. Nur hängen meine Eltern längst nicht mehr daran, denn sie sind ja gar nicht mehr da. Stattdessen habe ich mir nun den Eselspflock aufgebaut, der fest in der Erde verankert ist und an dem nun alle Schnüre hängen. Es ist also eigentlich nicht verwunderlich, dass ich keinen Schritt weiter komme, denn der Pfahl kann sich ja nicht bewegen. Ich weiß zwar, dass er da ist, und ich weiß auch, dass diese Schnüre das Problem sind, aber ich habe trotzdem noch immer Angst, sie zu kappen. So sehr sie mich gefangen halten, so sehr geben sie mir auch Halt. Wenn ich sie nun durchtrenne, werde ich auf dem Boden landen und mir dabei vielleicht ein Knie aufschlagen, oder die Schulter prellen. In den Schnüren zu bleiben bedeutet, dass ich irgendwann darin sterben werde und doch ist die Angst vor dem Fall noch immer so groß, dass ich lieber das hinnehme, als den Schnitt in Sturz und Freiheit.

Aufgrund dieser Angst, der Schuld und des Selbsthasses hasse ich mich aber gleich noch mehr, weil ich mich wandeln will, es aber nicht kann. Deswegen verurteile ich meine Familie, meine Kindheit und mich selbst, und halte dadurch automatisch noch mehr daran fest, so dass ich mich noch weniger wandeln kann. Sobald ich nun auch nur einen winzigen Schritt gehe, der mir und meinem Sein entspricht, sei es nun die Entscheidung, ohne Geld zu leben, das Zöllibat anzunehmen oder ein Mönchsgewand zu tragen, dann fühle ich mich dafür so extrem schuldig, dass ich es in mir nicht leben kann. Solange ich es nicht tue, spüre ich, dass es von voller Seele und aus tiefstem Herzen her meins ist und schon immer meins war. Seit ich in der Grundschule war, war mir stets klar gewesen, dass Geld nichts mit mir zu tun hat.

Zunächst war es ein innerer Protest in Form von Gedanken, sobald eine Lehrerin etwas sagte wie: „Ohne Geld kann man in unserer Gesellschaft nicht leben!“ Dann kam sofort in mir der Gedanke auf: „Nein, für mich gilt das nicht! Ich lebe anders!“ Später war es dann der Umgang mit dem Taschengeld, das ich lange Zeit nicht bekam und es nicht einmal merkte. Ich hätte ohnehin nicht gewusst, wofür ich es ausgeben sollte. Während der Unizeit habe ich dann im Schnitt von 100€ im Monat gelebt, habe mein Essen zum Teil durch Containern beschafft und habe Zimmer bewohnt, die mit ihren 9qm ungefähr einer typischen Mönchszelle entsprachen. Als ich zu Heiko zog, hatte ich gerade einmal eine Reisetasche mit drei T-Shirts und vier Unterhosen dabei.

 

Ich lebte bei ihm auf der Couch und es war für mich nie eine Frage, dass ich für die Wildnisschule und die Projekte arbeitete, ohne dafür eine Bezahlung in Form von Geld zu bekommen. Das was ich dafür bekam, war in meinen Augen 1000x wertvoller. Ich konnte bei der Entstehung von etwas großem dabei sein, durfte an Büchern, Fernsehreportagen und Forschungsarbeiten mitwirken, bekam Wissen und Fähigkeiten vermittelt, die ich sonst nirgendwo hätte bekommen können, durfte bei Heikos Eltern mitessen und kam so in den Genuss der unübertroffenen Küche von Anneliese und wurde schließlich sogar mit zu den Medizinkreisen der indianischen Heiler eingeladen.

Niemals hätte ich irgendetwas davon gegen Geld eintauschen wollen! Und doch war bei allem ein latentes Schuldgefühl spürbar. Jetzt, da ich aus dem unbewussten Leben ohne Geld in ein bewusstes eingestiegen bin, bei dem ich mich ganz gezielt dafür entschieden habe, diese Form der Austauschenergie wegzulassen, ist dieses Schuldgefühl noch einmal bedeutend stärker geworden. So stark, dass ich den Reichtum, den ich nun erhalte kaum noch sehen und fast gar nicht mehr fühlen kann, weil permanent das Gefühl mitschwingt, „ich habe all dies gar nicht verdient!“ Ich habe es nicht verdient glücklich zu sein! Ich habe es nicht einmal verdient zu leben! Es darf nicht leicht sein und wenn es leicht ist, dann muss ich künstlich dafür sorgen, dass es schwer wird. Ich muss es manipulieren und sabotieren, damit ich mich nicht mehr schuldig fühlen muss, weil es mir gut geht, obwohl ich dies nicht verdient habe.

 

Nicht anders ist es mit der Robe. Ich hatte nie einen Kleidungsstil und egal, was ich anzog, ich hatte keinen Bezug dazu. In der gesamten Schulzeit wurde ich von meiner Mutter mit Dingen eingekleidet, von denen ich froh war, wenn ich mich einmal nicht dafür schämen musste. Später versuchte ich selbst etwas für mich zu finden und landete immer wieder bei dem gleichen Ergebnis. Selbst als wir unsere Kleidung von Sponsoren bekamen schaffte ich es noch immer, meine so zu tragen, dass ich darin komisch aussah, während Heiko die Kleidung stand. Und das obwohl sie komplett identisch war. Als das erste Mal die Idee aufkam, dass eine Mönchskleidung zu mir gehören könnte, fühlte sich dies zum ersten Mal richtig an. Doch als ich sie dann hatte, war das Schuldgefühl sofort wieder so groß, dass ich mich am liebsten in ihr verstecken wollte. Wenn jetzt schon mein äußeres so auffällig war, dass ich eigentlich keine Wahl mehr hatte, als das zu leben was es verkörperte, dann versuchte ich nun gerade deswegen, mich noch weiter von dem zu entfernen, wo ich eigentlich hinwollte. Dass dies am Ende vollkommen lächerlich wirkt, ist natürlich kein Wunder.

Und jetzt kommt das heftigste! Genau dieser Zwiespalt zwischen dem Wandeln-Wollen und es auch nach außen hin zeigen auf der einen, und dem Schuldgefühl im Inneren, das dafür sorgt, dass keine Wandlung stattfindet auf der anderen Seite, führte nun dazu, dass ich es schaffte, ein Schauspielstück von meinem wahren Sein aufzuführen, ohne mein wahres Sein aber zu leben. Ich bin im Inneren also noch immer der Speichellecker, der seinen Eltern hinterherläuft und der das Alte einfach nicht loslassen kann. Im Außen aber spiele ich die Rolle eines Mönches, der sich selbst finden will und der sein Leben der Erleuchtung, der Armut und dem Heilersein gewidmet hat. Diese Rolle versuche ich mir selbst und allen anderen vorzuspielen, doch weil ich noch immer nicht loslassen kann, kann ich dieser Mensch, der ich sein möchte einfach nicht sein. So wie ich zuvor eine Schauspielpuppe ohne Gefühle war, bin ich es nun wieder. Nur entspricht die Rolle dieses Mal meinem Sein, weshalb sie sich auf der einen Seite deutlich richtiger Anfühlt.

Auf der anderen Seite Blockiere ich mich durch die gefühlte offene Rechnung mit meinen Eltern, durch meine eigenen Schuldzuschreibungen an sie und durch das Schuldgefühl in meinem inneren so sehr, dass ich nicht der Mensch sein kann, der ich eigentlich bin. Ich kann es spielen, aber ich kann es noch nicht sein. Das Spiel jedoch schaffe ich sogar so gut, dass ich in den Blogberichten von mir selbst als Franz schreibe und in diesen bereits mein Sein bin. Deswegen löse ich damit auch eine Wut- und Protestwelle von Seiten meiner Familie aus, wie sie stärker kaum sein könnte. An und für sich ist dies ja auch in Ordnung, mir war ja klar, dass es Gegenwind geben würde, wenn ich beginne, mein Sein zu leben. Nur lebe ich es im Moment noch zu 0%, gerade weil ich dieses Schauspielstück spiele.

 

Und aber warum mache ich das? Diese Frage war mir noch immer nicht klar. Der einzige Grund dafür ist, dass ich noch immer meinen Eltern gefallen und ihnen Recht geben will. Ich darf nicht anderes sein, als sie mich kennen. Ich darf nicht glücklich sein, weil ich nicht der Sohn bin, den sie haben wollen. Ich selbst fühle mich in mir wie im falschen Film, und deshalb kann mich als Franz von Bujor auch keiner wirklich wahrnehmen und ernst nehmen. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass ich niemandem zur Last fallen darf, obwohl ich dies natürlich ständig tue. Ich darf aber nicht um Hilfe bitten, weil ich glaube, alles alleine schaffen zu müssen. In mir ist der intensive Glaubenssatz, dass alles andere wichtiger ist, als meine Wandlung und meine Heilung. Da bin ich dann schon wieder beim Funktionieren. Ich bin nicht liebevoll, sanft, geduldig und mitfühlend mit mir, sondern stehe ständig mit der Peitsche da, treibe mich an und mache mich fertig wenn einmal etwas nicht gelingt. Der kleinste Fehler (wie jetzt der mit der Erlebnisseite) führt sofort dazu, dass ich alles aufgeben und hinschmeißen will. „Ich schaffe es ja doch nicht, ich werde mich niemals wandeln, ich bin ein hoffnungsloser Fall und kann mich auch eigentlich gleich umbringen!“ beginnt sofort mein Selbstzweifel-Ich in mir wie ein Wasserfall. Das einzige, was mich oft vom Selbstmord abhält ist, dass ich mir bewusst bin, dass es letztlich nichts ändert, weil ich die gleiche Aufgabe dann wieder gestellt bekomme, und natürlich, dass ich dummerweise auch noch eine wahnsinnige Angst vor dem Tod habe.

Der Kernpunkt bei allem besteht aber erst einmal darin, die Kordeln der Schuld, der Verurteilung, des Hasses und der Anklage zu meinen Eltern und meiner Familie zu lösen. In dem Maße, in dem ich mich selbst verurteile für das was ich bin, verurteile ich auch meine Familie dafür, dass sie mich zu dem gemacht haben. In dem Maße in dem ich mich selbst schuldig fühle, „nicht richtig“ zu sein, gebe ich auch ihnen die Schuld dafür, nicht der sein zu können, der ich wirklich bin. Langsam beginne ich zu begreifen, warum man seine schöpferische und heilerische Kraft verliert, wenn man im Strudel von Verurteilungen, Hass und Schuld fest steckt. Es gibt keinen Unterschied zwischen Innen und Außen. Wenn ich mich nicht lieben kann, kann ich auch niemand anderen lieben. Wenn ich anderen nicht vergeben kann, kann ich auch mir nicht vergeben. Wenn ich andere verurteile, verurteile ich auch mich selbst. Mein Kopf hat längst verstanden, dass es hier nichts zu verurteilen gibt. Ich selbst habe mir meine Familie genau so ausgesucht, wie sie ist und ich selbst habe auch dafür gesorgt, dass ich nun genau an diesem Punkt stehe, an dem ich jetzt stehe. Wenn also alles göttlich ist, dann ist alles genau so richtig, wie es gerade ist. Das dumme ist nur, dass es sich nicht so anfühlt. Die Schuldzuweisungen und Verurteilungen sind noch immer in mir und ich kann sie noch immer nicht loslassen. Warum?

Das wurde mir erst an diesem Abend klar. Ich habe den Schmerz, der damit verbunden ist nie wirklich gefühlt, sondern immer nur verdrängt. Ich habe es vom Kopf her analysiert, aber nie in mein Herz gelassen. Mein Herz hat bis heute noch nicht einmal verstanden, dass ich keine Familie mehr habe. Und aus diesem Grund habe ich auch noch immer so eine immense Angst davor, sie zu verlieren. Heute Abend war ich zum ersten Mal bereit, den Schmerz der Trennung und die damit verbundene Verzweiflung wirklich an mich heranzulassen. Wenn es von alleine nicht klappen wollte, dann musste eben nachgeholfen werden und Heiko hatte dafür die perfekte Übung für mich parat. Ich setze mich im Obergeschoss des Pfadfinderhauses in einen Raum und sprach mir bis um 3:00 Uhr in der Nacht viele tausend Mal das Mantra vor: „Ich bin vollkommen allein, ich habe niemanden mehr!“ Es dauerte nicht lange und die ersten Tränen rannen mir über die Wangen. Dann begann ich zu schluchzen und zu heulen. All meine Muskeln verkrampften und ich befand mich immer wieder in einer Mischung auch Trauer, Verzweiflung, Hass und Selbsthass. Immer wieder kam in mir der Wunsch auf, mich selbst zu verletzen und ich fühlte mich teilweise wie Debby der Hauself aus Harry Potter. Ich konnte die Tränen nicht einfach frei fließen lassen, sondern war immer verkrampft dabei, so als müsste ich einen immensen inneren Widerstand überwinden. Was ja letztlich auch so war. Wieder war es rund eine Stunde, in der ich die starken Gefühlsausbrüche hatte. Dann wurde ich ruhiger und sank in einen tranceartigen Zustand. Teilweise vergaß ich nun sogar den Satz den ich mir vorsagte, was nach rund 3000 Wiederholungen eigentlich nicht erklärbar war. Irgendwann schlief ich unterm Sprechen sogar ein und wachte dann Sekunden oder Minuten später wieder auf.

Gegen drei Uhr in der Nacht beendete ich die Meditation und legte mich schlafen. Ich hatte nun zumindest einen kleinen Teil von dem gefühlt, was da in mir steckte und ich muss ganz ehrlich zugeben, ich kann verstehen, warum es mir so eine Angst machte. Gleichzeitig wurde mir klar, dass ich auf jeden Fall so schnell wie möglich die Kordeln lösen musste und dass ich dafür Hilfe brauchte. Am Abend schrieb ich eine Mail an Heidi bzw. Tolinka und bat sie darum, mich durch eine Heilungsreise zu unterstützen, so dass ich gemeinsam mit ihr die Kordeln lösen kann. Wir verabredeten uns für eine gute Woche später und ich bin gespannt, was dann auf mich zukommen wird.

Nun aber noch ein paar Details über den heutigen Tag:

Die Flachebene wird nun immer schmaler und die Berge auf beiden Seiten immer höher. Heute war es deutlich wärmer als an den letzten Tagen, weshalb die Schneeschicht auf den Gipfeln wieder etwas dünner wird. Das Gebiet in dem wir uns befinden, weckt wieder einmal gemischte Gefühle in uns. Auf der einen Seite ist es unglaublich schön und die Blicke in die Ferne sind immer wieder atemberaubend. Auf der anderen Seite ist es aber so dicht besiedelt, dass man die Berge kaum mehr sehen kann. Obwohl das Tal kaum 10km breit ist und sich an einigen Stellen sogar auf zwei oder drei Kilometer verjüngt gibt es zwei Autobahnen, die sich hindurchschlängeln. Eine befindet sich auf der schweizerischen, die andere auf der österreichischen Seite des Rheins. Unter diesen Umständen ist es geradezu erstaunlich, wie ruhig es trotz alledem noch ist. Die vielen Häuser schirmen den Straßenlärm sehr gut ab. Nur wenn man doch einmal einen Bereich findet, der grün und natürlich ist, dringt das Rauschen der Autobahnen zu einem durch. So wie die deutschen Bauern lieben es auch die österreichischen all ihre Wiesen und Felder mit Scheiße zu besprühen. Es gibt kaum mehr eine unbesiedelte Fläche, die nicht wie ein Klärwerk stinkt. Sogar auf den Wiesen innerhalb der Ortschaften wird der Kuhmist verteilt. Dass die Jauchesprüher einen Hang zur Ironie haben zeigen sie deutlich mit den Schildern, die sie immer wieder entlang ihrer Weiden aufstellen. Dort stehen dann Texte wie: „Hallo! Ich bin eine Kuh und diese Wiese ist meine Speisekammer. Ich liebe Gras, aber ich mag keinen Hundekot. Euch würde dabei sicher auch der Appetit vergehen!“ oder „Hier werden Lebensmittel angebaut! Achten Sie daher darauf, dass Ihr Hund hier keinen Haufen hinterlässt!“ Prinzipiell ist das ja eine gute Sache, aber es wirkt einfach nicht überzeugend, wenn es vor einer Wiese hängt, bei der man das Gras unter der dicken Dungschicht kaum noch erkennen kann.

Spruch des Tages: Wer den Kopf in den Sand steckt, braucht sich nicht wundern, wenn er früher oder später mit den Zähnen knirscht.

Höhenmeter: 60 m Tagesetappe: 19 km Gesamtstrecke: 19.282,27 km Wetter: sonnig und windstill, Temperaturen um die 10°C Etappenziel: Pfadihuus (Pfadfinderhaus), Lachen, Schweiz

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

15.11.2016

Eines fiel uns bei unserer Besichtigung von Bregenz ganz besonders auf. Egal wohin man kam, überall standen Vertreter der rumänischen Bettelmafia herum und versuchten, einem auf sehr aufdringliche und unangenehme weise das Geld aus der Tasche zu ziehen. Heiko wurde zunächst von einem angesprochen, der behauptete ein Syrer zu sein. Da er nur schlecht Deutsch sprach bot Heiko ihm an, dass sie sich dann ja auf Syrisch unterhalten könnten, da er dies recht gut beherrsche. Sofort kam der Mann ins straucheln und war nun plötzlich überhaupt kein Syrer mehr, sondern Rumäne. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, Heiko weiterhin um Geld anzubetteln, da er ja seine hungernde Familie versorgen müsse.

rathaus 1

„Hunger?“ fragte Heiko, „da kann ich helfen! Er holte die Tüte mit Brot und Brötchen aus dem Wagen und drückte sie ihm in die Hand. Verdutzt schaute er auf das Geschenk und er wirkte ein bisschen, als hätte Heiko ihm einen Haufen Hundescheiße hingeworfen. Besonders glücklich war er darüber nicht, aber er verstand, dass er von Heiko nichts anderes bekommen würde.

Kurz darauf wurde ich angesprochen. Ich erklärte dem Mann, dass ich die falsche Adresse sei, da ich auf der Durchreise bin und ohne Geld lebe und daher weder eine Spende, noch einen Job noch einen Schlafplatz für ihn hätte. Das einzige, was ich ihm anbieten konnte, war eine Orange, die ich kurz zuvor geschenkt bekommen hatte. Doch die wollte er nicht haben. Stattdessen begann er immer wieder von vorne damit, die gleichen Fragen zu stellen. Ich spürte, wie ich langsam aggressiv wurde. Diese penetrante Art des Mannes regte mich tierisch auf. Was mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst war, war dass ich genau damit in Resonanz ging, weil es auch mein eigenes Thema war. Der Mann spiegelte mir meine Bittsteller-Haltung, mit der ich dem Leben gegenüberstehe und die ich noch immer nicht loslassen und aufgeben kann, egal wie oft ich es auch versuche. Der Mann bat nicht um ein Geschenk, er verlangte es und genau dieses Muster trage auch ich noch immer in mir.Das aber wurde mir erst am Abend bewusst.

Der zweite Grund, warum wir nicht allzu gut auf die Agro-Bettler zu sprechen waren war der, dass sie uns tüchtig das Geschäft vermiesten. Menschen helfen im Allgemeinen sehr gerne, wenn sie einen Sinn darin sehen und wenn sie etwas unterstützenswert finden. Wenn die Hilfsbereitschaft an einem Ort wie diesem jedoch permanent überstrapaziert und ausgenutzt wird, dann blockt irgendwann jeder ganz automatisch ab. Das ist vollkommen verständlich und auch absolut wichtig, wenn man sich nicht permanent aussaugen lassen will. Für uns war das natürlich überhaupt nicht hilfreich und zunächst schien es, als würde das Abendessen daher heute etwas mau aussehen. Es dauerte jedoch nicht lange, bis sich das Blatt wieder wendete. Selbst wenn jeder frustriert war und abblockte, auf die Italiener ist immer noch verlass. In Italien selbst hatten wir zwar schon immer wieder auch recht gemischte Erfahrungen gemacht, aber außerhalb ihres Landes war eine Pizza fast immer möglich.

Als Heiko heute in der Früh aufwachte, spürte er sofort, dass etwas nicht stimmte. Dass seine Ohren die Sorgenkinder unter den Körperteilen waren, war nicht neu, aber heute war es anders. Alles war irgendwie dumpf und der Klang war nicht so, wie er sein sollte. Innerhalb von Sekunden erinnerte er sich daran, woher er dieses Gefühl kannte. Er hatte es vor knapp zweieinhalb Jahren bereits einmal gehabt, als wir in Spanien entlang der Küste unterwegs waren. Damals hatten wir relativ lange gebraucht um herauszufinden, worin das Problem lag. Schließlich war es ein Deutscher Arzt gewesen, der die Lösung fand und das Problem beheben konnte. Es war ein verdichteter Ohrenschmalzpropfen gewesen, der Heikos Gehörgänge blockiert hatte. Normalerweise reinigen sich unsere Ohren stets von alleine. Im Inneren des Gehörganges befinden sich unzählige kleine Härchen, die sich sanft hin und her bewegen und die auf diese Weise alle Verunreinigungen langsam aber stetig nach außen transportieren. Damit ihnen das gelingt, sondern unsere Ohren in ihrem Inneren eine Art Fettcreme aus, die gewissermaßen als Gleitmittel fungiert. Diese Substanz nennen wir Ohrenschmalz.

Zu Ohrverstopfungen kommt es daher in der Regel nur aus zwei Gründen. Der erste ist der, dass wir unseren Ohren in Sachen Selbstreinigung nicht vertrauen und daher glauben, sie permanent auf irgendeine Weise reinigen zu müssen. In der Regel verwenden wir dafür Q-Tipps, die wir in die Ohren stecken, ordentlich hin und her drehen und dann wieder herausziehen. Dadurch entfernen wir zwar meistens einen Teil des Ohrenschmalzes, der dann als gelbe, klebrige Masse an der Watte hängen bleibt, doch einen anderen Teil stoßen wir automatisch zurück in den hinteren Bereich des Gehörganges. Wir machen die Arbeit, die unsere Ohrhärchen verrichten also wieder zunichte. Wenn wir das häufig tun, dann kommen diese mit ihrer Reinigungstätigkeit nicht mehr hinterher und es bildet sich ein Pfropfen, der das Ohr verschließt. Der zweite Weg, auf dem wir unser Ohr hin und wieder aus Versehen verschließen ist die häufige Benutzung von Ohropacks. Vor allem in der Nacht arbeiten die Härchen besonders aktiv und leiten den meisten Schmutz in Richtung Ausgang. Stecken wir uns um diese Zeit nun Ohropacks in die Ohren, verhindern wir den Reinigungsprozess natürlich. Das Ohrenschmalz wird natürlich trotzdem weiterhin produziert, kann nun aber nicht mehr nach außen wandern und sammelt sich an.

In Heikos Fall dürfte der zweite Weg die Ursache für die Ohrenverstopfung sein, denn von einem übermäßigen Hang zum Ohrenwaschen hätte ich bislang noch nichts mitbekommen. Dafür gehören die Ohropacks zur allnächtlichen Schlafausrüstung, um die Umgebungsgeräusche ausblenden zu können.

Anders als beim ersten Mal stieg in Heiko nun jedoch keine Panik auf, da er ja wusste, dass es eine relativ simple Lösung für das Problem gab. Eine große Spritze mit heißem Wasser, die den Schmalzpfropfen anlöste und dann ausspülte sollte genügend. Jedenfalls hatte es dies beim letzten Mal getan. Heute aber wollte es nicht gelingen. So wie es aussah, war der Stopfen bereits zu hart und er saß zu fest. Wir brauchten also professionelle Hilfe, um die Ohren wieder von ihrem Ballast zu befreien. Gleich nachdem wir unsere Herberge verlassen hatten, machten wir uns auf die Suche. Mit Erstaunen stellten wir fest, dass die Bewohner von Bregenz beeindruckend wenig über die Ärzteschaft wussten, die ihnen hier zur Verfügung stand. Niemand wusste, ob es überhaupt einen Halsnasenohrenarzt gab, geschweige denn, wo man ihn finden konnte. Dafür entdeckten wir nach einiger Zeit ein Ärztehaus, in dem unter anderem eine Allgemeinmedizinerin ansässig war, die auch TCM-Behandlungen anbot. Das klang zumindest einmal nach einer guten Alternative. Auch die Praxis wirkte auf den ersten Blick sehr sympathisch. Sie war gemütlich eingerichtet und über der Warteecke hing ein Schild mit der Aufforderung, sich die Wartezeit mit einem warmen Tee zu verkürzen. Das einzige, was wir ein wenig vermissten, war der Tresen mit der Sprechstundenhilfe und der Anmeldung. Niemand war zu sehen und es gab auch keine Informationen darüber, wo man sich melden sollte. An den Türen hingen lediglich Schilder mit der Aufschrift: „Nicht eintreten – Warten Sie, bis sie aufgerufen werden“ Die Frage war nur, wie man uns aufrufen wollte, wenn doch niemand wusste, dass wir überhaupt da waren?

Schließlich entdeckten wir außen vor der Praxis eine Klingel mit dem Namen der Ärztin darauf. Auf unser Läuten hin tauchte nun eine Frau im Flur auf und schaute und genervt und missmutig an. „Worum geht es? Machen Sie schnell ich habe keine Zeit!“ blaffte sie uns an. Heiko begann mit einer Erklärung der Situation und des Problems seiner Ohren, kam damit jedoch nicht besonders weit. „Da kann ich jetzt nichts machen, ich bin mitten in einer Behandlung!“ wies sie grob ab. „Kennen Sie dann vielleicht einen Arzt, an den wir uns wenden könnten?“ wollte Heiko wissen, dem es bereits beträchtlich schwerer fiel, höflich zu bleiben. „Nein! Da müssen Sie überall warten!“ gab die Frau zurück und verschwand wieder hinter der Ecke, hinter der sie hervorgekommen war.

Das war also schon einmal eine Sackgasse gewesen, wenngleich auch sie durchaus ihren Lehrgehalt hatte. Immerhin wussten wir nun, dass man einen Arzt nicht nach seiner Praxis beurteilen durfte. Man konnte durchaus gleichzeitig ein Händchen für Gemütlichkeit haben und trotzdem ein unmöglicher Mensch sein. Was wir an der ganzen Situation jedoch nicht verstanden, war das Marketingkonzept hinter dieser Praxis. Wie wollte sie jemals Kunden oder Patienten bekommen, wenn sie keinen Empfang hatte und jeden sofort abwies? Selbst wenn wir uns telefonisch bei ihr gemeldet hätten, hätte sie ja trotzdem ihre Behandlung unterbrechen und ans Telefon gehen müssen. Für den Patienten wäre es also das selbe gewesen und sie hätte genauso unter Druck gestanden, was ihrer wahrscheinlich auch nicht zu ihrer Freundlichkeit beigetragen hätte. Wir nach diesem ernüchternden Versuch verließen wir die Stadt und wanderten erst einmal durch die Flachebene auf die Alpen zu. Die Berge vor uns waren noch immer dick mit Schnee bedeckt und es war bitterkalt. Unter diesen Umständen zogen wir es vor, uns doch erst einmal um einen Schlafplatz zu kümmern. Was half es, wenn man freie, saubere Ohren hatte, wenn man gleich darauf in der Nacht erfror?

Das Ergebnis unserer Bemühungen ähnelte zunächst dem des Ärztebesuchs. Zunächst fanden wir niemanden und dann stießen wir auf eine bissige alte Frau im Pfarrbüro, deren Abfuhr mindestens so kalt war, wie der Wind, der draußen fegte. Dass all dies genau so geschehen musste, damit wir am Ende für beides gleichermaßen eine Optimallösung bekommen konnten, war uns zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht klar, und so empfanden wir die ganze Angelegenheit eher als lästig. Und wieder einmal war es so, dass wir die Suche erst aufgeben mussten, bevor sie Erfolg zeigte. Wir waren schon halb dabei, die Stadt zu verlassen, als wir einen Rückruf von einem Mann bekamen, der laut Touristeninformation für die hiesigen Pfadfinder zuständig war. Er löste eine ganze Kette von Telefonaten aus, an deren Ende wir einen Schlafplatz, einen HNO-Arzt und ein warmes Essen hatten. Ja, er sei zwar im Vorstand der Pfadfinder, könne aber nichts entscheiden. Dafür hätte er aber die Nummer eines Mannes, der das könnte.

Ja, dieser wiederum könne entscheiden und ja, er habe auch nichts dagegen, aber nein, er sei nicht im Ort und habe auch keinen Schlüssel. Er könne uns aber die Nummer eines Mannes geben, der einen hätte. Ja, dieser hätte einen Schlüssel und wenn von vorheriger Seite alles in Ordnung war, könne er auch kommen und den Raum aufschließen. Wenige Minuten später trafen wir den dritten der drei Männer vor dem Rathaus und ließen uns von ihm den Weg ins Pfadfinderheim beschreiben. Bei dieser Gelegenheit fragte Heiko auch gleich nach einem entsprechenden Arzt. Dieses Mal hatten wir Glück. Es gab einen, er wusste wo dieser seine Praxis hatte und er war sogar bereit, uns gleich dorthin zu fahren, damit wir nicht zu spät ankamen. Der HNO-Arzt war tatsächlich noch in der Praxis und hatte nur noch einen einzigen Kunden, der aber relativ bald fertig war. Dann kam Heiko an die Reihe.

Zunächst versuchte es der Arzt wieder mit der Heiß-Wasser-Technik, doch auch er hatte damit keinen Erfolg. Heikos Ohren waren so verschlossen, dass man das Trommelfell nicht einmal mehr sehen konnte. Der Pfropfen war wie eine Stahlplatte und das Wasser konnte ihm einfach nichts anhaben. Einen ganzen Liter spülte der Arzt hindurch, bevor er diese Technik aufgab. Nun blieb nur noch die Holzhammermethode. Ein kleines Metallröhrchen wurde in den Gehörgang eingeführt. Es war wie ein Ministaubsauger, der den Ohrenschmalzstopfen verschlang und so langsam abbaute. Effektiv war diese Methode und sie funktionierte astrein. Der einzige Haken dabei war nur, dass sie lauter war, als alles, was Heiko in seinem Leben erlebt hatte. Stellt euch einfach vor, wie laut so ein handelsüblicher Industriestaubsauger ist. Und nun stellt ihn euch mitten in eurem Ohr vor! Das kann nicht angenehm sein. Vor allem dann nicht, wenn man ohnehin schon sehr sensibel auf Geräusche reagierte.

Während der Behandlung war natürlich kein Gespräch möglich, aber davor und danach unterhielten sich Heiko und der Arzt recht offen über alles mögliche. Dabei kamen sie auch darauf, dass wir nun zwar einen Platz, aber noch kein Essen hatten. Das ging so natürlich nicht, empfand der Arzt und erklärte sich bereit, uns ein Abendessen zu spendieren. Besuchte uns der Arzt gemeinsam mit einem Freund im Pfadfinderheim und brachte große Portion asiatisches Essen mit. Spätestens jetzt fügte sich alles zusammen. Auch wenn es mir noch immer oft schwer fällt, wirklich daran zu glauben und darauf zu vertrauen, das Leben zeigt immer wieder, dass alles genau so kommt, wie es kommen soll.

Spruch des Tages: Kommt die Arzthelferin ins Wartezimmer und fragt: "Wo ist denn der Herr, der einen Verband wollte?" - "Der ist gegangen, seine Wunde ist bereits verheilt"

Höhenmeter: 30 m Tagesetappe: 17 km Gesamtstrecke: 19.263,27 km Wetter: heftiger, warmer Föhnwind Etappenziel: Gästezimmer des Katholischen Pfarrhauses, Reichenburg, Schweiz

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.