Tag 689: Wanderroute durch den Kosovo

von Heiko Gärtner
25.11.2015 02:04 Uhr

 Am kommenden Morgen brachen wir wieder früh auf und wanderten bis in eine kleine Ortschaft, in der uns der Besitzer der einzigen Bar ein Frühstück spendierte. Es war frisch und nebelig, aber für eine Frühstückspause gerade noch warm genug. Und die Stärkung war wichtig, denn kurze Zeit später folgte ein Poweranstieg mit 500 Höhenmetern in engen Serpentinen, der uns mit leerem Magen noch deutlich mehr zu schaffen gemacht hätte, als er es eh schon tat. Oben auf dem Pass gab es einige Hotels und Cafés, in denen wir jedoch weder einen Schlafplatz noch etwas zu Essen bekamen. Dafür konnten wir das Internet nutzen, was wir nach der langen Pause auch ausgiebig taten. Der Haken dabei war nur, dass wir dadurch ein bisschen das Zeitgefühl verloren so dass es bereits spät am Nachmittag war, als wir uns wieder an den Abstieg wagten. Einige Serpentinen tiefer wurden wir von einem dunkelgrünen Auto überholt, das neben uns anhielt. Zwei junge Menschen aus Deutschland stiegen aus und begrüßten uns. Sie kamen aus Pfarrkirchen, dem Heimatort eines ehemaligen Praktikanten und guten Freundes von uns, den die junge Frau sogar kannte.

Das auffälligste an der jungen Frau waren ihre pinken Haare. Ihr Freund, der nicht ihr Freund sondern nur ihr Kumpel war, stammte aus der Türkei und musste in ein paar Tagen in Istanbul sein. Dort wollte er auf eine Hochzeit gehen. Er war ein lockerer und freundlicher Kerl, mit dem man sich gut unterhalten konnte und der uns außerdem gleich noch einige Reisetipps für die Türkei mit auf den Weg gab. Die Idee des Roadtrips wurde aus der Hochzeitseinladung geboren. Wenn er eh den weiten Weg bis in die Türkei zurücklegen musste, dann konnte man ihn auch gleich etwas schöner gestalten und eine kleine Reise daraus machen. Die Mutter der pinkhaarigen Dame wollte es ihr zunächst verbieten, weil sie es für zu gefährlich hielt, wenn die junge Frau ganz alleine von Istanbul wieder zurück nach Deutschland fuhr. Nach kurzer Überlegung sah sie dann aber ein, dass sie bei einer dreißigjährigen Tochter kaum das Recht dazu hatte, ihr zu sagen, was sie tun oder lassen sollte. Also wurde ein neuer Plan geschmiedet und der Vater entschied sich kurzerhand dafür, nach Istanbul zu fliegen und von dort aus mit seiner Tochter zurück zu fahren.

Wir erzählten ein bisschen von unserer Reise und auch davon, dass wir bis vor kurzem noch zu dritt unterwegs gewesen waren. Als wir zum Thema Opferbewusstsein und Anziehung von potentiellen Tätern kamen, sagte sie etwas, das ich erstaunlich fand. Denn obwohl die junge Frau nicht den Anschein eines leichten Opfers machte, sondern eher wirkte, als könne sie sehr deutlich machen, wo ihre Grenzen waren, die nicht überschritten werden durften, war sie sich anders als Paulina der Gefahr vollkommen bewusst, die mit der man als reisende Frau leben musste.

„Wenn ich nicht wüste, dass ich die meiste Zeit des Tages im Auto sitze und wenn ich nicht zusammen mit einem wirklich großen und starken Mann reisen würde, dann würde ich beispielsweise niemals eine kurze Hose anziehen. Klar, ist die hier nicht aufreizend, aber für die Männer hier reicht es aus und man muss ja nichts provozieren, wenn es nicht sein muss.“

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Da wir noch einen Schlafplatz brauchten und die beiden noch eine ordentliche Fahrtstrecke vor sich hatten, verabschiedeten wir uns und machten uns jeder wieder auf seinen Weg. Die Serpentinen endeten in einem Canyon, dessen Boden sich hinter einem steilen Abhang verbarg. Es wirkte fast so, als würde man bis zum Erdkern hinunterfallen, wenn man diesen Hang hinunterpurzelte. Ebene Flächen, auf denen man hätte zelten können gab es hier nicht also blieb uns nichts anderes übrig, als weiterzuwandern.

An einem kleinen Häuschen stand gerade ein Mann und strich seinen Zaun. Er wirkte freundlich und so baten wir ihn um etwas zu essen. Sofort gab er seiner Frau bescheid, die uns auf der Terrasse einen Tisch herrichtete und uns ein komplettes Abendessen servierte. Sie war fast ein bisschen enttäuscht, als wir schließlich kurz vorm Platzen waren und keine weiteren Speisen mehr annehmen konnten.

Nach dem Essen dämmerte es bereits, doch da wir nun nicht mehr kochen mussten, was das nicht mehr ganz so schlimm. Zumindest für den Anfang. Später wurden wir doch etwas unruhig, weil es wirklich gar keine Übernachtungsmöglichkeit zu geben schien. Als sich der Canyon dann schließlich verbreiterte und man sogar einen Boden erkennen konnte, waren wir auch schon in der nächsten Stadt. Hier gab es zwar Plätze aber auch eine riesige, lärmende Holzfabrik und gleich zwei sich kreuzende Hauptstraßen. Damit war Schlafen genauso unmöglich, wie in Schräglage.

Mit dem letzten bisschen Licht durchsuchten wir die Stadt nach möglichen Wiesen und Gärten, die als Zeltplatz geeignet waren. Abseits der Straße fanden wir ein großes Grundstück mit Obstbäumen, das zu einem kleinen Haus gehörte. Ich klingelte und fragte, ob es OK wäre, wenn wir für eine Nacht unser Zelt irgendwo hinten auf die Wiese stellten. Die alte Frau sah mich entgeistert an und lehnte entschieden ab. Wir könnten ja auf dem Schulhof zelten, meinte sie. Ich spürte dass ich sauer wurde und verließ wütend ihren Garten. Bereits in diesem Moment war mir schon bewusst, dass die Wut nichts mir ihr zu tun hatte. Klar war es nicht besonders nett, aber es war immerhin ihr Garten und sie hatte alles Recht, Angst vor Fremden zu haben, die darin zelten wollten. Warum also war ich wirklich sauer? War ich frustriert, weil ich selbst Angst hatte, dass wir keinen guten Platz mehr finden würden? Oder waren es tiefere Themen, die gerade auftauchten?

Ich hatte nicht die Zeit, mir Gedanken darüber zu machen, denn erst mussten wir unser Nachtlager organisieren. Hinter dem Grundstück der alten Dame fiel der Berghang noch einmal steil ab. Darunter war eine Flachebene mit nur wenigen Häusern. Wenn es hier irgendwo eine Chance gab, dann war es da unten. Wir machten uns an den Abstieg und liefen dabei direkt auf ein Haus zu, vor dem ein Mann gerade Paprikaschoten zerkleinerte. Er grüßte uns schon von weitem und hatte nichts dagegen, dass wir neben seinem Haus zelteten. Im Gegenteil, er versorgte uns sogar mit Wasser, Saft und noch einer Kleinigkeit als Betthupferl. Außerdem erfuhren wir von ihm noch einige wichtige Infos über unseren weiteren Streckenverlauf. Wir hatten es ja schon vermutet, aber nun wurde es amtlich: Die Grenze, die ich ursprünglich für den Weg in den Kosovo ausgesucht hatte, war zwar offen, jedoch nicht mit einem Grenzposten besetzt. Wenn wir hier passieren wollten, dann mussten wir ohne Stempel, also illegal in den Kosovo einwandern. Das war keine Option. Morgen brauchten wir also einen neuen Plan für eine neue Grenze und wie es aussah, würden wir noch ein oder zwei Tage länger in Montenegro bleiben als gedacht.

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Zunächst jedoch mussten wir ohne Plan weiterziehen. Der Weg war nicht weiter kompliziert, da wir einfach immer der Hauptstraße folgen mussten. Dafür, dass sie eine Hauptstraße war, war sie sogar ganz erträglich. Es herrschte kaum Verkehr und von den wenigen Autos, die uns überholten gab es nur sehr wenige, die so verrückt fuhren, dass man um sein Leben fürchten musste. Als wir schließlich die Stadt erreichten, versuchten wir zunächst ein Hotel aufzutreiben, in dem wir übernachten konnten. Irgendwie mussten wir es schaffen, ins Internet zu kommen und da war es das Beste, eine gemütliche Unterkunft zu bekommen, in der wir gleich einen Wi-Fi-Empfang hatten. Doch die Mission blieb erfolglos. Fast niemand sprach Englisch und ohne eine aussagekräftige Erklärung, was wir machten, wer wir waren und warum es eine gute Idee war uns zu unterstützen, standen die Erfolgschancen schlecht. Wieso hätte man auch einen Menschen aufnehmen sollen, der in verdreckten und verschwitzten Klamotten in der Rezeption auftauchte, kaum ein Wort der Landessprache sprach und dann noch darum bat, ein Zimmer für umsonst haben zu können? Nicht, dass dies nicht auch schon funktioniert hätte, keine Frage, aber man konnte niemandem böse sein, wenn er ablehnte.

Wir brauchten also einen Plan-B. Dieser bestand daraus, dass wir in einem kleinen Wettbüro für Sportwetten und allerlei Glücksspiele um einen Tisch am Rande und einen wLAN-Schlüssel baten. Das funktionierte hervorragend und auch wenn der Platz nicht zu den schönsten der Welt gehörte, so war er doch deutlich angenehmer als ein verqualmtes, lautes Café voller grölender, betrunkener Männer. Hier kam man lediglich zum Spielen her und das machte man vornehmlich im Stillen.

Wir brauchten fast den ganzen Nachmittag dafür um alles zu erledigen, was es zu erledigen galt. Der Blog musste auf Vordermann gebracht werden um Paulinas Privatsphäre zu schützen, da sie ja nun nicht länger Teil unserer Herde war. Darüber hinaus brauchten wir neues Kartenmaterial für die Weiterreise und wenn wir im Kosovo nur halb so schlecht ins Netz kamen wie hier, dann brauchten wir ordentlich Vorlauf, damit wir nicht komplett verloren gingen. Unser Besuch in diesem Wettbüro war auch das vorletzte Mal, dass wir Kontakt zu Paulina hatten. Sie war bei Facebook online und schrieb eine ganze Weile mit Heiko. Dabei erfuhren wir von ihrer Reise nach Mazedonien und sie beteuerte mehrfach, dass die Trennung für sie noch kein endgültiges Ende für sie war. Sie war sich vollkommen im Klaren darüber, dass es eine reine Flucht vor sich selbst war und dass sie auf Dauer nicht vor sich würde fliehen können. Nur ein bisschen Abstand bräuchte sie, damit sie sich selbst noch einmal sortieren könne. Sie konnte nicht sagen wann, aber irgendwann würde sie sich fangen und dann würde sie bereit sein, um ein vollwertiges Mitglied unserer Herde zu werden. Wir sollen sie nicht aufgeben, bat sie immer wieder. Sie sei noch immer auf dem Weg und eines Tages würde sie wieder zu sich selbst und auch zu uns zurückfinden.

„Versprechen können wir nichts“, antwortete Heiko, „aber wir bleiben für alles offen. Es kommt, wie es eben kommt und wenn sich unsere Wege wieder kreuzen und du mit ganzem Herzen bei uns sein kannst, bist du willkommen.“

Drei Tage später bekamen wir eine SMS. Darin erklärte Paulina in kurzen, schmucklosen aber klaren Worten, dass sie den Kontakt zu uns vollständig abbrechen wolle und auch keine Nachrichten mehr von uns wünsche. Seither, herrscht Funkstille.

Es dämmerte bereits, als wir alles erledigt hatten, was wir erledigen wollten. Wir bedankten uns beim Wettbüro-Besitzer für seine Gastfreundschaft und machten uns auf den Weg aus der Stadt. Weit kamen wir an diesem Abend nicht mehr. Wir durchquerten einen Park und hielten uns dann auf Nebenstraßen, bis wir direkt vor einem steilen Berghang landeten, der uns den Weg versperrte. Hier gab es nun keine Straßen mehr, die weiter geradeaus führten und der einzige Weg aus dem Tal führte über die Hauptstraße. Dort einen ruhigen Platz zu finden war schier unmöglich, also bogen wir nach rechts in ein kleines Dorf ab und suchten uns eine abgelegene Wiese, etwas oberhalb der Häuser. Beim Zeltaufbau war es bereits dunkel. Schnell lief ich ins Dorf zurück und bat einige der Anwohner um etwas zu Essen. Mit erstaunlich schlechtem Erfolg. Bei Dunkelheit hatten die Menschen hier offensichtlich noch mehr Angst vor Fremden als normal und so bekam ich hauptsächlich zugeschlagene Türen. Am Ende musste ich einsehen, dass es keinen Zweck hatte und kehrte mit nichts weiter als ein bisschen Wasser und fünf Keksen zu unserem Lager zurück.

 

Spruch des Tages: Wie reich könnte die Welt sein, wenn wir unseren Kindern nicht unsere eingeschränkte Meinung aufzwängen würden! Nie sind wir dem göttlichen näher, denn als Kinder.

 

Höhenmeter: 20 m

Tagesetappe: 10 km

Gesamtstrecke: 12.309,27 km

Wetter: bewölkt

Etappenziel: Gemeindehaus der Kirche, 87076 Villapiana Scalo, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Die letzten Kartoffeln, die von Vorabend noch übrig geblieben waren, gönnten wir uns zum Frühstück. Es war haarscharf gewesen, dass das noch möglich war, denn wie unter Männern üblich, die ihre Nächte in der Natur verbringen hatten wir am Abend entschieden, das Feuer aus sicherheitstechnischen Gründen auszupinkeln. Gerade in der letzten Sekunde war uns dann doch noch eingefallen, dass es gut wäre, die Glutkartoffeln zuvor aus dem Schussfeld zu nehmen.

Unsere Wanderung führte uns weiter durch das Tal bis in eine kleine Ortschaft, die nur aus wenigen Häusern entlang der Straße bestand. Vor einem einzigen stand ein kleines rotes Auto, was wir als Hinweis auf anwesende Personen deuteten. Ich klopfte an der Tür und lernte daraufhin Luka und seinen Onkel kennen, die uns auf ein Gespräch und eine Brotzeit unter einem improvisierten Sonnendach vor ihrem Haus einluden.

Der Onkel war ein viel gereister Mann, der früher unter anderem für eine große Autovermietung gearbeitet hatte. Daneben war er auch einmal für eine Ölgesellschaft tätig gewesen und wurde in diesem Rahmen für sechs Monate auf einer russischen Ölstation in Sibirien eingesetzt. Es war jene Ölstation gewesen, die später für einiges Aufsehen gesorgt hatte, weil durch sie riesige Teile der sibirischen Tundra verseucht worden waren. Darüber konnte uns der Mann zwar nicht allzu viel erzählen, doch er erzählte uns einige andere faszinierende Geschichten. So war die Plattform beispielsweise nur im Winter erreichbar, da dann die LKWs über das Eis fahren konnten. Im Sommer war dieser Zugang versperrt. Daraus ergab sich dann auch, warum er sechs Monate auf der Station gearbeitet hatte, denn kürzer wäre es einfach nicht möglich gewesen.

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Obwohl der Mann bei seiner Zeit als Autovermieter so ziemlich jedes Kraftfahrzeug getestet hatte, was sich zurzeit auf dem Markt befand, hatte er sich selbst für die kleine rote Spielzeugschachtel entschieden, die nun in der Einfahrt stand. Sie war alt, unkompliziert und ließ sich leicht reparieren, was immer es auch für Probleme gab. Ein neues, moderneres Auto konnte einem schnell mal unerwartete Kosten bereiten und darauf hatte er einfach keine Lust. Außerdem verbrauchte die kleine Schachtel so gut wie nichts und schnurrte schon seit vielen Jahren zuverlässig vor sich hin. Was also wollte man mehr?

Luka erzählte uns, dass ihm sein Onkel hier beim Baumfällen half. Wie sich herausstellte war der Junge auf eine gewisse weise stinkreich, denn gemeinsam mit seinem Vater hatte er hier eine Landfläche von rund einer Millionen Quadratmetern geerbt. Ihm gehörte nicht nur der Hügel, auf dem wir uns befanden, sondern auch der ganze Wald darum herum, einschließlich zweier Berge und eines Teils des Tara-Flusses, der später einmal zu dem gigantischen Canyon werden würde, den wir bereits vor ein paar Tagen überquert hatten. Der Junge war gerade mal Mitte zwanzig und wenn er es gewollt hätte und das Land hier nur für einen Euro pro Quadratmeter verkauft hätte, dann hätte er bis an sein Lebensende ausgesorgt. Doch das wollte er nicht. Er lebte in Belgrad und war eigentlich Elektroingenieur, wenngleich er zurzeit keinen Job hatte. Da er etwas Geld brauchte, hatte er beschlossen hier herunter zu fahren und etwas Holz zu verkaufen. Holz war in dieser Region der günstigste Heitzstoff und daher sehr begehrt. Mit etwa 400€ konnte man genügend Brennholz kaufen um es einen kompletten Winter warm zu haben. Das monatliche Durchschnittsgehalt hier in der Region lag zwischen 200 und 400 Euro. Wie wir bereits selbst aufgrund unserer Beobachtungen vermutet hatten, bestätigten uns nun auch die beiden, dass Arbeit an sich hier nicht allzu hoch im Kurs stand. Die Bewohner des Balkans hatten eine vollkommen andere Mentalität, was Arbeit anbelangte als beispielsweise Amerikaner oder Kanadier. Dort kaufte man in der Regel erst einmal alles auf Pump um zu zeigen, dass man es sich leisten konnte. Doch dies hatte natürlich unweigerlich die Folge, dass man seine Schulden abbezahlen musste und dadurch wurde man gezwungen, regelmäßig zu arbeiten. Hierzulande würde kein Mensch so etwas machen. Anders als man uns zuvor berichtet hatte, katten die Serben und Montenegriner so gut wie niemals Schulden. Man kaufte nichts, das man sich nicht leisten konnte, sondern machte es genau anders herum. Wenn man etwas haben wollte, dann arbeitete man so lange, bis man es sich leisten konnte und dann kaufte oder baute man es sich. Wenn das Geld dabei nur für ein halbfettiges Haus reichte, dann baute man es eben nur so weit wie es ging. Wenn einem dieser Zustand dann nicht gefiel, wartete man bis wieder genug Geld da war und baute dann weiter. Störte es einen nicht, dass man in einem Rohbau wohnte, dann blieb es einfach so. Benötigte man gerade kein Geld, weil man sich nichts kaufen wollte, dann gab es auch keinen Grund zu arbeiten.

Leider wandelte sich dieses Prinzip in den letzten Jahren deutlich. Wenn früher jemand ein Haus bauen wollte, dann half das ganze Dorf dabei. Immer gab es irgendwo einen Schreiner, einen Maurer, einen Klempner und so weiter, so dass sich jeder gegenseitig aushelfen konnte. Heute ist jedoch auch hier das Konzept des Geldes deutlich präsenter und wenn nun jemand fragt, ob man bereit ist, ihm beim Bauen zu helfen, dann lautet die erste Frage: „Wie viel springt denn dabei für mich raus?“

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Durch diese Veränderung wird Geld immer wichtiger und damit steigt auch das Bewusstsein, dass fast keines Vorhanden ist. Dies ist der Grund dafür, dass sich die Menschen immer ärmer fühlen obwohl sie an und für sich nicht ärmer sind als früher.

Wirklich spannend wurde das Gespräch, als wir die beiden auf die Autobahn ansprachen, denn dadurch kamen wir gleich auch auf viele interessante Hintergründe über den Balkan und seine Geschichte. Denn wie bereits vermutet war der Autobahnbau hier in den Bergen kein Zufall.

Zunächst einmal erfuhren wir noch einige Hintergründe darüber, warum die Autobahn ausgerechnet von Chinesen gebaut wurde. Wie bereits vermutet hatte es dafür eine internationale Ausschreibung gegeben und die chinesische Firma hatte das beste Angebot gemacht. Der Deal dabei war folgender: Die Investoren ließen die Straße bauen und bekamen dafür für die nächsten 10 oder 15 Jahre - so genau wussten die beiden es nicht mehr - sämtliche Maut-Einnahmen die über den Verkehr generiert wurde. Das war sicher kein schlechter Deal, vorausgesetzt, die Autobahn wurde ordentlich befahren. Wenn das Projekt endete, wie jene Küstenautobahnen in Spanien, auf denen man spazieren gehen konnte, weil kein einziges Auto darauf fuhr, dann ging die Investition nach hinten los. Die Geldgeber mussten sich also relativ sicher sein, dass die Straße, die sie bauten, anschließend auch befahren wurde.

Die offizielle Begründung für die neue Fernverkehrsstraße ist die Förderung des Tourismus an der Küste. Seit sich Montenegro vor zehn Jahren von Serbien unabhängig gemacht hat, ist dieser stark zurück gegangen. Die meisten Urlauber, die an die Küste fuhren, waren Serben aus den großen Städten im Norden doch die waren nun sauer auf die untreuen Nachbarn und boykottierten den Besuch der Küste Montenegros. Stattdessen fuhren sie nun lieber nach Griechenland, in die Türkei oder nach Ägypten. Warum aber waren die Serben sauer?

Bis vor zehn Jahren war Montenegro der südliche Teil Serbiens gewesen, also der Teil, der den Küstenabschnitt und die schönsten Berge besaß. Der dünn besiedelte Landabschnitt wird bis heute gerade einmal von 600.000 Menschen bewohnt. Das Land hat also gerade einmal so viele Einwohner wie Nürnberg. Die Hälfte davon sind Serben, die damals wie heute keine Unabhängigkeit wollten. Warum es dennoch dazu kam, wissen wir leider nicht, doch mit der Trennung verlor Serbien ein wichtiges Standbein. Die gesamte Infrastruktur, angefangen bei den Straßen, über die Eisenbahnlinien bis hin zur Industrie und zum Tourismus war von Serbien erbaut worden. Da die Küste das Haupturlaubsziel war, hatten fast alle großen Firmen eigene Hotels und Ressorts am Strand, in denen ihre Mitarbeiter ihre freien Tage verbringen konnten. Durch die Unabhängigkeit ging all dies mit einem Schlag verloren. Es war ein bisschen als würde sich ein Kind von seinen Eltern unabhängig machen, dabei aber sagen: „Euer Auto, die Zweitwohnung und die Hälfte eures Ersparten nehme ich jetzt mit, denn ab sofort stehe ich auf eigenen Beinen!“

Dass die Serben darüber nicht gerade erfreut waren, lässt sich leicht nachvollziehen und so wie es aussieht haben sie dem neuen Kleinstaat bis heut nicht richtig vergeben. Eine neue Autobahn wird daran kaum etwas ändern, denn die fehlende Infrastruktur hat die serbischen Urlauber früher ja auch nicht davon abgehalten, hier an die Küste zu fahren. Sie bleiben nicht fern, weil es so schwierig ist, dort hinzukommen, sondern weil sie einfach nicht mehr dorthin wollen. Doch für die Einheimischen klingt die Idee verlockend und so sind sie gerne bereit, an die Hoffnung auf einen Wirtschaftsaufschwung zu glauben und sich dafür ihr Naturparadies verschandeln zu lassen.

Doch dies kann natürlich nicht der wahre Grund für so ein Milliardenprojekt sein, denn die vage Hoffnung, ein paar serbische Urlauber dazu zu bewegen wieder an die Küste Montenegros zu fahren, in dem man ihnen eine Schnellstraße anbot, für die sie auch noch Geld bezahlen mussten, konnte wohl kaum jemanden motivieren, sich auf einen Maut-Deal einzulassen. Wenn jemand solche Summen investiert, dann will er auch sicher sein, dass es ihm etwas bringt. Was also bringt die Autobahn?

Um die Frage zu beantworten muss man zunächst etwas über die Geschichte des Landes oder genauer gesagt über die Geschichte des Kosovo wissen. Und zu unserem Glück kannten sich unsere beiden Gesprächspartner damit weit besser aus, als alle die wir zuvor getroffen hatten.

Die offizielle Erklärung für den Kosovo-Krieg lautete folgendermaßen: Amerika warf Serbien vor, einen Völkermord an den Albanern in ihrem Land zu begehen und sie auf eine unmenschliche Art und Weise zu behandeln, bei der man nicht länger tatenlos zuschauen konnte. Es war also ein ethisch wichtiger, korrekter und notwendiger Schritt für eine Großmacht wie die USA hier einzugreifen und den Kosovo, also den Teil Serbiens, der am dichtesten von Albanern bewohnt wurde, für unabhängig zu erklären. Wie viel an den Vorwürfen letztlich dran war kann ich im Moment nicht sagen. Wahrscheinlich waren die Verhältnisse wirklich grauenvoll, denn sonst hätte sich ein solcher Schritt kaum rechtfertigen lassen. Doch ähnlich wie in Bosnien wird es auch hier kaum um Streitigkeiten gehen, die von den Menschen selbst herrühren. Dafür leben die unterschiedlichen Volksgruppen hier einfach schon viel zu lange friedlich zusammen. Die Konflikte waren also bewusst erzeugt worden, die Frage ist nur: Warum?

Wie sich herausstellte, gab es auch hier einen vollkommen rationalen, logischen und wirtschaftlichen Grund für einen Bürgerkrieg, an dessen Ende ein unabhängiges Land stand, das sehr gute, freundschaftlich diplomatische Beziehungen zu den USA unterhält. So besitzt der Kosovo Unmengen an Bodenschätzen, darunter einige der größten Blei-, Zink-, Kohle-, Silber- und Goldmienen Europas. Der Umsatz, der mit diesen Mienen gemacht wird, beträgt den Informationen unserer Frühstücksgastgeber zufolge rund 15 Milliarden Euro im Jahr. So eine Goldgrube kann man natürlich nicht einfach Russland überlassen und da Serbien unter Russischem Einfluss steht, musste der Kosovo davon getrennt werden.

Auffällig in diesem Zusammenhang ist auch, dass der amerikanische Botschafter, der zur Zeit des Krieges im Kosovo amtierte, nun Vorstandsmitglied eines der führenden Unternehmens ist, die nun die Rohstoffe abbauen in diesem Land abbauen. Damit steht er nicht alleine da. So gut wie jeder Politiker, der damals in den Kosovo-Krieg verwickelt war, sitzt nun in einer großen Rohstofffirma die hier die Erze abbauen.

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Um einen möglichst hohen Gewinn aus den Bodenschätzen ziehen zu können, braucht man natürlich auch eine gute Infrastruktur, über die man die Rohstoffe abtransportieren und dorthin bringen kann, wo sie benötigt werden. Nach Mitteleuropa zum Beispiel. Und da kommt dann wieder die Autobahn ins Spiel, die von Belgrad aus direkt am Kosovo vorbei an die Küste führt. Eine Küste, an der es neben dem Tourismus auch einige Frachthäfen gibt, von denen aus man die kostbaren Güter in alle Welt bringen kann. Wie wir erfuhren war diese Autobahn hier auch nicht das einzige große Bauprojekt, das gerade in der Entstehung war. Der ganze Balkan sollte vernetzt werden, unter anderem durch eine neue Tangente, die Serbien über Ungarn mit Mitteleuropa verbindet. Als wir einige Wochen Später durch Albanien wanderten, kamen wir dabei übrigens auch an eine Straße, die quer durchs Land führte und die von einem kleinen Sträßchen zu einer Hauptverbindungsrute ausgebaut wird. Die Angaben der beiden Männer scheinen also wirklich zu stimmen.

Dabei fiel uns plötzlich auch Bosnien wieder ein, das mit seinen Trinkwasserreserven auch recht gut in das Gesamtbild passte. Und wer weiß, vielleicht gab es dort ja auch noch einiges an Bodenschätzen, von dem wir keine Ahnung hatten. Mienen hatten wir immerhin ein paar Mal gesehen. Vielleicht gab es weit mehr, als wir vermutet hätten.

Am Ende unseres Frühstücks kamen wir dann noch auf einige andere Themen zu sprechen. Es war spannend, was die beiden alles wussten und mit wie vielen Dingen sie sich schon beschäftigt hatten. So war en ihnen die Ungereimtheiten im Zusammenhang mit der Atomenergie ebenso bekannt, wie die Tatsache, dass hier massiv am Wetter manipuliert wurde. Auch sie hatten sich viele Gedanken über die verdächtig langen Kondens-Streifen am Himmel gemacht, die permanent neue Wolken produzierten und die sicher in irgendeinem Zusammenhang mit den unerklärlichen Wassereinbrüchen standen, die in den letzten Jahren hier vom Himmel fielen.

Schließlich wurde es Zeit, wieder aufzubrechen und weiter zu wandern. Luka begleitete uns noch ein Stück, bis an die Grenze seines Hoheitsgebietes.

„Schaut mal hier!“ sagte er und deutete dabei auf eine kleine Scheune, „hier habe ich gestern ein Stinktier gefunden!“

Wer hätte gedacht, dass es hier Stinktiere gibt?

Wenige Kilometer weiter kamen wir zum zweiten Mal an eine Großbaustelle, die im Zusammenhang mit der Autobahn stand. Hier hatte man nicht nur ein Arbeitercamp sondern gleich auch eine ganze Zementfabrik errichtet. Meine kleine Satelitenkarte von Google zeigte noch immer das Tal, wie es vor dieser Zerstörung gewesen war. Im Weiterwandern fragten wir uns, wie man sich als Arbeiter auf einer solchen Baustelle wohl fühlen musste. Man war maßgeblich daran beteiligt, so ein schönes Gebirge für immer oder zumindest für lange Zeit zu zerstören. Was musste das mit einem machen? Sah man das einfach als Job an, so wie man Kartoffeln schälte um dafür Geld zu bekommen? Ich versuchte mir einen Job vorzustellen, für den ich mich noch mehr schämen würde, als für diesen, doch ich fand die Frage wirklich schwierig. Als Prostituierte verkaufte man wenigstens nur seinen eigenen Körper und als Mafiakiller das Leben einiger weniger Menschen. Doch hier verkaufte man nicht nur seine Seele sondern auch das Leben vieler Generationen von Menschen und Tieren. Man war verantwortlich für die Zerstörung eines ganzen Landstriches. Konnte man damit wirklich ruhig schlafen? Ich hätte es nicht gekonnt.

Nachdem wir zunächst überhaupt nichts zum Essen auftreiben konnten, bekamen wir dann mehr als wir tragen konnten. Darunter war auch die wohl größte Kartoffel der Welt oder zumindest die Größte, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. Mit ihr alleine konnten wir einen ganzen Topf füllen.

Spruch des Tages: Wie kann man so ein schönes Land zerstören?

 

Höhenmeter: 250 m

Tagesetappe: 13 km

Gesamtstrecke: 12.299,27 km

Wetter: bewölkt

Etappenziel: Gästezimmer im Pfarrhaus, 87075 Trebisacce, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Fortsetzung von Tag 686:

Nach der Meditation standen wir auf und packten zusammen. In der Nacht war es deutlich Kälter gewesen, als am Tag, weshalb unser Zelt nur so vor Kondenswasser triefte. Am anderen Ende des Feldes tauchten die ersten Sonnenstrahlen auf und wir legten die Zeltplane in die Wärme, damit sie zumindest ein bisschen trocknen konnte. Mit dem ganten Wasser wog das Zelt nun locker noch einmal sechs Kilo mehr und bei dem Aufstieg, den wir heute vor hatten, konnte Heiko sich einfach nicht darüber freuen.

In der Zwischenzeit probierten wir seit langem mal wieder unsere SWAK-Zahnbürsten aus. Seit wir herausgefunden hatten, dass das Zähneputzen mit den gewöhnlichen Zahnbürsten und mit der handelsüblichen Zahnpasta, die neben Fluor und Aluminium auchMikropartikel von Plastik enthält, dem Körper und auch den Zähnen mehr schadete als es nützte, hatten wir es mit der Zahnpflege nicht mehr so genau genommen. Paulina hatte und dann von einem Mann erzählt, der Zahnbüsten aus Miswak-Holz herstellte. Das Holz enthält ein natürliches Desinfektionsmittel und fasert so fein auf, dass es sogar besser funktioniert als eine normale Bürste. Damit alleine bekam man die Zähne schon lupenrein, doch wenn man das Gefühl von Zahnpasta nicht missen wollte, dann konnte man etwas Zahnsalz auf die hölzerne Bürste streuen. Das schmeckte sogar besser als die Chemie-Variante, polierte genauso und hatte keinerlei Nebenwirkungen.

Nachdem wir unsere Zahnpflege abgeschlossen hatten, war auch unser Zelt einigermaßen trocken und wir konnten zusammenpacken. Der Weg führte uns weiter den Berg hinauf, wenngleich nicht mehr ganz so steil und weit wie am Vortag. Schließlich erreichten wir eine Flachebene, von der es dann noch einmal über einen weiteren Gipfel und dann erneut in ein kleines Tal ging. Unsere Nahrungsvorräte hatten wir bereits am Abend weitgehend aufgebraucht und so freuten wir uns schon auf das erste Dorf, dass auf unserem Weg lag, um dort ein Frühstück zu ergattern. Als wir es jedoch erreichten blieb uns vor schreck fast der Mund offen stehen.

Dort, wo auf meiner Karte noch ein kleines, abgelegenes Dorf eingezeichnet war, gab es in Wirklichkeit kein Dorf mehr. Es hatte vor nicht langer Zeit einer riesigen Baustelle Platz gemacht und bis auf ein paar einzelne Häuser am Rande war alles eingeebnet worden. Stattdessen hatte man hier ein künstliches Blechdosendorf erschaffen, eine Art Arbeitslager, das aus lauter identischen Hütten bestand. Alle waren aus hellgrauem, fast weißem Blech gefertigt und hatten strahlend blaue Dächer. Zunächst verstand ich nicht genau, was der ganze Zirkus hier sollte, doch dann stand ich plötzlich vor einem gigantischen Plakat, das jedem das Geheimnis dieser Baustelle offenlegte. Es hatte die Größe einer Kinoleinwand und zeigte eine computeranimierte Grafik. Dieses Mal fiel ich nun vollkommen vom Glauben ab.

„Heiko!“ schrie ich über den Baustellenlärm hinweg zurück zu dem Platz, an dem Heiko mit den Wagen wartete. „Das musst du dir ansehen!“

Etwas unwillig raffte sich Heiko auf um sein Plätzchen zu verlassen und kam zu mir herüber.

„Das glaubst du mir nie!“ empfing ich ihn und deutete auf das Plakat.

„ Ach du Scheiße!“ rief Heiko entsetzt, „das können die doch nicht ernst meinen!“

Doch das Plakat ließ keinen Zweifel. Wenn die ganze Aktion hier nicht der größte Aprilscherz aller Zeiten war, dann sollte hier an dieser Stelle tatsächlich eine sechsspurige Autobahn gebaut werden. Mitten durch die unberührten Berge am Rande des Landes. Mitten durch ein Gebiet, in dem fast niemand wohnte, in dem es noch freilebende Bären, Wölfe und Luchse gab und in dem ganz sicher niemand eine Autobahn brauchte. Es gab ja bereits eine Straße, die hier durchführte und die war nahezu unbefahren. Sie auszubauen wäre übertrieben gewesen, aber sie gleich durch eine Autobahn zu ersetzen, mit der man das komplette Gebirge zerstörte? Wie konnte man auf so eine Idee kommen?

Trotz des Schocks über die bevorstehende Zerstörung dieses Naturparadieses hatten wir noch immer Hunger und so betrat ich das Arbeitscamp um dort wenigstens nach etwas zum Essen fragen zu können. Doch nicht einmal in dieser Richtung gab es eine positive Nachricht. Die Kantine war zwar geöffnet und es gab noch reichlich Essen, das kurz davor war, in den Abfalleimer zu wandern, doch ohne eine ausdrückliche Genehmigung des Bauleiters wollte uns der Kantinenchef nichts überlassen. Der Bauleiter jedoch war unauffindbar und die einzige Auskunft, die wir von den Arbeitern bekommen konnten war, dass er wahrscheinlich ein Schläfchen machte.

Auffällig war, dass die Führungspersonen allesamt chinesischen Ursprungs waren und dass auch die Beschriftungen an den Gebäuden immer sowohl in Serbisch als auch in Chinesisch gehalten waren. Warum das so war, konnten wir uns zu diesem Zeitpunkt noch nicht erklären.

Mit einem Gefühl der Trauer in der Brust und einem Gefühl der Leere im Magen verließen wir den lauten, staubigen Ort der Zerstörung und wanderten weiter auf der kleinen Straße durch die schroffen Felsen und die tiefgrünen Wälder. Wir hatten ein unverschämtes Glück, dass wir jetzt hier entlangwandern durften. Bereits ein Jahr später wäre von der Schönheit hier nichts mehr übrig gewesen. Wenn die Autobahn wirklich so umgesetzt wurde, wie es das Plakat versprach, dann sollte sie nicht durch das Gebirge führen. Sie sollte das Gebirge ersetzen. Wenn ein Berg im Weg war, dann wurde er eben abgetragen und beseitigt. Klar wirkt das am Anfang vielleicht größer, als es am Ende wirklich ist, denn eine Autobahn verschlingt natürlich kein ganzes Gebirge. Auch würde das Gebirge die Autobahn noch Millionen von Jahren überdauern. Aus Sicht der Berge mochten es Nadelstiche sein, die für wenige Sekunden einen kleinen Schaden hinterließen, der schon bald nicht mehr erkennbar sein würde. Doch aus unserer eigenen Sicht, der eines Menschen, dessen irdisches Leben im Vergleich zum Weltgeschehen undenkbar kurz erscheint, wirkte dieses Bauprojekt wie ein Massaker, dessen Grausamkeit seines gleichen suchte.

Die Einheimischen, die hier in der Nähe wohnten, sahen die Sache jedoch wesentlich entspannter als wir.

„Die Autobahn wird durch das Nachbartal verlaufen!“ sagte ein Mann, denn wir einige Kilometer weiter ansprachen, als er gerade das Holz für seinen Kamin zerkleinerte. „Hier merken wir davon nichts, also ist es mir egal, was sie machen!“

In Bezug auf seinen eigenen Stresslevel war das zweifelsfrei eine gesunde Einstellung, aber so sicher waren wir uns nicht, ob er sich damit langfristig nicht ordentlich in die Nesseln setzte. Denn so wirklich weit weg war die Baustelle nicht gewesen und auch wenn die künftige Fernstraße nicht durch seinen Vorgarten führte, vom Lärmpegel würde er wohl kaum verschont bleiben. Vorausgesetzt natürlich, die Autobahn wurde überhaupt angenommen und endete nicht wie jene in Spanien, auf denen am Ende alte Herren spazieren gingen, weil sie so schön eben und angenehm zum Laufen waren.

Seit der Baustelle ging es nun fast nur noch bergab. Unten im Tal gelangten wir dann an einen kleinen Ort, der fast nur aus Ferienhäusern bestand. Er war nun nahezu ausgestorben, weil die Urlaubszeit in Serbien und Montenegro bereits seit ein paar Tagen vorbei war. Dennoch fanden wir eine Bar, die noch immer geöffnet hatte und in der wir eine lokale Spezialität geschenkt bekamen. Die Wirtin nannte uns den Namen und fragte, ob wir damit einverstanden wären. Da wir keine Ahnung hatten, was er bedeutete und da es ohnehin nur dieses eine Gericht gab, sagten wir einfach Ja. Während wir warteten wurden wir von unserem Übersetzer aufgeklärt. Es handelte sich um eine Lokaltypische Fischcremesuppe. Heiko wurde sofort etwas skeptisch und seine Vorfreude sank merklich, doch als wir die Teller mit der heißen, dampfenden Suppe serviert bekamen, erhellte sich seine Miene sofort wieder.

„Gott ist die lecker!“ entfuhr es ihm gleich nach dem ersten Löffel. Und er hatte Recht! So ein gutes Essen hatten wir schon lange nicht mehr bekommen.

Da das Dorf ohnehin ausgestorben war schlugen wir unser Zelt auf einem kleinen Hügel direkt zwischen den Häusern auf. Links von uns befand sich ein Ski-Lift für Anfänger und rechts ein verlassenes Jugendcamp. Im Winter mussten hier ganze Kinder- und Jugendgruppen anreisen, um Ski-Fahren zu lernen. Doch jetzt war niemand hier. Es hätte auch etwas komisch ausgesehen, so ganz ohne Schnee.

Auf meinem Streifzug durch den Ort brauchte ich eine Weile, bis ich ein belebtes Haus ausfindig machen konnte. Hier traf ich eine nette Familie, die uns gleich mit allem versorgte, was wir brauchten, angefangen von Wasser bis hin zu Kartoffeln, Tomaten und sogar Würstchen.

Der Abend wurde wieder ordentlich kalt und unser Essen schien prädestiniert dafür zu sein, ein Lagerfeuer-Essen zu werden. Also schichteten wir die Hölzer auf, die neben unserem Zeltplatz lagen und schürten ein kleines Grillfeuer.

„Guten Abend!“ begrüßte uns ein Mann auf serbisch, als Heiko gerade die ersten Flammen auflodern ließ. Er begann ein bisschen mit uns zu plaudern und es stellte sich heraus, das er sowohl der Eigentümer dieses Grundstückes, als auch der Holzvorräte war. Doch unsere Anwesenheit störte ihn nicht im Geringsten. Er schien sich sogar geehrt zu fühlen.

„Es ist wirklich ein schöner Platz zum Zelten hier!“ meinte er und blickte über die Berge und in den Sternenhimmel. Dann schaute er zu unserem Feuer und meinte: „Oh, ihr müsst aufpassen, dass ihr dieses Holz da nehmt! Das andere ist noch feucht, das wird euch keine Freude machen!“

Wir waren begeistert. So angenehm und unkompliziert konnte man es also auch machen. Wir luden den netten Kerl ein, mit uns zu Essen, doch er lehnte dankend ab. „Meine Frau hat gekocht und sie wird sauer, wenn ich einfach so wegbleibe!“ sagte er lachend zur Entschuldigung. Dann wünschte er uns einen schönen Abend und guten Appetit und verschwand im Dunkeln.

Wir schnappten unsere Matten und kuschelten uns so nah wie möglich an die Flammen. Es roch nach gerösteten Kartoffeln, nach Bratäpfeln und frisch gegrilltem Fleisch. So hatten wir unser Essen auch schon lange nicht mehr zubereitet. Es hatte etwas beruhigendes, friedliches und gleichzeitig kam ein Gefühl von grenzenloser Freiheit in uns auf. Da waren wir nun. Zwei Reisende, irgendwo in den Bergen, umgeben von kalter Nachtluft, von knisternden Flammen, leuchtenden Sternen und leise rauschenden Bäumen. Es fühlte sich gut an.

So endete unsere gemeinsame Zeit mit Paulina. Von nun an gingen wir wieder zu zweit weiter. Einige Tage später hatten wir noch einmal kurz kontakt und erfuhren dabei, dass sie von Podgorica zunächst nach Mazedonien und von dort weiter an die griechische Küste gereist ist. Sie schien soweit keine Probleme gehabt zu haben und es ist ihr auch nichts zugestoßen. Wie es für sie weitergeht und wo sie ihr Weg hintreibt, wissen wir nicht. Das ist eine andere Geschichte und sie soll an einer anderen Stelle erzählt werden.

Und was ist mit uns? Wie sehen wir die Sache nun mit einem Abstand von knapp zwei Monaten?

Vieles haben wir wirklich loslassen können, doch auch wir merken, dass immer wieder Gedanken und Gefühle in uns aufkommen, die wir noch nicht vollkommen bereinigt haben. Eine Gedankenstimme ist dabei immer wieder besonders aktiv und sie führt bis heute dazu, dass immer wieder auch noch ein Groll oder eine Wut gegenüber Paulina aufkommt. Es ist der Gedanke, dass uns durch die Erfahrung mit ihr, die Vorstellung verloren gegangen ist, wie ein Herdenleben in Freude, Harmonie, Leichtigkeit und Wachstum möglich sein kann. Anfang des Jahres hatten wir davon noch eine klare Idee und eine angenehm wirkende Wunschvorstellung. Es hat sich nun gezeigt, dass es so wohl nicht ganz so gut klappt und immer wieder schleicht sich die Gedankenstimme ein, die Paulina dafür die Schuld gibt. Auch wenn wir wissen, dass es nicht so ist. Im Gegenteil, eigentlich hat uns die gemeinsame Zeit mit ihr ja sogar ein gutes Stück dichter an die Möglichkeit eines Herdenlebens gebracht, da wir nun viel darüber lernen durften, was zuvor nur vage Ideen waren. Es wird nur wohl noch eine Weile dauern, bis diese Erkenntnis auch in unserem Gefühl wieder angekommen ist und bis wir bereit sind, einen zweiten Versuch zu wagen. Dieses Mal vielleicht auf eine ganz andere Art und Weise.

 

Spruch des Tages: Das ist eine andere Geschichte und sie soll an einer anderen Stelle erzählt werden. (Michael Ende)

 

Höhenmeter: 1250 m

Tagesetappe: 36 km

Gesamtstrecke: 12.286,27 km

Wetter: sonnig und warm

Etappenziel: Bed & Breakfast, 87070 Albidona, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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