Tag 939: Zurück nach Rumänien

von Heiko Gärtner
01.09.2016 01:25 Uhr

08.07.2016

In der Nacht kehrte ich noch einmal in den Ort zurück, um die letzten Korrekturen am Buch vorzunehmen und es dann abzuschicken. Dabei landete ich in der einzigen Bar des Ortes. Zunächst war es hier still und einsam, doch dann begann das Fußballspiel Deutschland gegen Frankreich und schon war der Teufel los. Etwas abstrakt war es ja schon, dass ich als einziger Deutscher unter dreißig Fußballfans saß, die alle für Deutschland waren und dass ich als einziger keinerlei Interesse an dem Spiel hatte. Erst als es vorbei war warf ich einen kurzen Blick auf den Fernseher und nahm wahr, dass uns die Franzosen mit 0:2 abgezogen hatten. Dies war übrigens insgesamt mein einziger Kontakt mit der Fußball-EM in diesem Jahr.

Nach Ende des Spiels schloss die Bar und ich musste im Freien weiterarbeiten. Da ich das Internet brauchte um unsere weitere Strecke durch Rumänien zu planen, blieb ich vor der Tür sitzen. Doch es dauerte nicht lange, da stieg ein besoffener Mann aus einem Taxi aus und begann mich zu belästigen. Er war nicht unfreundlich aber aufdringlich und unangenehm. Ich versuchte mit allen Mitteln, ihm klar zu machen, dass ich alleine sein wollte, doch er war absolut immun dagegen. Ich bat ihn höflich, ich schrieb ihm ein paar Zeilen in den Google-Translater, ich schnautzte ihn an, drohte ihm, schlug mit der Hand auf den Boden, behandelte ihn wie einen Hund und versuchte, ihn zu ignorieren. Doch nichts half. Mehrfach meinte er, dass er jetzt gehen würde, doch immer fand er einen Grund, zurückzukommen, sich wieder neben mich zu setzen und alles von vorne beginnen zu lassen. Schließlich kam ein anderer Mann die Straße entlang, der den ersten zu kennen schien. Für einen Moment hatte ich die Hoffnung, dass er seinen Kollegen zur Vernunft bringen und mitnehmen würde. Doch er war mindestens genauso betrunken und setzte sich nun auf die andere Seite von mir. Ich begann zu schnauben. Was sollte ich mit diesen Kerlen nur anstellen? Sollte ich sie erschlagen oder mit meinem Pfefferspray besprühen? Mein Gefühl sagte mir, dass genau dies die richtige Reaktion gewesen wäre. Doch die Stimme der Angst hielt mich davon ab. Was, wenn sie mich überwältigten? Oder was war, wenn ich sie wirklich verprügelte, sie aber die Polizeit riefen? Ich entschied mich also gegen den Angriff und für die Flucht. Laut schimpend und fluchend packte ich meine Sachen zusammen und verschwand in der Dunkelheit. Unter einem Baum erledigte ich dann zunächst die Arbeiten, die ich auch ohne Internet erledigen konnte. Dann kehrte ich zu meinem Platz zurück. Die beiden Saufbolde waren verschwunden. Doch nun stellte ich fest, dass das Internet nicht mehr funktionierte. Kaum hatte ich das realisiert, kam schon wieder ein junger Mann auf mich zu, der mich anlabern wollte. Sofort ging ich in die Verteidigungshaltung, doch dieses Mal stellte ich fest, dass er nüchtern und freundlich war. Auch er hatte das Internet hier nutzen wollen und da es nicht funktionierte, führte es mich zu einem anderen Ort, an dem es einen offenen Zugangspunkt gab. Auf dem Heimweg wurde mir klar, dass auch diese Situationen nicht ohne Grund in mein Leben getreten waren. Die ersten beiden zeigten mir noch einmal deutlich, wie unmöglich ein Mensch wurde, wenn er nicht er selbst war. In diesem Fall war es der Alkohol gewesen, der ihre Persönlichkeit verändert und ihr wahres sein in einen Käfig gesperrt hatte. In meinem Fall war es mein Verstand gewesen. Aber machte das wirklich einen Unterschied? Der Junge dann hatte mir gezeigt, dass es wichtig war, offen zu bleiben und nicht schon im Voraus rückschlüsse aus negativen Erfahrungen zu ziehen.

Am nächsten Morgen stellten wir fest, dass der Teer unter unserem Zelt durch die Sonnenwärme teilweise geschmolzen war. Nun klebte er an unserer Plane, an den Schuhen, an unserem Kochersystem und sogar an den Reifen unserer Wagen. Meiner war einen guten Zentimeter tief in das schwarze Schweröl eingesunken. Die nächsten Kilometer konnten wir auf einer schönen, einsamen Straße wandern, von der wir uns wünschten, dass alle Straßen in diesem Land so waren. An ihrem Ende lag die letzte größere Stadt vor der Grenze. Sie war ein grauenhafter Ort, bei dem wir uns wieder einmal nicht erklären konnten, wie überhaupt ein Mensch hier leben konnte. Vor allem aber verstanden wir nicht, warum alle Menschen aus dem gesamten Umkreis tagtäglich zum Shoppen und Bummeln hier her pilgerten. Es gab nur die gleichen Minimärkte wie überall sonst auch und es existierte nicht einemal eine echte Fußgängerzone. Wir fanden weder ein Hotel noch ein Einkaufszentrum und konnten nicht einmal einen neuen Zigarettenanzünder für unser Solarsegel kaufen. Als wir auf die Hauptstraße stießen, zog gerade eine Prozession an uns vorbei. Zunächst dachten wir, dass es vielleicht ein orthodoxer Feiertag war, doch dann erkannten wir, dass es sich bei dem Umzug um eine Beerdigung handelte. Hinter dem Pfarrer und den Weihrauchschwenkern fuhr ein offener Pick-Up auf dessen Ladefläche die Leiche einer alten Frau lag. Sie befand sich nicht in einem Sarg und war auch nicht abgedeckt, sondern lag einfach von ein paar Blumen umgeben auf der Ladefläche. Ihr Gesicht war bereits von einer Schicht Leichenwachs überzogen und die Haut war getrocknet und eingefallen. Sie musste mindestens seit drei oder vier Wochen tot sein und war bereits zur Hälfte Mumifiziert. Das Alles spielte sich mitten im Hauptverkehr ab. Von allen Seiten rasten die Autos an der Prozession vorbei und verursachten einen Lärm, der es fast unmöglich machte, die Gebetsgesänge des Priesters zu hören. Auf dieser Straße blieben wir noch eine ganze Weile, bis wir schließlich in eine Art Innenstadtbereich ausweichen konnten. Hier war es ruhiger und erträglicher, da alles von einer Art Park umgeben war. Dafür waren die Nebenstraßen in diesem Bereich wieder vollkommen zerstört und bestanden zu großen Teilen nur noch aus Schotter und Sand. Auf den Straßen waren die Menschen gut gekleidet, gepflegt und wirkten durchaus wohlhabend. Die Häuser aus denen sie kamen waren jedoch halb verfallene, Massenwohnbunker aus Betonplatten. Wieder fragten wir uns, warum ein Mensch hier leben wollte. Das einzige, was uns als Grund einfiel, waren die kurzfristigen Ego-Befriedigungen, die man sich hier ergattern konnte. Es gab viele Menschen, also auch eine gute Chance, regelmäßig Sexpartner zu finden. Es gab Fressbuden, Läden zum Klamottenkaufen, Bars und Spielhallen. Alles also, was zur Suchtbefriedigung verhelfen konnte. Sonst gab es nichts.

Was die Fressbuden anbelangte, waren wir aber ebenfalls nicht abgeneigt und so fragten wir in einem Restaurant in einer Nebenstraße nach einer Pizza. Der Besitzer war nicht da, aber einer der Angestellten war von unserer Reise so begeistert, dass er uns die Pizza selbst ausgab. Er machte ein Foto mit uns und postete es bei Facebook. Sofort wurde eine Reporterin der Lokalzeitung auf den Post aufmerksam, die zwei Häuser weiter gelangweilt an ihrem Schreibtisch saß. Sie sprang auf, kam zu uns herüber und bat uns um ein Interview. So enstanden hier also die Zeitungsberichte. Unser Pizzaspender überredete uns dummerweise auch, ein berühmtes, russisches Malzgetränk zu probieren, das extrem viel Kohlensäure enthielt. Dadurch blähte sich mein Bauch so auf, dass ich den Rest des Tages kaum noch atmen konnte, was für unsere weitere Wanderung nicht gerade von Vorteil war. Nach der Stadt legten wir noch einmal zwölf Kilometer zurück, bis wir schließlich einen Schlafplaz finden konnten. Hier war es nun leider nicht mehr möglich, innerhalb der Ortschaften zu schlafen, da es hier nur so von gelangweilten Kindern und Jugendlichen wimmelte. Sie verfolgten uns sogar durch ein komplettes Dorf hindurch und starrten uns jedes Mal mit ausdruckslosen Gesichtern an, wenn wir uns zu ihnen umdrehten. Es war fast ein bisschen unheimlich. Während ich am Abend in eienr Bar Strom abzapfte, wurde Heiko noch einmal von Grenzpolizisten besucht. Sie waren jedoch weniger da, um ihn zu kontrollieren, sondern mehr, weil unser Zeltplatz ein beliebter Pausen- und Rauchplatz für sie war. Nach einem kurzen Gespräch, in dem sie erklärten, dass die Gegend nicht ganz sicher sei, sie aber nur bis um 3:00 Nachts auf uns achten konnten, brachten sie uns sogar noch ein bisschen Brot und Wurst. Später kam einer von ihnen bei mir in der Bar vorbei und fragte, ob ich auch sicher den Weg zurück zu meinem Zelt und meinem Kumpel finden würde.

09.07.2016

Heute war unser letzter Tag in Moldawien. Eigentlich hatten wir gehofft, dass es mit dem Grenzübertritt wieder leichter werden würde, doch das war zumindest fürs erste noch nicht der Fall. Im Gegenteil, solltes es einer der ansträngendsten Tage überhaupt werden. Bei 33°C im Schatten wanderten wir rund 40km, ohne irgendwo einen geeigneten Platz zum Zelten zu finden. Die letzten 12km bis zur Grenze mussten wir auf eienr viel befahrenen Straße wandern. Warum hier so viel Verkehr war, verstanden wir nicht, denn eigentlich war es noch immer die gleiche Straße, auf der wir uns bereits seit Tagen befanden. Doch die Grenznähe und die Anwesenheit der Stadt, die wir gestern durchquert hatten, sorgten wohl dafür, dass plötzlich jeder zum Fahr-Verrückten wurde. Allein Fahrschulen sahen wir ein bis zwei pro Minute. Gut, dass hier ohnehin bereits jedes Kind mit sechs Jahren das Auto seines Vaters fährt, denn die Fahrschule allein würde sie hier wohl kaum richtig vorbereiten. Das gesamte Land besteht fast nur aus Dirtroads, über die permanent besoffene Geisteskranke heizen und die Fahrstunden finden an der einzigen, geraden und asphaltierten Straße im Umkreis statt. Bereits bevor wir Moldawien betreten hatten, hatten wir begonnen, uns nach Olivenöl umzusehen, um unseren Sonnenschutz wieder aufzufüllen. Bislang waren wir damit gescheitert und nun hatten wir lediglich noch ein paar Läden Zeit, um dies zu ändern. Zumindest, wenn wir unser Moldawisches Geld dafür verwenden wollten. Doch es war unmöglich. Man konnte hier einfach kein Olivenöl kaufen, nur welches aus Sonnenblumenkernen. Während ich es in eienm kleinen Supermarkt versuchte, wurde Heiko Zeuge einer spannenden Begegnung zwischen zwei Busfahrern. Die Poizisten, die ihn gestern Nacht besucht hatten, hatten erzählt, dass das Hauptproblem hier im Grenzbereich der Zigarettenschmuggel war, durch den das Suchtmittel von Russland und der Ukraine nach Europa geschleust wurde. Deswegen war die Polizeipräsenz hier so hoch. Lustiger Weise endeten die Schichten jedoch immer gegen zwei Uhr Nachts. Danach wurde nichts mehr kontrolliert. Der Grund: Man hatte festgestellt, dass auch die Schmuggler ungerne zu so später Stunde arbeiteten und so lohnte sich die Polizeipräsenz um diese Zeit nicht. Ein Schelm, wer böses dabei denkt, denn mit Schmiegeldern hatte das sicher nichts zu tun. Stand vielleicht deswegen das Grafitti mit "No Mafia" an allen Wänden? Nun vor dem Supermarkt stellte Heiko jedoch fest, dass der Zigarettenschmuggel auf eine ganz andere Art von Statten ging, als man vermutet hätte. Eienr der Busse stammte aus Rumänien, der andere aus Moldawien. waren bis zum Rand mit Passagieren voll. Das hinderte die Fahrer jedoch nicht daran, den Motor abzustellen, auszusteigen und erst einmal ausgiebig zu Quatschen. Wie nebenbei tauschten sie bei dieser Gelegenheit auch eine ganze Reihe an Zigarettenstangen und Geld aus. Das Konzept war einfach: Jeder Fahrgast durfte legal eine Stange Zigaretten über die Grenze bringen. Tat er es nicht, konnte der Busfahrer das Kontingent nutzen und selbst eine Stange verstauen, von der er im Notfall behaupten konnte, dass sie einem Fahrgast gehörte. Für die Fahrgäste war dieses Prozedere vollkommen normal und in Ordnung. Niemand beschwerte sich über die Wartezeit und niemand machte sich Gedanken wegen des Schmuggels.

Die Grenze selbst war die erste ernstzunehmende Grenze, die wir auf unserer Reise passierten. Sie wirkte, als würden wir aus einer Militärdiktatur ausreisen oder zwishen zwei sich bekriegenden Ländern wechseln wollen. Vor der Grenze wartete eine Autoschange von fast einem Kilometer und die wenigen Beamten schienen wirklich jeden von ihnen genau unter die Lupe zu nehmen. Wir selbst wurden von einem aufgeplusterten und mies gelaunten Grenzbeamten abgefangen, der uns zu einem Punkt an einem Zaun führte und uns dort in der Sonne warten ließ. Seien Sprachgewandtheit beschränkte sich auf Rumänisch und ein bisschen Russisch. Wie es möglich war, dass ein Grenzbeamter, der ununterbrochen mit Menschen aller Nationalitäten zu tun hat, keine Fremdsprachen beherrschte, war uns jedes Mal wieder ein Rätsel. Gut dass wir einiges an Saft und Nüssen dabei hatten, denn es dauerte eine Weile, bis sie einen Englischsprachigen Beamten aufgetrieben hatten, der sich um uns kümmern konnte. Er war sogar noch etwas übellauniger und aufgeplusterter als sein Kollege. und begann gleich wieder mit einem Verhör. Für einen Moment glaubte ich, er wolle uns die Ausreise verbieten, so dass wir nun den Rest unseres Lebens in Moldawien verbringen mussten. Doch ganz so weit ging er dann doch nicht. Nachdem wir bestätigt hatten, dass wir weder Drogen noch Waffen bei uns trugen, brachte er uns über die Brücke zur rumänischen Grenze und übergab uns hier an die Kollegen des Nachbarlandes. Diese waren deutlich entspannter und machten sogar wieder ein paar lockere witze. Insgesamt dauerte der ganze Grenzübergang rund eine Viertelstunde. Hätten wir ein Auto bei uns gehabt, hätten wir locker drei Stunden in der prallen Sonne in der Schlange stehen müssen. Zu Fuß zu sein hatte also gewisse Vorteile.

Nun aber begann der wirklich anstrengende Teil des Tages. Hinter der Grenze ging die Hauptstraße mit dem gleichen Verkehrsaufgebot weiter, bis wir rechts in einen Feldweg abbiegen konnten. Zum ersten Mal an diesem Tag wurde es nun ruhig, wenn auch nur für wenige Minuten, denn nun kam ein heftiger Wind auf, der uns sofort wieder in den Ohren pfiff. Die Strecke belief sich auf gute zehn Kilometer und führte uns erst an einem Graben und dann an zwei Seen vorbei. Bäume gab es jedoch keine und so hatten wir auch hier keine Möglichkeit zum Zelten. Auch die nöchste Ortschaft machte es nicht besser. Zum einen weil sich die kleine Nebenstraße hier als ebenso stark befahren entpuppte, wie die Hauptstraße zuvor, zum anderen weil der Ort voll war von betrunkenen und gelangweilten Leuten, die nur darauf warteten, dass wir uns irgendwo niederließen, wo sie uns als Attraktion des Tages ansehen konnten. So planlos wie wir den Ort betreten hatten, verließen wir ihn auch wieder und nach weiteren vier Kilometern widerholte sich das gleiche Spiel mit dem nächsten Dorf. Die einzigen Bäume die es hier überhaupt gab, waren Rubinien, die mit ihren langen Dornen definitif kein geeigneter Zeltplatz waren. Und doch war es schließlich ein Rubinienhain oben an einem Schräghang über der Straße, an dem wir nächstigten, da es sonst keine Alternativen gab. Kaum hatten wir das Zelt aufgebaut, zog eine dicke Wolkendecke auf, die die Sonne verschluckte. Hätten wir dies gewusst, hätten wir auch jeden anderen Platz nehmen können, der einigermaßen eben war. Nun haben wir den wohl schrrägsten Schlafplatz, den wir je hatten. Als Highlight zum Schluss zog dann noch ein heftiges Gewitter auf und riss mit starken Windböen an unserem Zelt, so dass wir fürchteten, es würde einfach zerreißen.

Spruch des Tages: Na toll, leichter ist es hier auch nicht!

Höhenmeter: 450 m Tagesetappe: 46 km Gesamtstrecke: 16.739,27 km Wetter: sonnig und heiß Etappenziel: Zeltplatz auf dem Berggipfel über der Straße, kurz hinter 90630 Jassinja, Ukraine

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06.07.2016

Nach den letzten mehr oder minder schlaflosen Nächten schliefen wir heute erst einmal wieder richtig aus. Gleich im ersten Ort bekamen wir ein Eis und damit konnten wir dann wieder gut in den neuen Tag starten. Weit kamen wir allerdings nicht, denn schon nach wenigen Metern wurden wir von einem Grenzpolizisten gestoppt, der unse Personalien aufnahm und alles genau kontrollierte. Generell war es ja in Ordnung, dass er das tat, wenn es sein Job war, doch er ging dabei so herablassend und unfreundlich vor, dass auch wir bereits nach Minuten vollkommen genervt waren. Kaum hatte er sich verabschiedet, tauchte auch schon der nächste Streifenwagen auf und stoppte uns erneut. Vier Polizisten stiegen aus, die alle keine einzige Fremdsprache sprachen. Dafür hatten sie jedoch einen Jungen bei sich, der etwa 16 oder 17 Jahre alt war und für sie übersetzen musste. Zu seinem Leidwesen waren wir bereits mit unserer Geduld am Ende und hatten nun überhaupt kein Verständnis für die Spielchen der Beamten mehr. Einmal kontrolliert zu werden war ja noch ok, aber gleich zwei mal hinter einander und beide Male wie ein Verbrecher behandelt zu werden, das war ganz und gar nicht in Ordnung. Wir machten dem Jungen natürlich deutlich, dass unser Zorn nicht ihm sondern seinen uniformierten Kumpanen galt, doch er traute sich leider nicht alles von dem zu übersetzen, was wir ihm mitteilten.

"Warum brauchst du unsere Personalien, wenn dein Kollege sie doch gerade schon aufgenommen hat?" fragte ich ärgerlich. "Ich brauche sie nicht!" antwortete der Junge und deutete auf den Beamten, "Er braucht sie!" "Ich weiß!" sagte ich und musste nun schmunzeln, "aber warum braucht er sie?" Das konnte weder der Junge noch der Polizist beantworten. Doch bei den Personalien blieb es nicht: "Wo und wann seit ihr über die Grenze nach Moldawien gekommen? Wo wollt ihr nun hin? Wie lange bleibt ihr im Land? Wo habt ihr gestern übernachtet?" Es dauerte eine Viertelstunde, die wir fast reglos in der prallen Sonne stehen mussten. Dann waren wir endlich wieder frei. Doch kaum hatten wir die ersten paar Meter zurückgelegt, kamen die gleichen Polizisten schon wieder und stoppten uns erneut. Zunächst glaubten wir, dass sie sich bei uns für die Unannehmlichkeiten entschuldigen und uns vielleicht etwas zum Essen bringen wollten. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, das so etwas passierte. Doch sie dachten nicht im Traum daran. "Es tut mir leid!" sagte der Junge, "aber wir müssen euch noch einmal stören. Wir brauchen leider eine Liste mit allen Ortschaften, in denen ihr hier in Moldawien übernachtet habt." Zum Glück war dieses Land nur so klein und auf unserem Handy waren noch immer alle Karten gespeichert. So konnten wir mürrisch und wiederwillig der Bitte nachgehen. "Ich werde die Liste nun genau einmal vorlesen!" sagte ich, "Entweder ihr merkt sie euch oder schreibt sie mit, oder ihr vergesst es. Aber danach wollen wir für den Rest unseres Aufenthaltes nicht mehr belästigt werden!" Die Polizisten erklärten sich einverstanden und schrieben die Liste mit. Was sie nun damit machten blieb uns ein Rätsel. Doch wir wurden von nun an bis zur Grenze wirklich nicht mehr belästigt. Als wir uns am Nachmittag einen Platz suchten, stellten wir fest, dass wir ausgerechnet direkt hinter dem Präsidium unserer Grenzpolizisten gelandet waren. Nachdem sie uns den Tag über belästigt hatten, saßen wir ihnen nun also quasi auf dem Schoß. Lustigerweise bemerkten sie es aber nicht einmal. Zum Schreiben lehnte ich mich zunächst an einen Baum an, an dem auch ein weißes Pferd graste. Zunächst fraß es unbeirrt weiter, doch je länger wir uns einen Platz teilten, desto mehr akteptierte es mich als Spiegelpartner und schließlich begann es mit mir zu kommunizieren. Plötzlich entschied er sich ohne erkennbaren Grund genau an der Stelle zu grasen, die am weitesten von seinem Kettenpflock entfernt lag. Und zwar genau hinter mir. Seine Kette verlief nun also direkt über meine Beine.

"Hey!" rief ich, "Was ist denn mit dir los? Pass doch ein bisschen auf, wo du deine Kette hinziehst!" Erst später fiel mir auf, dass er das sehr wohl wusste. Er hatte mich nicht übersehen, sondern war ganz bewusst so gegangen um mich zu stören. Er zeigte mir auf diese weise genau das auf, was auch ich ständig tat. Das Gefühl der Unfreiheit brachte ihn und mich dazu, ständig um Aufmerksamkeit zu betteln und wenn es die im Positiven nicht gab, dann holte man sie sich eben im Negativen. Deutlicher hätte er es kaum sagen können: "Es ist die Kette, die dich selbst gefangen hält, also der Verstandeskäfig in deinem Kopf, mit dem du allen anderen auf den Keks gehst. Befrei dich selbst, dann nervst du auch die anderen nicht mehr." Ohne die Kette hätte er ganz in ruhe dort grasen können und wir wären uns nie in die Quere gekommen. Als freies Wesen hätte er seine Lebendigkeit und seine Kraft spüren können. Er wäre frei über die Wiesen galloppiert, hatte sich dort zur Ruhe gelegt, wo es ihm gefiel und hätte das Graß gefressen, auf das er am meisten Appetit hatte. Doch weil er gefangen war, konnte er all dies nicht tun. Er spürte sein Leben nicht, weil er es nicht leben konnte. Das einzige was er noch spürte war seine Kette und so nutzte er diese, um micht zu bedrängen, damit ich ihm zumindest ein bisschen Aufmerksamkeit schenkte. Nicht anders war es bei mir selbst. Durch den Verstandeskäfig in meinem Kopf konnte ich miene Gefühle nicht mehr spüren. Um also überhaupt noch etwas gfühlen zu können, nutzte ich meinen Verstand, um immer wieder den Menschen in meiner Nähe auf die Füße zu treten, bis ich eine reaktion bekam. Als ich ihn an der Kette zurückzog und ihm damit deutlich machte, dass ich mit seiner Aktion nicht einverstanden war, leistete er einen kleinen, eher symbolischen Widerstand. Dies war es, was er spürte. Nun konnte er einen Bruchteil seiner Kraft fühlen, in dem kurzen Moment, in dem er sich selbst vorspielte, dass er rebellierte. Doch er rebellierte nicht wirklich. Er war wie eine Marionette, die ich an der Leine dirigieren konnte, wie ich wollte. Sein Geist war gebrochen und sein Widerstand nichts weiter als ein lächerliches Spiel, das er selbst nicht ernst nahm. Er glaubte nicht mehr an seine Krat und gab sofort nach. Rein objektiv betrachtet, war ich kleines Menschlein an diesem Baum ein Niemand. Er hatte tausend Mal mehr Kraft als ich und hätte mich mit seiner Kette locker erwürgen oder zerquetschen können. Doch er hatte die Gefangenschaft akzeptiert und fügte sich in die Rolle der Marionette, genau wie ich es tat.

Später setzte ich mich noch einmal um, weil nun zu viele Mücken unterwegs waren. Der einzige Platz, an dem ich vor ihnen noch Ruhe hatte, war die Mauer des Polizeipräsidiums. Erst jetzt fiel mir auf, dass auch die Mücken nicht ohne Grund da waren. Sie zeigten so deutlich wie kein anderer, was man unter energieraubenden Beziehungen verstehen konnte. Sie waren permanent um mich herum, schenkten mir Nähe und Aufmerksamkeit, erzählten mir ihre Summlieder und nahmen es mir auch nicht übel, wenn ich die eine oder andere von ihnen erschlug. Doch unsere Beziehung war rein darauf ausgelegt, mir Energie in Form von Blut zu entziehen. War es wirklich sinnvoll, eine solche Beziehung aufrecht zu erhalten? Am Abend suchte ich mir einen Platz im Ort, um den Stechfreunden zu entkommen. An einem kleinen Minimarkt war es ruhig und Mückenfrei. Wieder traf ich einen jungen Mann, der sich kurz mit mir unterhielt und mich nach meinem Namen fragte. Zuerst versuchte ich die Frage zu übergehen und anonym zu bleiben, aber das funktionierte nicht, weil er mehrfach nachfragte. Daher nannte ich ihm den ersten Namen, der mir einfiel. Auf Dauer war das aber auch keine Lösung.

07.07.2016 An diesem Vormittag waren wir es, die die Polizisten belästigten. Mitten im Ort gab es eine kleine Brücke und auf der Mitte dieser Brücke entdeckte Heiko eine alte Frau, die offensichtlich gestürzt war. Sofort eilten wir hin um zu sehen, ob ihr etwas fehlte. Sie lag zunächst vollkommen reglos da und reagierte dann matt und benommen auf unsere Versuche, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Sie begann nun sogar, etwas zu erzählen, doch wir konnten leider nichts verstehen und so verwuchten wir Hilfe zu holen. Ein Mann mit einer Pferdekutsche kam vorbei und schaute auf unser Winken hin hilflos über die Frau. So kamen wir nicht weiter und Heiko beschloss, dass es das Beste war, Hilfe von offizieller Seite zu holen. Er rannte zurück zum Polizeipräsidium und versuchte dort einen Beamten aufzutreiben, der ihn verstand. Zunächst bekam er als Ausländer einen Mann zugeteilt, der Russisch beherrschte. Als klar wurde, dass auch dies nichts half, machten sich die Polizisten auf die Suche nach dem einzigen Kollegen, der Englisch sprach. Dieser saß aber gerade beim Frühstücken und konnte deshalb nicht sofort reagieren. Für Notfälle war die Wache ganz offensichtlich nicht ausgelegt. Als der Mann schließlich kam, steckte er sich erst einmal in aller Ruhe eine Zigarette an und ging dann ganz gemütlich mit Heiko zur Brücke zurück. In der Zwischenzeit hatte sich die Frau bereits immer mehr berappelt und langsam wurde klar, dass ihr Hauptproblem ein akkuter Alkoholüberschuss im Blut war. Als der Kutscher das erkannt hatte, winkte er einfach nur ab und meinte: “Die ist nur Hacke, kein Grund zur Sorge!” Dann verschwan er. Offensichtlich war es vollkommen normal hier, dass die Menschen am Morgen irgendwo auf Brücken oder in Gräben herumlagen. Dass sie trotz ihrer Trunkenheit dennoch verletzt sein konnte, interessierte den Mann hingegen nicht. Auch das Interesse des Polizisten hielt sich stark in Grenzen. Er spach die Frau an, machte aus, dass sie hier ganz in der Nähe wohnte, zuckte mit den Schultern und überließ sie ihrem Schicksal. Etwas betrübt über diese herausragende Gleichgültigkeit zogen auch wir weiter, überließen der Dame aber immerhin eine Flasche Wasser. Offenbar war außer ihrer Würde alles an ihr unverletzt und langsam war sie schon wieder soweit, dass sie aufrecht sitzen konnte. Ob die Wasserflecken auf ihrem Kleid nur vom Kleckern mit dem Wasser oder auch vom Einpinkeln kamen, konnten wir nicht genau ausmachen. Heute war nun der vorletzte Tag in Moldawien. Übermorgen würden wir die Grenze wieder überqueren und zurück nach Rumänien reisen. Zuvor bekamen wir aber noch einmal eine ganz besondere Zurschaustellung der moldawischen Transportkunst zu sehen. Auf einem PKW hatte man einen Schrwung Zierbläche festgeschnallt, die weit über das Dach hinausragten. Sie waren jedoch so dünn, dass sie sich im Laufe der Fahrt immer weiter nach unten gebogen hatten und nun vorne vollkommen auf dem Asphalt schleiften. Es gab ein lautes Kratzgeräusch und die Bläche schränkten sogar die Sicht des Fahrers ein. Doch beides führte nicht dazu, dass er sich darüber Gedanken machte, oder gar anhielt und seine Bleche vor der totalen Zerstörung bewahrte. Er fuhr einfach weiter. Das allein war schon recht irritierend, doch wirklich schräg wurde es erst, als wir eine halbe Stunde später einen anderen Wagen mit ähnlichen Blechen, der gleichen Technik und dem gleichen Problem entdeckten.

Zum Zelten zogen wir uns heute hinter eine leerstehende Fabrikhalle zurück. Der Platz war voller Scherben und überall klebte geschmolzener Teer, doch er war ruhig, schattig und friedlich. Niemals kam ein Mensch hier her und so herrschte noch immer eine ausgewogene Baseline unter den Tieren. Es war kein schlechter Platz, aber man konnte nicht leugnen, dass wir zu immer abstrakteren Mitteln greifen mussten, um überhaupt noch Plätze zu finden. Hier im Schatten hinter der Halle testeten wir aus, was mein neuer Name sein könnte. Schon nach wenigen Versuchen kamen wir auf Franziskus, Francesco oder Franz in Anlehnung auf Franz von Assisi. Plötzlich ergab nun alles einen Sinn, angefangen von unserem Mönchsein zu Beginn der Reise bis hin zu dem seltsamen Ritual mit dem Haare ausreißen. Von diesem Moment an war ich nun Franz von Bujor oder Francesco de Bujor, je nachdem in welchem Land wir gerade waren.

Spruch des Tages: Die Polizei, dein Freund und Nervenräuber

Höhenmeter: 390 m Tagesetappe: 32 km Gesamtstrecke: 16.693,27 km Wetter: sonnig und heiß Etappenziel: Zeltplatz auf einer Kuhwiese neben der Straße, kurz vor 78706 Kryvopillya, Ukraine

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03.07.2016

So sonderbar es auch war, auf einer Müllhalde zu nächtigen, so erholsam wurde es auch. Die Weide spendete ausreichend Schatten, so dass wir wieder einmal richtig ausschlafen konnten. Dann aber wurde der Tag wieder zur reinen Zerreisprobe. Die endlose Hitze und die ewig weiten Strecken ohne einen Schatten trieben uns langsam in den Wahnsinn. Und wieder einmal war es unmöglich einen Schlafplatz zu finden. Wir entdeckten einen Wald am anderen Ende eines Tals, der recht verlockend aussah, doch als wir auf ihn zugingen, stellten wir fest, dass sich ein versteckter Graben mitten in der Wiese befand. Heiko versuchte ihn zu durchqueren, blieb dabei jedoch knietief im Schlamm stecken, so dass wir den Rückzug antraten. Die einzige Alternative war es, einen Berg zu erklimmen und oben auf der Anhöre nach einem Platz zu suchen. Auch dies schien zunächst erfolglos, doch dann fanden wir einen Platz unter ein Paar Weiden, die wie zu einem Kraftkreis angeordnet waren. Das einzige Problem war nur, dass es fast unmöglich war, ihn zu erreichen, da wir mehrere Böschungen hinauf und hinunter mussten. Als wir schließlich ankamen, waren wir so erschöpft, dass wir uns erst einmal hinlegen mussten.

Am Nachmittag schafften wir es dann, den ersten, stimmigen Rohentwurf des Buches fertigzustellen. Es hatte nun einen roten Faden und ergab von Anfang bis Ende einen Sinn, mit dem die Leser wirkliche Schritte zu ihrem eigenen Erwachen gehen konnten. Natürlich mussten wir noch einmal alles abrunden, doch zum ersten Mal hatten wir das Gefühl, dass eine Fertigstellung des Projektes in Aussicht war. In der Nacht wanderte ich daher noch einmal zwei Kilometer in den nächsten Ort, um die fertige Datei per Mail zu verschicken, damit sie wirklich sicher war. Jedenfalls glaubte ich in diesem Moment, dass sie dadurch sicher sein würde. Ein Irrtum, der sich am nächsten Tag deutlich zeigen würde.

04.07.2016

Dieses Mal wurden wir nicht von der Sonne sondern von einem Sturm geweckt, der an unserem Zelt rüttelte. Es war der Wind der Veränderung, der bereits jetzt ankündigte, dass heute ein besonderer tag werden würde. Zum Wandern war er allerdings ganz angenehm, denn so spürte man die Hitze nicht mehr so stark und wir waren etwas weniger ausgelaugt, als an den letzten Tagen. Auf halber Strecke kamen uns zwei LKWs entgegen, die gnadenlos überfüllt mit Rundheuballen waren. So etwas wie Ladungssicherungsvorschriften gab es hier nicht und jeder konnte seine Ladung so vertrauen, wie er es für richtig hielt. In diesem Fall reichten den Fahrern ein paar Gurtspanner um die Ballen auf der Ladefläche festzuschnallen. Beim ersten ging das auch gut, doch beim zweiten funktionierte die Technik nur mäßig. Als er auf unserer Höhe war hielt der Fahrer plötzlich an und stieg aus. Zunächst wussten wir nicht warum, doch dann erkannten wir, dass einer der Ballen fehlte. Er lag hinter der nächsten Kurve mitten auf der Straße. Ein Sanitätswagen fuhr vorbei und hielt neben dem wandernden LKW-Fahrer an. Der Rettungsassistent reichte etwas nach draußen, das wir im nächsten Moment als Gurtspanner identifizierten. Er musste abgeruscht und auf die Straße gefallen sein, wo ihn die Sanitäter aufgelesen hatten. Er bedankte sich und der Krankenwagen fuhr weiter. Dann ging der Mann auf den Heuballen zu und rollte ihn von der Straße auf den Grünstreifen. Genau in diesem Moment kam ein Streifenwagen mit zwei Polizisten. Sie schauten kurz, was der Mann da machte und beschlossen dann, dass er den Rundballen ordnungsgemäß zur Seite geräumt hatte. Es gab also nichts zu beanstanden und so konnten sie sich einem PKW widmen, den sie ohne erkennbaren Grund anhielten. Der LKW-Fahrer kehrte zu seinem Truck zurück, warf einen flüchtigen Blick auf seine Ladung um sicher zu gehen, dass der Rest noch hielt, legte den Gurtspanner ins Führerhäuschen und fuhr weiter.

Heute wurde die Schlafplatzsuche wieder etwas leichter und doch brauchten wir fast genauso viel Zeit dafür, wie an den vergangenen Tagen. Wir fanden einen Platz unter ein paar Nussbäumen, der uns geeignet erschien. Doch es wirkte, als wolle es regnen und gleich nebenan gab es eine verlassene Lagerhalle. Also wechselten wir in die Halle, doch gerade als wir aufbauen wollten, begannen eine paar Bauarbeiter direkt vor unserer Tür ein Betonfundament zu errichten. Ruhe fanden wir hier also nicht und so beschlossen wir, wieder zurück unter die Bäume zu wechseln. Hier kam es dann zum großen Finale meines Kampfes zwischen mir und meinem inneren Gegner. Obwohl die fertige Buchdatei am Abend einwandfrei funktioniert hatte, konnte man sie nun nicht mehr öffnen. Weder auf meinem Computer noch auf Heikos oder sonst wo. All unsere Arbeit war zerstört und das ohne einen rational erklärbaren Grund. Und doch war es logisch. Ich brauchte diese Situation, um endlich aufwachen zu können und deshalb hatte ich sie angezogen. Meine komplette Ausstrahlung war so sehr auf Angst und Selbstsabotage ausgelegt, dass ich es schaffte, damit mehrere Computerdateien zu zerstören. Mein Selbsthass wurde unvorstellbar und ich wurde wieder vollständig zu der Fraze meines Verstandes. Jedes Gefühl war tot und am liebsten wäre ich in diesem Moment auch gestorben. Die Gefühle, die in mir kochten, die ich selbst aber nicht wahrnehmen konnte, bekam ich von Heiko gespiegelt. Er schlug und schubste mich in der Hoffnung, den Menschen in mir dadurch irgendwie wieder zum Leben zu erwecken. Doch es dauerte noch eine knappe Stunde, bis meine erstarrte Maske in sich zusammenbrach und meine Gefühle an die Oberfläche schwappten. Wie besessen Schlug ich auf mich selbst und auf die Wand ein, an der ich lehnte, ich heulte, schrie und fluchte bis mir die Kraft dafür ausgegangen war. Dann erst wurde mir bewusst, was mit mir los war. In mir kämpften zwei Stimmen einen erbitterten Kampf gegeneinander. Die meines Herzens und meines inneren Kindes, die endlich frei sein wollte um ganz ich selbst zu werden. Und die meines Verstandes, der um jeden Preis die Kontrolle behalten und jede Veränderung unterbinden wollte. Nach diesem Kampf war klar, dass das alte Masken-Ich des Tobias Krüger sterben musste. Nun folgte das Ritual, bei dem mir Heiko die Haare ausriss, bis meine Kopfhaut brannte und seine Funger bluteten. Ich heulte wie ein Schlosshund und spürte, wie ich mit jedem Büschel Haare stets auch noch weitaus mehr losließ. Am Ende holte Heiko unsere Rasirer um die letzten verbleibenden Haare so anzupassen, dass es eine gepflegte Vollglatze ergab. Es war nun also vollbracht. Tobias Krüger war gestorben. Ich wusste noch nicht, was dies nun für mich bedeutete, doch für´s erste saß ich nun einmal ohne Namen, ohne Maske und ohne Haare auf einer Wiese mitten in Moldawien, kurz vor einem kleinen Ort namens Bujor.

Der Tag war nun bereits fast vollständig zur Neige geganen. Heiko hatte bereits das Abendessen vorbereitet, als ich am Zelt eintraf. Wir setzten uns in die letzten Sonnenstrahlen auf der Wiese und aßen. Mein Kopf fühlte sich seltsam und empfindlich an, aber zum ersten Mal fühlte ich mich frei. Für einen Moment glaubte ich, dass ich mit diesem Ritual nun an irgendeinem Ziel angekommen wäre. Dann aber wurde mir bewusst, dass genau das Gegenteil der Fall war. Ich hatte nun den ersten Schritt gemacht und war bereit anzukommen. Wir stellten die Datei wieder her und Heiko gelang es, sie fast vollständig wieder zu rekontruieren, so dass ich nur noch einmal durchsehen musste, ob alles soweit passte. Dann ging ich hinunter in den Ort, um sie noch einmal zu sichern und um mit unserem Verlag abzuklären, ob wir von der Zeichenzahl soweit im Rahmen lagen. Leider gab es kein Internet und so konnte ich nichts weiter tun, als Heydi per SMS zu bitten, die Fragen von zuhause aus zu stellen. Wenig später bekam ich die Antwort, dass sie alles erledigt hatte. Sie hatte mir also wieder einmal den Arsch gerettet. Auf dem Rückweg war es bereits dunkel und es machte kein wirklich gutes Gefühl, an der Hauptstraße entlang zu wandern, wenn ununterbrochen betrunkene Autofahrer an mir vorbei rasten. Einer hielt sogar an und bat mir an, mich mitzunehmen. Doch so schwer wie ihm das Geradeauslaufen fiel, hielt ich es für keine gute Idee. Den Rest der Nacht setzte ich mich in die kleine verfallene Hütte neben unserem Zelt und machte mich an die Endkorrektur des Buches. Als die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont leuchteten, stand ich auf und schaute über das Tal. Unten lag der See in dichte Nebelschwaden gehüllt, die vom seichten Sonnenlicht erleuchtet wurden. Es war ein herrlicher Morgen! Ein großartiger Morgen für den ersten Tag als neuer Mensch.

05.06.2016

Kurze Zeit später wachte Heiko auf und wir bereiteten ein Frühstück vor. Dann machten wir uns wieder auf den Weg. In einer Pause machten wir weitere Austestungen über den Muskelreflexionstest, wobei herauskam, dass mein altes ich wirklich vollkommen sterben sollte. Es galt nun alles loszulassen, nicht nur meine Haare und meinen Namen, sondern auch alle Personen, die mich noch in meiner Maskenrolle festhielten: Den Rest meiner Familie, meine alten Freunde und bekannten. Es fühlte sich wie ein harter Schlag an, obwohl ich vom Herzen her spürte, dass diese Schritt längst überfällig war. Einen wirklichen Kontakt gab es ohnehin schon seit langem nicht mehr, denn die wenigen eMails, die wir uns hin und wieder schrieben, reichten kaum über seichtes Smalltalk hinaus. Und selbst wenn es einmal einen Versuch gab, tiefer zu gehen, wurde er meist geblockt oder verlief sich im Sand. Bereits jetzt lagen Welten zwischen mir und meinem früheren Leben und die Versuche, diese Welten zu überbrücken waren nicht mehr als ein festklammern an lägst gerissenen Strohhalmen. Im Grund gab es keine Kontakte mehr, die ich lösen musste. Es ging nur darum, den Zustand der schon längst eingetreten war zu akzeptieren und offen auszusprechen. Und doch fühlte es sich schwer an. Ich fühlte mich ein bisschen wie jemand, der keinen Käse mochte, aber nun von seinem Arzt gesagt bekam, dass er auf Milchprodukte verzichten müsse. Obwohl er sie nie gegessen hatte, war nun, weil es offiziell wurde, das Gefühl da, etwas zu verpassen. Verrückt, oder?

Nach weiteren endlosen Hügelketten, die wir immer wieder rauf und runter wandern mussten, kamen wir durch einen Ort, hinter dem wir einen Zeltplatz in einem verlasenen Hohlweg fanden. Kurz zuvor hatten wir von unserem Verlag per SMS das OK bekommen, dass die Länge unseres Buches nun akzeptiert wurde. Wir brauchten also nichts mehr zu kürzen, sondern mussten nur noch das aktuelle korrigieren und abrunden. Es ging nun also wirklich in die Endphase und langsam kam ein Gefühl der Erleichterung in uns auf. Zum Arbeiten kehrte ich in den Ort zurück, wo es eine kleine Bar gab, zu der auch eine Disco gehörte. Heute war sie geschlossen und so konnte ich mich hier ganz in Ruhe an die Bar neben der Tanzfläche setzen und schreiben. Der Besitzer sprach Englisch und wir unterhielten uns eine Weile. Als er mich nach meinem Namen fragte, antwortete ich gewohnheitsmäßig mit "Tobias" doch es fühlte sich bereits jetzt vollkommen falsch an. Seinem Kumpel stellte ich mich dann ohne Namen vor. Es war schon ein sonderbares Gefühl, als Namenloser unterwegs zu sein. Doch ich wollte mir auch keine Namen auswählen. Wenn es soweit kam, würde er schon zu mir kommen. Und genau so kam es auch.

Spruch des Tages: Wer hätte gedacht, dass ich dir wirklich einmal die Haare ausreißen würde?

Höhenmeter: 210 m Tagesetappe: 23 km Gesamtstrecke: 16.661,27 km Wetter: sonnig und heiß Etappenziel: Zeltplatz in einem Wald neben der Straße, kurz vor 78712 Rivnya, Ukraine

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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