Tag 700: Der Staudamm

von Heiko Gärtner
01.12.2015 18:44 Uhr

Eines musste man dem Regen hier lassen. Er war konsequent. Wenn er einmal angefangen hatte, dann zog er sein Ding auch durch und tat nicht nur so, als wollte er die Erde ein bisschen Nass machen. Mehrmals in der Nacht musste ich an unsere Zeit in Italien denken. Zum glück befanden wir uns hier, denn wenn wir dort von einer solchen Sintflut überrascht worden wären, dann würden wir nun mitsamt dem Zelt weit draußen auf dem See schwimmen. Doch hier war Regen für den Boden einfach kein Problem. Er sickerte in die Erde und das war’s.

Leider hatte unsere Regenkleidung offensichtlich ein bisschen zu viel Zeit mit dem hiesigen Boden verbracht, denn sie hatte sich die gleiche Taktik abgeschaut. Wenn der Regen auf sie fiel, dann sickerte er einfach hindurch und das war’s. Zumindest aus Sicht der Regenjacken, denn aus unserer Perspektive fing das Theater damit ja eigentlich erst an.

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Da es sowohl beim Zusammenpacken als auch beim Wandern regnete und wir ohnehin schon nass waren, wanderten wir einfach immer weiter. Wir kamen durch einen engen Canyon, der durch die tiefhängenden Wolken und die düstere Stimmung heute besonders mystisch aussah. Ortschaften gab es hier eh keine, denn aus sicherheitstechnischen Gründen waren diese nicht direkt im Tal neben dem Fluss, sondern immer oben auf den Berggipfeln errichtet worden. Rein optisch hätte man keine bessere Lage wählen können, aber um eine Rast zu machen waren sie nicht gerade ideal.

Nach knapp 20km trafen wir einen Radreisenden, der uns entgegen kam. Er stammte aus England, arbeitete in der Schweiz als Programmierer für die UNO und verbrachte hier seinen Urlaub um wieder einmal ein bisschen Abenteuer zu erleben. Seine Reise hatte in Orhid begonnen und von dort aus war er eine Runde durch die Flachebene und dann auf der anderen Seite durch das Gebirge gefahren. Als ich ihn fragte, ob auch er der Australierin begegnet war, meinte er lachend: „Verdammt, was ist denn dass bloß für eine mysteriöse Australierin, von der hier alle sprechen?“

Er selbst war ihr noch nicht begegnet, aber er hatte vor ein paar Tagen eine Gruppe mit deutschen Reisenden getroffen, die ihm auch von der Dame erzählt hatten.

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Der Canyon wie auch der See, an dem das Dorf vom Vortag gelegen war gehörten zu einem Nationalpark, der bereits Kilometer zuvor mit großen Schildern und Plakaten angekündigt wurde. „Unberührtes Mazedonien“ hieß es darauf, doch mit Ausnahme besagter Schilder unterschied sich das Land hier kaum von dem außerhalb des Parks. Die Landschaft war ohne jeden Zweifel wunderschön und absolut schützenswert, doch für meine Begriffe bedeutete Nationalpark, dass man das Gebiet dann auch wirklich schützte. Hier bedeutete es jedoch, dass man einige Hauptstraßen hindurchbaute und überall im Gelände jede Menge Müll verteilte. Mazedonien war was die Müllpolitik anbelangte sogar noch krasser als der Kosovo.

Der Canyon schien endlos. Es war, als wären wir auf der regennassen Straße in ein schmales Tal geraten, das uns weit über den Rand der Welt hinausbringen würde. Aber wenn wir schon den Rest unseres Lebens hier wandernd verbringen mussten, dann musste man doch sagen, dass es kein übler Ort dafür war. Zumindest, wenn man davon absah, dass uns langsam die Nahrungsreserven und nach ihnen die Energiereserven ausgingen. Das einzige, was nach knapp 30km auftauchte, war eine Tankstelle, an der wir ein kleines Paket Nüsse ergattern konnten.

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Schließlich kamen wir an eine Kreuzung, von der links und rechts jeweils ein kleines Dorf abging. Beide lagen auf den Bergen, aber nicht ganz so hoch wie die Dörfer zuvor. Wir entschieden uns nach einiger Überlegung für die rechte Seite und zelteten auf dem Parkplatz eines Hotels. Eigentlich hatten wir gehofft, vielleicht im Hotel schlafen zu können, doch der einzige, den wir dort antrafen war ein großer, gelangweilter Hund, der ununterbrochen kläffte, um sich die Zeit zu vertreiben.

Nachdem wir alles aufgebaut hatten war es bereits kurz vor der Abenddämmerung. Der Regen hatte inzwischen aufgehört, aber es war noch immer bewölkt und so brauchten wir uns keine großen Hoffnungen auf Solarstom zu machen. An Berichte schreiben war also nicht zu denken.

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Für´s Abendessen musste ich den Berg komplett hinaufsteigen, denn das eigentliche Dorf lag auf dem Gipfel. Dort traf ich einen Mann, der mir auf meine Bitte hin zwei Bonbons gab. Irgendwie sah er dann wohl selbst ein, dass davon niemand satt werden konnte und bat mich deshalb, ihn zu begleiten. In einer Garage eines Nachbarn gab es einen kleinen Dorfladen, in dem jeder einkaufen und dann selbst das Geld in die Kasse legen konnte. Ich durfte mir hier einiges aussuchen, was ein bisschen problematisch war, weil es tatsächlich nur Kekse und Süßgetränke gab. Dafür aber jede Menge Shampoos und Waschmittel.

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Am nächsten Morgen war es zwar trocken aber unglaublich kalt. Die Sonne versteckte sich noch weit hinter den hohen Bergen und konnte somit nicht mit wärmenden Sonnenstrahlen aufwarten. Dafür hatte sich aber unser Parkplatz in eine rutschige Schlammwüste verwandelt, die an allem kleben blieb, was mit ihr in Kontakt kam.

De Himmel war nun strahlen blau, doch noch ehe die Sonne über den Berggipfeln erschien war er bereits wieder mit einem dichten Gittermuster aus Chemtrails übersäht. Bis zum Mittag sollte er sich komplett wieder zuziehen. Was immer die Wetter-Manipulatoren auch vor hatten, große Wanderfreunde konnten sie nicht sein.

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Die Landschaft war auch heute wieder wunderschön, wenn es einem gelang sie unter dem Müll zu entdecken. Nach einigen Kilometern öffnete sich der Canyon etwas und teilte sich in zwei verschiedene Wege. Unsere Seite ging dann in ein breiteres Tal über, das von einem Stausee dominiert wurde. Auf einer Uferseite trat an mehreren Stellen heißer Schwefeldampf aus dem Boden und es gab einige heiße Quellen, aus denen das Wasser in den See floss. Leider war es die Uferseite, auf der wir uns nicht befanden. Sonst hätten wir uns die Chance auf ein heißes Bad nicht entgehen lassen.

Hinter dem Stausee führte sie Straße dann ein gutes Stück steil den Berg hinauf bis zu einer Stadt namens Gebar. Kurz vor ihren Toren kamen wir an das Kloster St. Baptiste. Es war sozusagen die Freuenniederlassung des Klosters, das gestern irgendwo auf halber Strecke oben auf einem Berggipfel gelegen hatte. Es war ein prunkvolles Bauwerk, das dazu gerade noch festlich herausgeputzt wurde. Unter anderen Umständen hätten wir die Nacht hier verbringen dürfen, doch ausgerechnet heute fand hinter den Klostermauern ein großes Fest statt, für das Menschen aus aller Welt angereist kamen. Jedes einzelne Zimmer war ausgebucht und sogar die Nonnen hatten Gäste mit in ihre Privatquartiere aufgenommen.

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Auffällig war, dass das Kloster wie auch das in Ostrog in erster Linie touristischen Zwecken diente. Es war schön gelegen und sah außerdem noch gut aus, daher bot es sich als Repräsentationsort der orthodoxen Kirche natürlich auch sehr gut an. Anders als in den vielen abgelegenen Klöstern, die fast immer nur mit wenigen, sehr alten Brüdern oder Schwestern besetzt waren, lebten hier vor allem junge Nonnen die ein Bild vom Klosterleben vermittelten, das so wahrscheinlich nicht allzu repräsentativ war. Es erinnerte uns sehr stark an Vézeley, Rom, Assisi, Fátima und Santiago. Es mochten unterschiedliche Kirchen sein, doch die Tricks mit denen sie arbeiteten waren die selben. Warum auch nicht, sie schienen ja zu funktionieren.

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Anders als das Kloster entpuppte sich die nahegelegene Stadt als ganz und gar nicht sehenswert. Sie lag auf einem Hochplateau direkt über einem Tal mit gleich zwei Stauseen und hatte somit die Idealvoraussetzungen, um ein schöner Ort zu werden. Doch man hatte sich alle Mühe gegeben, dies zu verhindern. Die Stadt war ein Schandfleck, voller Müll, Dreck und Betonbunker, die sogar für den Begriff Bausünde eine Beleidigung waren. Wieso hatten Menschen nur immer wieder den Drang, es sich selbst so unangenehm wie möglich zu machen, sogar wenn es so unglaublich einfach war, etwas Schönes zu erschaffen?

Zum Glück passierten wir die Stadt nur am Rande. Zunächst fühlte es sich zwar nicht so an, aber als wir kurze Zeit später über die Staumauer hinweg auf die andere Seite des Tals und dort wieder auf die Berge gestiegen waren, konnten wir einen Blick aus der Vogelperspektive auf die Stadt werfen. Erst jetzt erkannten wir ihre unglaubliche Größe und das machte sie kein bisschen sympathischer.

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Die Staumauer, die sich unterhalb der Stadt befand teilte das Tal in zwei Hälften. Eine davon war noch immer ein Tal, die zweite war nun der See. Es war ein riesiges Gebiet, das hier überflutet worden war. Klar sah auch der See ganz Chic aus aber die ursprünglichen Bewohner dieses Tals werden sich wohl nicht allzu sehr über die Staubauer gefreut haben. Dennoch hätte man den Aufwand und die Zerstörung vielleicht noch irgendwo eingesehen, wenn man einen Nutzen in diesem Projekt erkannt hätte. Doch die Turbinen, die unten in der Staumauer steckten leiteten den Strom gleich nebenan zu einem Umspannwerk. Und von dort gingen gerade einmal vier hauchdünne Leitungen weg, die eher an Telefonkabel denn an Hochspannungsleitungen erinnerten. Wenn das alles war, was dieses Wasserkraftwerk hergab, dann war es mehr als nur erbärmlich.

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Nach weiteren acht Kilometern erreichten wir ein kleines Dorf. Es musste hier irgendeine Art von Feiertag gewesen sein, denn alle waren irgendwie aufgedreht und aus dem Häuschen. Unmengen an Kindern spielten in den Straßen, doch obwohl auch dieses Dorf von Albanern bewohnt war, verhielten sie sich gänzlich anders als im Kosovo. Der respektvolle Umgang mit Fremden, der uns dort bei ihnen so gut gefallen hat, fehlte hier völlig. Sie plärrten, schrien uns hinterher, wollten alles begrabbeln und verhielten sich insgesamt so, dass wir nur noch das Ziel hatten, so schnell wie möglich wieder aus dem Ort rauszukommen. Wir schlugen unser Zelt ein paar hundert Meter außerhalb auf einem versteckten Feld auf. Die anschließende Nahrungssuche verlief optimal, doch da wir noch immer keine Sonne und auch keinen Strom mehr hatten, musste ich noch einmal ins Dorf zurückkehren um eine Steckdose zu finden. Ich hätte nicht gedacht, dass dies so viel schwerer sein könnte. Meine Nahrungsspender waren inzwischen ausgegangen und stattdessen traf ich nur ihre Nachbarn. Es handelte sich um eine Gruppe Jugendliche, die mir auf ihre Art zwar wohl auch irgendwie helfen wollten, die ich jedoch nicht richtig verstand. Das laute Anschreien in der Art von „Ey! Du! Was willste? Komm her! Hast du Problem oder was?“ kam bei mir einfach nicht freundlich an, auch wenn es wahrscheinlich so gemeint war.

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Schließlich fand ich einen Opa, der mir einen Platz in seiner Garage anbot, in der es eine Steckdose hinter einem verstaubten Ölfass gab. Nach einer halben Stunde kam er zu mir und warf mich wieder raus. Es könne ja nicht angehen, dass ich den ganzen Tag hier verbrachte. Wenn ich Strom brauchte, dann sollte ich doch die fünf Kilometer in den Nachbarort laufen und dort bei der Polizeidienststelle fragen. Die könnten mir sicher weiterhelfen. Manchmal verstand ich die Menschen hier einfach nicht.

 

 

Spruch des Tages: Wer ist nur diese mysteriöse Australierin, von der hier alle Sprechen?

 

Höhenmeter: 390 m

Tagesetappe: 25 km

Gesamtstrecke: 12.510,27 km

Wetter: herliches Herbstwetter, nachts saukalt bei 3-4°C

Etappenziel: Cappucciner-Kloster, 87055 San Giovanni in Fiore, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Die Nacht laugte mich vollkommen aus und um halb sieben war ich so fertig, dass ich nicht mehr liegen konnte. Wir standen auf und packten zusammen. Ich spürte, dass ich dabei nicht der Schnellste war, doch dass wir genau eineinhalb Stunden brauchten, damit hätte ich dann doch nicht gerechnet.

Am liebsten wäre mir heute eine kurze Strecke gewesen, bei der ich mich anschließend ausruhen und entspannen konnte. Doch offensichtlich brauchte ich für meinen Heilungsprozess etwas anderes, denn ein kurzer Tag war uns nicht vergönnt. Im Gegenteil, die Wanderung wurde eine der längsten, die wir in den letzten Tagen überhaupt zurückgelegt hatten. Es begann gleich mit der Erkenntnis, dass unser Weg eine Sackgasse war und wir noch einmal umkehren und in den Ort zurückgehen mussten. Dort fragten wir dann nach dem Weg. Die ersten beiden Männer, die behaupteten es gäbe keinen hielten wir noch für verrückt und dämlich, doch als uns auch die vierten und fünften Einheimischen erklärten, dass es keine Straße in den Nachbarort gab, begannen wir ihnen zu glauben. Der Ort war gerade einmal vier Kilometer entfernt, doch es gab wirklich keine Verbindung. Nicht einmal einen Feldweg. Nur die Straße, die durch die Baumschule führte und die war komplett gesperrt.

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Die einzige Möglichkeit, die uns blieb war es, der Hauptstraße nach Nordwesten zu folgen. Dies war so in etwa genau die entgegengesetzte Richtung von der, in die wir eigentlich wollten. Nach etwa fünf Kilometern trafen wir dann auf eine noch größere Hauptstraße, die uns dann direkt nach Tetovo führte, eine der größten Städte im Umkreis. Bei meiner Wegführung hatte ich nicht ohne Grund einen großen Bogen um sie herum gemacht, doch nun blieb uns keine Wahl. Ohne richtige Karte, nur mit ein paar vagen Linien auf einer Landesübersicht manövrierten wir uns durch die grässliche Großstadt. Es stank nach verwesendem Abfall, verbranntem Plastik, Auspuffgasen und Verderben. Der Smog hing wie ein dichter Nebel in den Straßen und wenn mir nicht eh schon schlecht gewesen wäre, dann hätte dieser Gestank sicher für Übelkeit gesorgt. Alles wirkte trostlos und heruntergekommen, die Häuser waren verfallen, die Straßen waren voller Schlaglöcher und man versank buchstäblich im Dreck. Dazu herrschte ein Lärm wie neben einer Raketenabschussrampe. So sehr hatte ich mich an diesem Tag nach einer ruhigen Wanderung mit etwas Sonne und frischer Luft gesehnt, doch davon war weit und breit nichts zu sehen. Sogar das Fußballstadion wirkte deprimierend. Es sah aus, als würden hier keine Fußballspiele sondern Gladiatorenkämpfe und öffentliche Hinrichtungen abgehalten. Erst als wir die Stadt schon fast wieder verlassen hatten, wurde es etwas besser. Hier war es zwar noch immer ungemütlich und es stank zum Himmel, aber dafür gab es ein einziges prunkvolles Gebäude. Es handelte sich um die Uni und wir fragten uns sicher für die nächsten drei Kilometer, wieso wohl ausgerechnet die Uni als einzige ein schönes Gebäude bekommen hatte.

Bei all den Unannehmlichkeiten, die uns die Stadt bescherte, war ich am Ende aber doch stolz auf mich, dass ich es geschafft hatte, uns mit dieser groben Übersichtskarte genau in die Straße zu lotsen, auf der wir die Stadt wieder verlassen wollten. Auf diese Weise schaffte es Tetovo dann doch noch, dass ich sie mit einem guten Gefühl verließ.

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Leider war auch die relativ kleine Nebenstraße noch immer grausam und wurde von Müllbergen und lautem Schwerlastverkehr geprägt. Direkt hinter dem Ortsausgang, zwischen Autobahn und Zugstrecke befand sich ein Hotel, das aufgrund seiner Lage so aussah, als könnte es ein bisschen Werbung gebrauchen. Es war sicher nicht der schönste Ort der Welt, aber für eine Nacht würde es schon gehen. Meine Beine und mein Kreislauf hatten jedenfalls fürs erste genug.

Der Mann an der Rezeption begrüßte mich freundlich, erklärte aber, dass auch er nur mazedonisch sprach. Also versuchte ich zunächst einmal, ihm unseren Text vorzulegen, den wir für solche Fälle vorbereitet hatten. Er brauchte eine Gefühlte halbe Stunde um ihn zu entziffern und am Ende musste er zugeben, dass er überhaupt nicht lesen konnte. Dafür sprach er nun plötzlich Deutsch, was die ganze Angelegenheit wieder um einiges vereinfachte. Durch das ewige Warten am Tresen der Rezeption spürte ich, wie mein Kreislauf wieder nachgab und allmählich wurde mir schwarz vor Augen. Um ein Haar hätte ich dem armen Mann direkt vor deinen Tresen gekotzt, doch ich konnte mich gerade noch zurückhalten.

„Tut mir leid!“ sagte ich schnell, „aber ich muss mich erst einmal hinsetzen.“

Neben der Rezeption stand ein weißes Sofa, auf dem ich mich nun niederließ. Einen Moment lang saß ich nur schweigend da, dann fühlte ich mich wieder kräftig genug, um dem Mann den Grund meines Hierseins zu erklären.

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„Ok,“ sagte er, „da muss ich erst einmal meinen Chef anrufen!“

„Kein Thema!“ antwortete ich, „wenn du mir vorher sagst, wo ich hier ein Klo finde!“

Er wies mich an, einfach in eines der Zimmer zu gehen, was ich dann auch sehr erleichtert tat. Als ich bemerkte, dass es hier kein Klopapier gab und dass ich auch meinen Waschlappen nicht bei mir hatte, war es bereits zu spät. Ich musste also auf die traditionell islamische Methode zurückgreifen und Wasser sowie meine eigene Hand benutzen. Glaubt mir, ich hätte mir wirklich etwas Schöneres vorstellen können, aber wo man durch muss, muss man durch. Immerhin gab es noch Seife auf dem Zimmer.

Bereits von Weitem konnte ich dem Mann ansehen, dass er bei seinem Chef keinen Erfolg gehabt hatte. Wir mussten also weiter ziehen.

Vom Hotel aus kamen wir in ein langgezogenes Dorf, dann in ein weiteres und anschließend auf eine lange Fläche voller Felder. Erst dann fanden wir einen Platz, der abgeschieden genug war um unser Lager aufzubauen. Ein paar Zeilen versuchte ich noch zu tippen, doch die meiste Zeit schrieb ich schon mit geschlossenen Augen.

Am nächsten Morgen fühlte ich mich bereits wieder etwas besser. Wir wanderten weiter in Richtung Süden und kamen dabei immer näher an die Bergkette, die diese Flachebene begrenzte. Heute war also der letzte Tag, an dem wir noch eben laufen konnten. Morgen ging es wieder bergauf und bis dahin sollte ich spätestens wieder fit sein. Spannenderweise schien es, als sei sich mein Körper dessen vollkommen bewusst. Er hatte sich genau die Zeit zum Schlappmachen ausgesucht, in der es kein Problem gewesen war. Auch bei Heiko war es zuvor ähnlich gewesen. Einen Tag, nachdem es ihm wieder gut ging, waren wir in die Berge gekommen.

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Am Nachmittag schlugen wir unser Zelt etwas außerhalb eines Dorfes auf. Vor uns lag eine weitere große Stadt, durch die wir am nächsten Tag hindurchschreiten mussten. Näher an die Berge heranzukommen, war also nicht möglich. Ungünstiger Weise lag unser Lager dieses Mal genau im Zentrum zwischen fünf verschiedenen Moscheen, von denen alle zeitgleich aber leicht versetzt der Muhizin zu schreien begann. Von einem einzigen Turm waren die arabischen Gebete für unsere Ohren schon nicht gerade angenehm, aber aus fünf Richtungen gleichzeitig wurde es der reinste Katzenjammer. Irgendwie konnten wir in diesem Moment verstehen, dass der Islam nicht gerade die beliebteste aller Religionen der Welt war und dass sich so viele Menschen gegen den Bau einer Moschee in ihrer Nähe aussprachen. Doch etwas anderes fiel uns an diesem Tag noch auf. Im Kosovo hatten wir nahezu keine Moschee gesehen, obwohl das Land rein muslimisch war. Hier jedoch standen sie wieder dicht gedrängt und das meist demonstrativ als Kontrapunkt zu den Kirchen. Denn auch Kirchen gab es hier nun wieder deutlich mehr, wohingegen man in Serbien wirklich aufmerksam danach suchen musste. Es war fast wie ein religiöses Wettrüsten zwischen der christlichen und der islamischen Kirche. So als ob beide Parteien zeigen wollten, dass sie die größere Macht und die besseren und gläubigeren Anhänger hatten.

Am nächsten morgen machte ich eine unangenehme Entdeckung. Die Algen-Tabletten, die wir nach ihrem unfreiwilligen Wasserbad immer wieder getrocknet hatten, waren schimmelig geworden. Für mich hatte es so ausgesehen, als hätte ich sie beim letzten Mal vollständig getrocknet, doch anscheinend war das nicht der Fall gewesen. Durch die Ereignisse der letzten Tage mit Heikos und meiner Magenverstimmung hatte ich dann nicht mehr daran gedacht, sie regelmäßig zu kontrollieren und so hatte sich der Schimmel bereits auf fast die Hälfte der Tabletten verbreitet. Einen Teil konnten wir noch retten, doch für viele war es bereits zu spät. Wieder kam das Thema des Loslassens in mir auf. Die Tabletten waren ein Hilfsmittel zur Ausleitung von Giftstoffen und ich empfand sie als äußerst wichtig, um mich regenerieren zu können. Gleichzeitig waren sie auch recht teuer gewesen und gerade in letzter Zeit hatte ich immer wieder das Gefühl, dass mir Materialien und Geld nur so durch die Finger rannen. Irgendwie blockierte ich den Fluss des Wohlstandes. Ich hatte Angst davor, Dinge zu verlieren, die ich nicht ersetzen konnte und so produzierte ich genau die Situationen, die mir diese Angst bewahrheiteten. Wie aber konnte ich das ändern? Wie konnte ich die Blockade lösen, die verhinderte, das Dinge auf uns zukamen und wie konnte ich die Angst loslassen, dass ich alles wichtige verlieren würde? Annehmen und loslassen, das war eigentlich schon alles. Aber es ist immer leichter gesagt als getan.

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Und andererseits...

In vielen Bereichen klappte es ja schon hervorragend. Der eine Tag im Hotel beispielsweise hatte dazu geführt, dass wir mit unseren Sponsoren Kontakt aufnehmen konnten und allein durch vier E-Mails nun neue Reifen für unsere Wagen, neue Regenjacken, eine neue Handyhülle und ein neues Multitool bekamen. Blockierte ich den Fluss überhaupt so sehr oder glaubte ich es nur, weil ich mich auf den Mangel, anstatt auf die Fülle konzentrierte?

Der Weg durch die Stadt war in etwas so grausam, wie wir ihn erwartet hatten, doch zu unserem Erstaunen wurde die anschließende Hauptstraße verhältnismäßig ruhig. Auf ihr ging es nun auf direktem Weg in die Berge. Fast 800 Höhenmeter legten wir zurück, bevor wir auf eine Seitenstraße abbiegen konnten, die uns dann noch ein gutes Stück weiter nach oben führte. Kaum hatten wir die Berge erreicht, verwandelte sich das Bild von Mazedonien noch einmal völlig. Die Flachebene war laut und größtenteils stark vermüllt gewesen. Auch wenn es viele Felder gegeben hatte, waren die großen Städte doch immer irgendwie Präsent gewesen. Die Berge jedoch hatten sofort etwas beruhigendes, ursprüngliches und sie fühlten sich fast ein bisschen wie ein nach Hause kommen an. Hinter dem Pass lag ein gewaltiger Bergsee, der einen sofort jede Anstrengung vergessen ließ.

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Der erste Ort, in dem wir Rast machen konnten, war gute dreißig Kilometer entfernt. Als wir ankamen war es schon wieder kurz davor dunkel zu werden. Man merkte wirklich, dass es Herbst wurde und dass die Tage immer weniger Stunden hatten. Der Ort selbst war klein und bestand fast nur aus Restaurants und Cafés, die sich am Ufer des Sees aneinander reihten. Unser Zelt schlugen wir direkt unterhalb des Ortes am Wasser auf. Aus einem Grund, den wir bis heute nicht nachvollziehen können, war der Strand anders als die Hauptstraße nicht für die Touristen aufbereitet worden. Hier gab es nur einen Schrottplatz, eine Müllhalde und ein paar halbverfallener Häuser. Schön war es hier nicht, aber es bot genügend Schutz um ungesehen zu bleiben. Vor allem, bei einem so ungemütlichen Wetter wie diesem.

Noch einmal ging ich in den Ort zurück und fragte in den Restaurants nach einem Abendessen. Große Beute machte ich dabei nicht, aber ich bekam einen seltsamen Burger, der vor allem mit kalten Pommes gefüllt war. Beim Wasserholen an der Kirche traf ich eine junge Frau, die gerade mit ihrem Fahrrad unterwegs war. Trotz ihrer vielen Piercings wirkte sie recht konservativ, fast ernsthaft. Sie kam ursprünglich aus Australien, lebte aber mit ihren Eltern in Israel und war nun schon eine ganze Weile unterwegs. Auf ihrer Tour war sie unter anderem durch Rumänien und Bulgarien gekommen und hatte in diesen Ländern sehr gute Erfahrungen gemacht. Über den Syrienkonflikt konnte sie jedoch nur wenig erzählen.

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Da es wieder zu regnen begann und sie noch ein gutes Stück vor sich hatte, verabschiedeten wir uns recht schnell wieder. So gerne wir uns auch unterhalten hätten, es war einfach zu ungemütlich um länger stehen zu bleiben.

Bald schon begann der Regen wieder genauso heftig wie in den Nächten zuvor. Man lebt jedoch nicht nur vom Pommesburger allein und so blieb uns nichts anderes übrig, als der Nässe zu trotzen und unser Abendessen im Regen zu kochen.

 

 

Spruch des Tages: So vermüllt und schon ein Nationalpark

 

Höhenmeter: 430 m

Tagesetappe: 23 km

Gesamtstrecke: 12.485,27 km

Wetter: herliches Herbstwetter, nachts saukalt bei 4°C

Etappenziel: Gemeindehaus der Kirche, 88825 Savelli, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

In der Nacht träumte ich immer wieder von meinem kaputten Wagen und davon, dass ich irgendwo in der Walachei damit liegen blieb. Es war, als würde der Wagen, der draußen noch immer unfertig auf dem Kopf lag, in meine Träume kriechen um mir ein schlechtes Gewissen zu machen, weil ich mich nicht bis zum Schluss um ihn gekümmert hatte.

Gleich am nächsten Morgen holte ich dieses Versäumnis nach. Das Problem war nur, dass ich nun neue Scheiben brauchte, mit denen ich die Räder fixieren konnte. Wir hatten zwar eigentlich alles an Material dabei, was wir zum reparieren brauchten, doch aus irgendeinem Grund schienen gerade die nötigen Beilagscheiben zu fehlen. Die einzigen, die ich finden konnte, hatten ein Loch, das zu klein für meine Achse war. Also machte ich mich auf in die nächste Ortschaft und suchte nach einem Anwohner mit einer Bohrmaschine, der bereit war, mir zu helfen. Gleich beim zweiten Haus wurde ich fündig. Der Mann sprach sogar deutsch, weil er lange Zeit in der Schweiz gelebt hatte und er stützte meine Theorie, dass fast alle Handwerker hierzulande einige ihrer Lebensjahre in deutschsprachigen Ländern verbracht hatten. Leider besaß er keinen passenden Bohrer und sein Schraubstock hatte etwa die Größe eines Fingerhutes, aber es war zumindest schon einmal eine Basis, mit der man arbeiten konnte. Mit Schraubstock und Rohrzange hielten wir die Scheibe fest, während immer einer von uns ein Loch hineinbohrte. Dabei musste man jedoch aufpassen, dass man die Bohrmaschine mit dem Griff zur Seite drehte, denn in jeder anderen Position setzte der Motor aus und sie tat keinen Mucks mehr.

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Nach einer guten Stunde und der Hilfe von verschiedenen Bohrern und Feilen gelang es uns dennoch vier brauchbare Scheiben herzustellen. Ich bedankte mich bei meinem Helfer und Kollegen und kehrte zu unserem Lager zurück. Als ich ankam wanderte gerade eine Kuhherde mitten durch unser Camp, ein Anblick über den ich mich bereits nicht einmal mehr wunderte. Früher hatten mir die großen Tiere mit ihren langen, spitzen Hörnen oft Angst gemacht, wenn sie mir zu nahe kamen und sich kein Zaun zwischen uns befand. Seit wir den Balkan erreicht hatten war ihre Anwesenheit so normal geworden, dass ich sie genauso behandelte, wie einen Hund oder eine Katze. Wenn sie einen störten, dann ging man auf sie zu und scheuchte sie ein Stückchen weiter, so wie man es in Großstädten auch mit Tauben macht. Ein Gefühl von Unbehagen war nun längst schon nicht mehr dabei.

Es war bereits kurz nach 12:00 Uhr am Mittag, als wir alles repariert und abgebaut hatten. Die Sonne verschwand immer mehr hinter dicken schwarzen Wolken und es war höchste Zeit aufzubrechen, wenn wir nicht mitten in einen heftigen Regenschauer geraten wollten. Unser Weg führte uns zunächst über eine schmale Schotterstraße noch ein Stück weiter den Berg hinauf und dann auf der anderen Seite wieder hinunter. Teilweise war die Straße komplett versperrt und verschüttet, so dass wir über Geröllfelder, umgestürzte Bäume und Haufen von Schutt und Kies hinwegsteigen mussten, um weiterzukommen. Am Himmel brauten sich die Wolken zu einer unheilvollen schwarzen Masse zusammen, die ohne jeden Zweifel bald in einen Gewittersturm übergehen würde. Wenn wir dabei nicht vollkommen im Schlamm versinken wollten, dann mussten wir diesen Teil der Wegstrecke hinter uns gelassen haben, bevor es soweit war.

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Als hätte das Wetter unsere Bitte erhört, wartete es mit dem Regen noch genau bis zu dem Moment, in dem wir wieder festen Asphalt unter den Füßen hatten. Dann fielen die ersten Tropfen. Vor uns lag nun die letzte Ortschaft vor der Grenze. Sollten wir also hier bleiben und unser Zelt aufschlagen? Wenn ja, dann mussten wir uns tierisch beeilen, denn wenn der Regen einmal angefangen hatte, hatten wir keine Möglichkeit mehr, noch irgendetwas trocken unterzubringen. Als ein kleiner Laden auftauchte entschieden wir uns endgültig dagegen. Stattdessen fragten wir lieber nach einem Picknick und genau in dem Moment, als wir das Vordach des Ladens erreichten, prasselte der Regen auf die Erde hernieder. Der Ladenbesitzer bot uns an, auf einem Sofa neben seiner Eingangstür Platz zu nehmen und brachte uns etwas Obst. Brot hatte er nicht, doch anstatt uns zuzumuten dass wir darauf verzichten mussten, rannte er durch den Regen zu einem anderen Laden und besorgte sich dort ein Baguette, dass er uns anschließend schenkte. Dazu gab es Käse und Wurst. Besser hätten wir den Regenschauer also nicht überwinden können.

Nach dem Essen warteten wir noch eine knappe halbe Stunde, bis es sich einigermaßen beruhig hatte, dann zogen wir weiter zur Grenze.

Und genau in dem Moment, in dem wir die Grenze überschritten, hörte der Regen plötzlich auf.

„Wie funktionierte das denn?“ fragten wir uns. Gab es eine Art internationales Abkommen, dass es den Wolken aus dem Kosovo verbot, über die Grenze nach Mazedonien einzureisen?

Auf unserem Weg zur mazedonischen Seite der Grenze kamen wir an einer Art Wasserbecken vorbei. Autos, die von einem Land ins andere wechselten mussten dort hindurchfahren, wahrscheinlich, damit der Unterboden von möglichen Keimen oder ähnlichem gereinigt wurde. Jedes Mal, wenn ein Auto durch dieses Becken fuhr, gab es eine ordentliche Fontaine, mit der das Wasser zu beiden Seiten herausspritzte.

„Das ist ja cool!“ kommentierte Heiko und wollte sofort ein Foto machen. Er drehte also um und zückte die Kamera um auf das nächste Auto zu warten. Genau in diesem Moment erschien der mazedonische Grenzposten in unserem Sichtfeld und schaute uns misstrauisch an. Sofort kam er mit schnellem Stechschritt auf uns zu marschiert und fragte uns, was wir denn hier anstellten.

„Mein Kollege will nur ein Foto von dem Auto dort machen, wenn es durch die Wasserpfütze fährt!“ erklärte ich freundlich.

„Aha!“ sagte der Mann, der diese Idee nicht sonderlich beeindruckend fand, „Und wo kommt ihr her?!“

„Aus dem Kosovo!“ antwortete ich und deutete auf das entsprechende Grenzhäuschen.

Plötzlich fing der Mann an zu lächeln und gab seine ernste, missgünstige Haltung auf.

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„Ach so!“ sagte er, „ich dachte, ihr seit gerade von dort aus dem Wald gekommen und hatte schon Angst ihr versucht euch illegal ins Land zu schmuggeln. Aber wenn das so ist, dann macht nur schnell euer Foto und kommt mit zur Passkontrolle!“

Man mag über Mazedonien sagen, was man will, aber dass sie einem keinen freundlichen Empfang bereiten, kann man ihnen nicht vorwerfen. Unser erster Eindruck von dem Land war durchweg positiv und wenn es so weiter ging, dann wurde es sicher ein schöner Aufenthalt.

Leider schützte uns die Grenze am Ende doch nicht vor den Regenwolken. Es blieb noch eine ganze Zeit lang trocken doch bald schon kam auch hier das Gewitter herüber und beschenkte uns mit einem heftigen Regen. Als wir unser Zelt aufbauten, war es schon fast dunkel. Wir entdeckten eine etwas versteckte Apfelwiese zwischen zwei aneinander liegenden Dörfern, auf der wir unser Lager errichten konnten. Bei meiner anschließenden Essensrunde stellte ich fest, dass das Mazedonische bereits wieder sehr nah ans Serbische herankam. Ich konnte mich also wieder deutlich leichter verständigen, als im Kosovo.

Es regnete die ganze Nacht durch, doch als wir am Morgen aufstanden war es wieder trocken. Wir wanderten über kleine Feldwege mitten durch eine weite Flachebene, die sich landschaftlich nicht besonders vom Kosovo unterschied. Langsam aber sicher kam immer mehr eine Herbststimmung auf. Das Jahr neigte sich dem Ende zu und der Sommer schien nun endgültig vorbei zu sein. Als wir eine kleine Stadt erreichten, stellten wir fest, dass diese zum ersten Mal seit langem sogar wieder ganz nett aussah und dass man sogar recht angenehm durch sie hindurch schlendern konnte. Alte Erinnerungen wurden in uns wach. Dass es tatsächlich einmal eine Zeit auf unserer Reise gab, in der wir uns Städte angeschaut hatten und dies auch noch gerne und freiwillig, konnten wir uns kaum noch vorstellen.

So plötzlich wie die Stadt vor uns aufgetaucht war, so plötzlich war sie auch wieder verschwunden. Die Straße wurde wieder zu einem Feldweg und weiter ging es durch das Hinterland bis in die nächste kleine Ortschaft. Nachdem wir auch diese verlassen hatten, kamen wir mitten in eine Baumschule in der vor allem Garten- und Zierpflanzen großgezogen wurden. In den Reihen mit den Buchsbäumen standen Maschinen, die über das komplette Feld fuhren konnten und die Bäume vollautomatisch in ihre typische, kugelrunde Form brachten, die man von Parks und Stadtgärten kennt.

„Stopp!“ rief ein Mann aus dem offenen Fenster eines Autos heraus, das uns entgegen kam. „Ihr könnt ihr nicht durchgehen! Da vorne endet der Weg und ihr kommt dort nicht weiter!“

Meine Karte meinte zwar etwas anderes, aber vielleicht hatte ich mich ja auch vertan. Immerhin waren wir kurz zuvor durch ein Tor geschritten und die Chancen standen nicht schlecht, dass die Männer Recht hatten. Also kehrten wir um und versuchten den Weg, der neben der Baumschule entlang führte. Dass dieser ebenfalls im Nichts endete und dass die Baumschule wirklich die einzige Verbindung zwischen dieser und der Nachbarsortschaft war, sollten wir erst am nächsten Morgen herausfinden. Denn für heute reichte es uns mit der Wanderung uns so beschlossen wir unser Zelt gleich nebenan in einem Maisfeld aufzubauen.

Da es noch immer bewölkt war und wir mit unseren Stromreserven weitgehend am Ende waren, kehrte ich noch einmal ins Dorf zurück um dort nach einer Stromquelle zu suchen. Der Besitzer eines kleinen Gemischtwarenladens ließ mich an einem Tisch im hinteren Teil seines Geschäftes arbeiten. Ich schrieb an diesem Tag über das Thema von Paulina, bei dem es ums Erkennen, Aufwachen und anschließend wieder Einschlafen ging, um erneut in den alten Mustern zu landen. Zunächst bemerkte ich es nicht, doch diese Themen, die ich von mir selbst nur allzu gut kannte, nahmen mich deutlich mehr mit, als ich es für möglich gehalten hätte. Obwohl es noch immer recht warm war, bekam ich beim Schreiben eine Gänsehaut und später wurde mir sogar so kalt, dass ich einen leichten Schüttelfrost bekam. Ich zitterte bereits am ganzen Körper, wollte aber den Text unbedingt noch fertig schreiben und versuchte meinen Kälteschub daher zu unterdrücken. Im Nachhinein betrachtet war das sicher nicht die schlauste Idee die ich jemals hatte, denn für den Rest des Tages wurde ich den Schüttelfrost nicht mehr los. Ich zitterte wie ein Schlosshund als ich mich wieder auf den Weg zum Zelt machte und auch meine kurzen Joggingeinlagen konnten nichts daran ändern. Nur wenn ich mich wirklich entspannte und mich ganz bewusst auch die Wärme in meinem Inneren konzentrierte, hörte das Zittern auf. Sobald ich aber nur ein bisschen die Konzentration verlor, war ich wieder beim Alten.

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Sofort legte ich mich in meinen Schlafsack und hüllte mich in alles ein, was ich finden konnte. Nach einer guten halben Stunde, die ich mich im Schlafsack aufgewärmt hatte, stand ich noch einmal auf um zu kochen. Doch essen konnte ich nichts, denn zur Kälte kamen nun auch noch Magenkrämpfe hinzu und im Laufe des Abends wurden die Symptome immer heftiger. Ich war nun auf dem gleichen Stand wie Heiko vor unserem Hotelaufenthalt. Mir war übel und schwindelig und ich hatte einen Durchfall, wie er heftiger kaum vorstellbar war. Am Ende kam nur noch ein grüner Schleim heraus, der nicht so aussah, als hätte er überhaupt irgendetwas in meinem Darm verloren gehabt. Heiko bestätigte aber, dass es bei ihm vor ein paar Tagen genau das gleiche gewesen war. Die Nacht über musste ich immer wieder nach draußen um eine Sauerei im Schlafsack zu verhindern und wie zuvor Heiko hatte nun auch ich mit dem Problem zu kämpfen, dass dadurch jedes Mal meine Kälteattacken wieder anfingen. Vor allem aber wurde mir bei jeder Bewegung schlecht, was irgendwie ungünstig war, wenn man aus einem Zelt krabbeln musste. Kurz vor dem Morgengrauen ging mir dann auch noch mein Waschlappen verloren, den ich zum Hintern abwischen benutzte. Eine Weile versuchte ich, ihn in der Dunkelheit wieder zu finden. Dann gab ich es auf und hoffte einfach, dass mein Darm nun bis zur Dämmerung durchhalten würde.

Trotz der enormen Kälte verspürte ich die Nacht über immer wieder eine große Hitze in der Mitte meiner Brust. Irgendetwas ging in mir vor. Es war keine einfache Magen-Darm-Erkrankung. Etwas arbeitete in mir. Und zwar ordentlich!

 

 

Spruch des Tages: Wieder ein neues Land

 

Höhenmeter: 260 m

Tagesetappe: 27 km

Gesamtstrecke: 12.462,27 km

Wetter: überwiegend sonnig

Etappenziel: Altes Pfarrhaus, 87061 Campana, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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