Tag 431: Rimini

von Heiko Gärtner
11.03.2015 19:59 Uhr
Noch 4 Tage bis zu Heikos 2. Weltreisegeburtstag!

San Marino haben wir nun doch endgültig hinter uns gelassen. Diesmal ohne es zu merken. Irgendwann wurden die Nummernschilder der Republik San Marino immer seltener und die mit dem altbekannten I übernahmen die Vorherrschaft. Ein Grenzschild sahen wir jedoch nicht.

Auch die Hügel wurden nun zusehends flacher und die meiste Zeit führte uns der Weg bergab, bis wir schließlich die Meereshöhe erreicht hatten und mehr oder minder gerade nach Rimini einmarschieren konnten. Als wäre es ein physikalisches Naturgesetz, nahm mit dem Verschwinden der Berge der Verkehr wieder zu. Wie kamen wir Menschen eigentlich darauf, die größten Straßen immer dort hin zu bauen, wo man auch am besten wandern konnte? Für ein Auto machte es doch überhaupt keinen großen Unterschied, ob es einen Berg hinauf und hinunterfuhr. Klar, der Spritverbrauch änderte sich dadurch schon etwas, aber der Fahrer im Inneren gerät dabei nicht ins Schwitzen, so wie es ein Wanderer oder Fahrradfahrer tut, wenn er einen Berg hinauf muss. Dafür zerstört ein Wander- oder Fahrradweg keine ganzen Täler, anders als es eine Autobahn oder Schnellstraße macht. Doch auf diese Tatsachen wird beim Straßenbau niemals wert gelegt. Zumindest hier nicht. Ist es nicht verrückt, dass der Mensch, bei der Planung seiner eigenen Weltgestaltung überhaupt keine Rolle zu spielen scheint? Wir bauen die Straßen nicht damit es uns als Menschheit besser geht, sondern damit wir als Firmen mehr Profit machen, als Fahrer schneller vorankommen, als Bauunternehmen mehr arbeiten und als Staat mehr Steuern einnehmen können. Es ist fast, als kämen Menschen in diesem System überhaupt nicht vor.

Das gleiche Bild zeichnete sich auch in Rimini ab. Heiko hatte auch hier als Kind einmal Urlaub gemacht und hatte ebenso wie von San Marino noch einige verschwommene Bilder im Kopf. Ich kannte Rimini nur von einer uralten Post-Werbung, bei der einige Babys in einem Raum saßen und sie unterhielten als wären sie Erwachsene. Ein kleiner Junge hat dabei einem Mädchen von Rimini vorgeschwärmt und wollte es dahin ausführen. Ich habe keine Ahnung, warum ich mich an diese Werbung noch erinnere, aber irgendwie ist die offensichtlich hängen geblieben. Für mich war Rimini daher ein unbekannter, fast mysteriöser Ort irgendwo auf der Welt, der einen lustigen und gleichzeitig wohlklingenden Namen hatte. Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal wirklich hierher reisen würde und erst recht nicht zu Fuß.

Jetzt, wo ich hier bin, muss ich jedoch sagen, dass es auch keine Reise wert ist. Es gab schon viele Orte, die uns als besonders sehenswert angepriesen wurden und von denen wir dann eher endtäuscht wurden. Hier jedoch scheint es einfach überhaupt nichts zu geben, das einen Sommerurlaub auf irgendeine Weise rechtfertigen würde. Abgesehen natürlich, von einem Sandstrand und einer recht hohen Wahrscheinlichkeit dass sie Sonne scheint. Aber ist das allein wirklich Grund genug? Rund zwei Drittel der Erde sind von Meer bedeckt, was bedeutet, dass es unendlich viele Küsten und Strände gibt, was also lockt die Millionen von Sonnenurlauber ausgerechnet hier her. Auch Heiko konnte nicht mehr ganz nachvollziehen, was ihm als Kind hier gefallen hatte. Dies ist eben wieder der Vorteil von kleinen Kindern. Gib ihnen einen Strand, die Möglichkeit Burgen zu bauen und in den Wellen zu spielen und sie sind glücklich, egal, wie es um sie herum aussieht. Als Erwachsene schafft man das nicht mehr ganz so einfach. Dann nimmt man auch die gewaltigen Bettenburgen war, die sich dicht an dicht am Strand aneinanderreihen und die ihre langen Schatten in Richtung Meer werfen, so dass man von der Sonne kaum noch etwas abbekommt. Dann registriert man auch die vielen Autos, die wieder, wie auch an der Westküste, direkt an der Strandpromenade vorbei fahren. Dann schafft man es nicht mehr, über den Müll und die vielen Anzeichen des Verfalls hinwegzusehen, die überall präsent sind. Im Sommer mag das etwas anderes sein. Wenn man sich die kleinen, in durchnummerierte Parzellen eingeteilten Strandabschnitte mit tausenden anderer Touristen teilt und die Promenade so überfüllt ist, dass man den Boden nicht mehr sehen kann, dann fallen einem solche Details wahrscheinlich nicht mehr auf. Einfach deshalb, weil der Blick darauf versperrt wird. Aber jetzt im Winter zeigen die Häuser, die Buden, die Straßen, Gassen und Wege ihr wahres Gesicht. Die Farbe, die in der Hauptsaison über die rostigen Geländer und Schirmständer gepinselt wird, um zu kaschieren, wie kaputt sie bereits sind, ist längst schon wieder abgeblättert. Der Sand ist vom Strand bis weit auf die Straße hinausgeweht, doch jetzt außer der Saison kümmert sich niemand darum, ihn wieder wegzuräumen. Zwischen den Strandhütten sitzen nun die Obdachlosen und freuen sich darüber, dass sie in Ruhe ihr Bier trinken können. Wenigstens sie machen das Beste aus der Situation.

In einem Restaurant bekamen wir eine Schale mit Pommes und etwas gegrilltes und frittiertes Gemüse. Damit setzten wir uns an eine verlassene Imbissbude am Strand und streckten unsere Beine in die Sonne. Im Sommer musste genau hier an dieser Stelle auch die Hölle los sein, doch jetzt sah es aus, wie nach einem Armageddon. Von der Decke hingen einige Fetzten von einem samtenen Leopardenstoff, die an eine Holzleiste getackert waren. Die Leiste selbst war unter den vielen Krampen kaum noch zu sehen, was darauf hindeutete, dass jedes Jahr ein neuer Stoff darübergepappt wurde. Das erklärte auch den angsteinflößend schlechten Zustand der Decke. Man brauchte sie nicht reparieren, neu streichen, vom Rost und Schimmel befreien oder das aufgequollene Holz erneuern, wenn man einfach einen neuen Stoff davor hing, der alles verdeckte.

Auf unserem Weg am Strand entlang zählt Heiko im Kopf grob zusammen, wie viele Betten und Strandliegeplätze es hier geben muss. Er kommt auf rund 2 Millionen. Zwei Millionen Menschen, die gleichzeitig hier Urlaub machen können und die jede Woche wieder abreisen und neuen Platz machen. Es ist das reinste Sardinenfestival, wobei Sardinen in ihrer Dose wahrscheinlich noch mehr Platz haben. Bis vor kurzem haben wir wirklich noch gedacht, die Massentierhaltung in den Hühnchenfarmen sei Tierquälerei, doch verglichen mit dem hier haben die kleinen Federwesen sogar noch richtig viel Freiheit. Kein Wunder, dass es uns Menschen egal ist, wie die Nahrungsmittelindustrie mit den Tieren umgeht, wenn wir uns selbst freiwillig das gleiche antun und das ganze dann auch noch Urlaub nennen. Jedem Hotel ist ein Strandabschnitt zugeordnet, auf dem sich die Gäste niederzulegen haben. Als Familie, so erinnerte sich Heiko noch an seine Erfahrung aus der Kindheit, bekommt man dabei einen Sonnenschirm, zwei Liegen und zwei Stühle zugeteilt. Man kann sich also entscheiden, ob man seinen Kindern oder sich selbst die Entspannung gönnen will. Liegen für alle ist nicht drin, denn dafür ist nicht genug Platz. Wie aber will ich einen Urlaub genießen und zur Regeneration nutzen können, wenn ich dabei noch mehr eingepfercht werde und noch weniger Freiheiten, Ruhe und Zeit für mich habe als in meinem Berufsalltag? Der Vergleich mit der Massentierhaltung war kein Witz. Man kann andere nur so sehr lieben, wie man sich selbst liebt und wenn man bereit ist, sich selbst solch eine Selbstverstümmelung anzutun, wie will man sich dann um das Wohl anderer kümmern? Vor allem um das Wohl eines anonymen Stückchen Fleischs, dass gebraten auf unserem Teller liegt?

Irgendwo in der Nähe der Innenstadt konnten wir einen Schlafplatz in einem Cappucciner-Kloster auftreiben und von dort aus unsere Erkundungstouren machen. Doch selbst hinter den dicken Klostermauern hörte man den Verkehr noch immer so laut als wäre man mitten auf der Straße. Dazu erzeugten sie jedoch noch eine Art Überschall, ein dumpfes Brummen, dass wie ein verpolter Subhoover klingt. Nicht gerade ideale Voraussetzungen, um als Mönch in der Stille zu Gott zu finden. Wie krass muss es dann erst in den teuren Hotels sein, die ebenfalls direkt an dieser Straße gebaut wurden und die dünnere Wände und Fenster haben? Kann es wirklich Sinn der Sache sein, dass man nach einem Sommerurlaub, der eigentlich Entspannung bringen soll mit einem permanenten Dröhnen im Schädel wieder heimfährt?

Vom Strand aus wanderten wir ins Stadtzentrum, oder besser gesagt, in die Richtung, die mit „Stadtzentrum“ ausgeschrieben war. Denn ein richtiges Zentrum konnten wir lange Zeit nicht finden. Irgendwann standen wir auf einem eckigen Platz mit einigen Geschäften und Kirchen um uns herum und akzeptierten ihn als Mittelpunkt der Stadt. Als sehenswert empfanden wir ihn nicht. Abgesehen von einem Obdachlosen, der seelenruhig vor einer Kirche in der Sonne auf dem Gehsteig schließ, gab es nichts Interessantes. In jeder anderen Stadt auf dem Weg wäre es nicht einmal eine Erwähnung wert gewesen. Auch das erklärte also nicht, was all die Menschen hier her lockte.

Schließlich setzten wir uns vor einen kleinen Supermarkt und machten das, was auch der Obdachlose vor der Kirche getan hatte. Wir sonnten uns und genossen das Leben. Am Strand war es dafür leider etwas zu laut gewesen und auch der Wind war zu stark. Dafür hatten wir dort jedoch einen kleinen Steg gefunden, auf dem man bis weit ins Meer hineinlaufen konnte. Eigentlich durfte man es nicht, aber die Absperrung war nicht besonders hoch. Der Steg bestand komplett aus Eisengitter und so kam es, dass die vom Wind aufgepeitschte See ihre Wellen immer wieder zu uns nach oben spritzen ließ, so dass wir schnell hochspringen oder uns auf das Geländer retten mussten. Es stimmte also doch nicht ganz! Auch wir waren noch in der Lage, alles andere um uns herum zu vergessen und uns über das Spiel mit den Wellen zu freuen.

Jetzt vor dem Supermarkt begannen wir eine neue Leidenschaft zu entdecken. Paulina war bereits bei ihrem ersten Besuch bei uns ein begeisterter Fan von Seifenblasen gewesen und hatte sich in diesem Gebiet bereits zu einer richtigen Künstlerin entwickelt. Auch uns hatte sie damit angesteckt und als wir gestern durch Zufall zwei kleine Fläschchen mit Seifenblasenlotion gefunden hatten, konnten wir nicht widerstehen. Jetzt war die perfekte Gelegenheit um unser neues Spielzeug auszuprobieren. Dabei faszinierten wir nicht nur uns, sondern auch die Passanten und bekamen zunächst 6€ und dann eine Tüte mit Bananen, Birnen, Karotten und Tomaten geschenkt. So ließ sich das Leben aushalten! Man machte etwas, das einem selber Freude bereitete und das das innere Kind zum jubeln brachte und gleichzeitig verdiente man sich damit noch sein Abendessen.

Spruch des Tages: Unser Planet braucht keine weiteren Erfolgsleute. Der Planet braucht mit Bestimmtheit mehr Friedensstifter, Heiler, Bewahrer, Geschichtenerzähler und Liebende aller Art. (Dalei Lama)

 

Höhenmeter: 120 m

Tagesetappe: 30 km

Gesamtstrecke: 7916,77 km

Wetter: Sonnig mit zügigem Wind

Etappenziel: Kloster der Cappuccini-Brüder, 47921 Rimini, Italien

 Noch 5 Tage bis zu Heikos 2. Weltreisegeburtstag!

Als wir gestern auf dem Gipfel des Berges von San Marino standen waren wir uns sicher: Dies war der letzte Tag, an dem wir durch die Berge gewandert sind. Der Blick nach vorne zeigte ein flaches, ja fast übertrieben platt wirkendes Land, das nahezu übergangslos ins Meer über ging. Diese Flachebene zog sich nach Norden bis zum Horizont hin. Bis wir in die Region von Triest kämen, dürften Höhenmeter also kein Thema mehr sein.

Doch weit gefehlt. Wenn man das Land nicht mehr von oben sondern aus der Frontperspektive betrachtete, dann war es durchaus noch hügelig. Wirklich hügelig sogar. Nie hätten wir gedacht, dass wir heute steilere und anstrengendere Weg meistern würden, als wir es gestern und vorgestern getan hatten.

Doch das war nur eine Herausforderung die wir zu bewältigen hatten. Die zweite war diese unsichtbare Schlinge, die San Marino um unsere Füße gewunden hatte. Es war das gleiche Netz, in dem wir uns bereits in Rom und auch an einigen anderen Orten verfangen hatten. Wie durch eine unsichtbare Macht wurden wir immer wieder davon abgehalten voranzukommen und San Marino hinter uns zu lassen. Wahrscheinlich sind wir heute so oft im Kreis gelaufen, dass wir nun jeden einzelnen Winkel des Zwergstaates gesehen haben. Immerhin können wir jetzt behaupten, dass wir die Besichtigung ernst genommen haben.

Bereits in den ersten Metern nach Verlassen des Klosters kamen wir von dem Weg ab, den ich eigentlich zuvor bei Google rausgesucht hatte. Wir standen also ohne Karte und Wegbeschreibung da und mussten frei nach Intuition und Sonnenstand wandern. Das dürfte ja eigentlich nicht so schwierig sein, denn das Land vor uns war flach und wir wollten einfach irgendwo ans Meer. So jedenfalls dachten wir heute Vormittag. Wenige Minuten später mussten wir jedoch feststellen, dass wir einer optischen Täuschung erlegen waren, was die Plattheit des Landes anbelangte. Zumindest im Umkreis von San Marino war der Erdboden in Urzeiten immer wieder tief abgerutscht oder zu großen Haufen aufgetürmt worden. Wer oder was dafür verantwortlich war, kann ich nicht sagen, aber wenn wir ihn erwischen, dann hätten wir nach dem heutigen Tag schon ein Wörtchen mit ihm zu bereden.

So schön San Marino auf der einen Seite auch war, es hatte den gleichen unsympathischen Hang wie Italien, seine Straßen einfach ins Nichts verlaufen zu lassen. Ich meine, wofür wurden Sackgassenschilder denn erfunden, wenn man sie nicht aufstellt? Und wenn man sie schon aufstellt, gehören sie dann nicht an den Anfang einer Straße? Was ist das für eine Machart, die Leute erst zweieinhalb Kilometer fahren zu lassen und dann ein Schild aufzustellen mit „Sackgasse in 450m“? Da kann man es sich doch auch gleich sparen! Wenn es zu diesem Zeitpunkt noch eine Alternativmöglichkeit geben würde, dann ist das ja OK, aber auf einer geraden Straße von der es keine einzige Abzweigung gibt? Das ist schon etwas unfair, findet ihr nicht?

Da uns die Straßen nicht weiterhalfen entschieden wir uns, einfach querfeldein zu wandern. Wenn so dicht vor dem Meer ein Bach in eine Richtung floss, dann musste er doch irgendwann auch im Meer landen! Oder etwa nicht? Wir folgten den Talverläufen wateten durch kleine Bäche, staksten wie zwei Störche im Schlamm herum und kraxelten, wenn es nicht weiter ging wie zwei Bergziegen wieder den Hang hinauf. Irgendwann kamen wir dann in ein Tal, in dem es wieder eine Ortschaft und Wegweiser mit der Aufschrift „Rimini“ gab. Von jetzt an, sollte es also wirklich kein Problem mehr sein!

Erst hier stellten wir fest, dass wir uns noch immer innerhalb der Staatsgrenzen von San Marino befanden. In der folgenden halben Stunde verließen wir den Kleinstaat mindestens vier Mal, nur um dann wenige Meter weiter wieder zurück über die Grenze zu treten. Glücklicherweise gab es hier keinen Zoll mehr, sonst wäre das echt eine langatmige Prozedur gewesen. Das Problem bestand darin, dass die einzige direkte Straße, die aus San Marino hinausführte eine vierspurige Schnellstraße war, an der man unmöglich entlangwandern konnte. Und damit meine ich wirklich unmöglich! Wir haben es vier Mal versucht und jedes Mal wieder abgebrochen. Plötzlich hielt ein Mann vor uns, der gerne ein paar Fotos von uns machen wollte. Wir hatten nichts dagegen. Er war auf seine Art ein freundlicher Kerl, der jedoch die leicht unangenehme Art hatte, einem anderen Menschen nicht zuzuhören, sondern lieber zu raten, wie dieser seinen Satz wohl beenden würde. Er fragte uns nach unserer Reiseroute und noch ehe wir etwas darauf erwidern konnten, hatte er sich schon seine eigene zurechtgelegt. Wir nickten sie nur noch ab, denn ihn zu korrigieren wäre aussichtslos gewesen. Dann fragten wir ihn nach einem Alternativweg und er zählte ein paar Dörfer auf, durch die wir wandern könnten.

„Danke!“ sagte ich, und holte einen Zettel aus der Tasche, „könnten sie uns vielleicht aufschreiben, wie...“

„Ah,“ sagte er, „ihr wollt meinen Namen!“ Er schnappte sich den Zettel und Schrieb seinen Namen darauf.

„Ok,“ setzte ich erneut an, „das ist nett aber eigentlich wollten wir...“

„Richtig!“ lenkte er ein, „ihr habt vollkommen Recht! Der Name hilft euch ja gar nichts, ihr braucht natürlich auch meine Mail-Adresse! Wisst ihr, wenn ihr wirklich einmal um die Welt gewandert seit, dann müsst ihr mir schreiben und erzählen, wie es war! Und dann können wir ja einen regelmäßigen Mailaustausch pflegen.“

„Danke!“ sagte ich und holte zu einem dritten Anlauf aus: „Die Orte! Können sie uns bitte noch die Namen der Orte aufschreiben, durch die wir wandern müssen? Wir können sie uns unmöglich merken!“

Diesmal hatten wir Glück und er schrieb uns die Informationen auf, die wir brauchten. Als wir eine gute Stunde später den Ort erreichten, den er ganz oben auf die Liste geschrieben hatte, waren wir ungefähr hundert Meter oberhalb und hundert Meter westlich von einem Einkaufszentrum entfernt, an dem wir bereits zwei Stunden zuvor entlanggewandert sind. Wir hatten also einen Umweg von locker acht Kilometern und 250 Höhenmetern gemacht, nur um zum Ausgangsort zurückzukommen. Und noch immer waren wir in San Marino.

Völlig erschöpft legten wir uns auf einen Parkplatz neben der kleinen Kirche. Vielleicht hatten wir ja Glück und der Pfarrer tauchte irgendwann auf, während wir hier lagen. Und wenn nicht, dann wirkte der Parkplatz zum Übernachten auch recht einladend. Zumindest jetzt in dem Moment, in dem die Sonne noch schien. Vielleicht sollten wir einfach liegen bleiben, bis sie am Morgen wieder aufging.

Das mussten wir glücklicherweise nicht. Der Pfarrer kam und wir bekamen einen Raum in dem wir sogar eine Küche hatten. Zunächst war er jedoch noch von den Kommunionskindern belegt und da wir schon einmal da waren, wurden wir gleich noch zu Anschauungsobjekten für den Unterricht: „Seht ihr Kinder, die beiden jungen Männer hier sind Pilger, die auf ihrer Glaubensreise von Deutschland bis hier her gewandert sind. Alles zu Fuß, könnt ihr euch das vorstellen?“ Einige Kinder spielten im Handy, andere kicherten vor sich hin und wieder andere begannen wild damit zu winken und „Bongiorno!“ zu rufen. Das Interesse am Unterricht schien also im Allgemeinen nicht allzu hoch zu sein.

Die Unterrichtszeit der Kinder nutzten wir genauso, wie wir es auch in unserer eigenen Schulzeit hin und wieder gemacht hatten. Wir gingen einkaufen.

In Falciano selbst gab es nur einen einzigen Obsthändler, der uns aber nicht unterstützen wollte und so mussten wir den Berg hinab in die Stadt wandern. Dabei kamen wir in exakt jener Straße heraus, in der wir bereits am Mittag gewesen waren. Wir hatten einen Mann vor einem Café gefragt, ob es hier in der Nähe einen Pfarrer gab und er hatte uns den Weg zu einer Kirche hoch oben auf dem Berg beschrieben. Das war uns jedoch zu weit uns zu anstrengend gewesen, weshalb wir uns dagegen entschieden hatten. Hätten wir es doch nur besser gewusst.

Ein kleiner Gemüsehändler versorgte uns mit ausreichend Grünfutter, doch für weitere Zutaten mussten wir im naheliegenden Supermarkt etwas von unseren Spendengeldern opfern. Dabei fiel uns auf, dass sich das Angebot in San Marino deutlich von dem in Italien unterschied, obwohl es die gleiche Supermarktkette war. In Italien jedoch war die Auswahl an Lebensmitteln so verschwindend gering, dass man fast nicht mehr damit kochen konnte. Hier gab es hingegen alles, was man sich nur vorstellen konnte. Dafür allerdings auch zu Preisen, die einen Schwindelig machten. Spannend waren aber vor allem die Ungereimtheiten in der Preisfindung, die zeigten, wie sehr die Preisgestaltung eine Willkür der Industrie ist. So kosten 6 Eier beispielsweise 1,89€. Eine Flasche mit einem Liter reinem Eiweiß, in der rund fünfzig Eiger verarbeitet wurden, die dann auch noch von Schale und Eigelb getrennt werden mussten, kosteten nur etwas mehr als 3€. Wie konnte so etwas sein? Warum war ein Ei mit Schale mehr als das 16fache von bereits verarbeiteten Eiern wert? Seht ihr da eine logische Erklärung?

Auf dem Heimweg kamen wir an einem Kiosk vorbei, der die Tageszeitung in seinem Fenster ausgestellt hatte. Der Artikel auf der Titelseite lautete: „Wolf in Borgo Maggiore gesichtet!“ Borgo Maggiore, das war der Ort, in dem wir gestern übernachtet haben. Wir hatten ja bereits vermutet, dass es hier Wölfe gibt und Heiko war ja sogar schon über ihre Spuren gestolpert. Doch wenn sie sich bereits in den Städten blicken ließen, dann musste es noch weit mehr geben, als wir geglaubt hatten.

 

Spruch des Tage: Es fällt uns so schwer zu vertrauen, weil es anderen so schwer fällt zu lügen.

 

Höhenmeter: 620 m

Tagesetappe: 33 km

Gesamtstrecke: 7886,77 km

Wetter: größtenteils sonnig mit zügigem Wind

Etappenziel: Gemeindehaus, 47891 Falciano, San Marino

Noch 6 Tage bis zu Heikos 2. Weltreisegeburtstag!

Vor vielen Jahren, als Heiko noch ein kleiner Junge war, hatte er San Marino das erste Mal mit seinen Eltern besucht. Damals war die Stadt für ihn eine einzige große Ritterburg gewesen, in der man lauter aufregende Dinge entdecken, mit Schwerter spielen und sich vorstellen konnte, wie es war, selbst ein mächtiger Raubritter mit einem schwarzen Ross zu sein. Diese Erinnerungen von damals hatten sich all die Jahre in seinem Kopf gehalten und bestanden darin noch immer fort. Bis heute.

Etwa dreißig Jahre später erreichten wir den kleinen Zwergstaat heute ein zweites Mal und nun bot sich Heiko die Gelegenheit, seine Erinnerungen aus der Kindheit mit der Wahrnehmung von heute abzugleichen. Es war fast, als wäre er nie hier gewesen. Bis wir am späten Nachmittag die Altstadt mit der Burg hoch oben auf dem Berggipfel erreichten, kam ihm fast nichts bekannt vor. War dies überhaupt das San Marino aus seiner Erinnerung? Oder gab es vielleicht doch mehr Zwergstaaten mit diesem Namen in Italien, als man allgemein annimmt? Erst als wir wieder oben auf den alten Mauern standen und die Klippen ins Tal hinunterblickten, das kehrte die Erinnerung zurück. Dies war wirklich die Burg, die der kleine Heiko damals erobert hatte. Nur hatte es zu dieser Zeit hier keine Autos und keine Baustellen gegeben. Jedenfalls nicht für ihn. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass San Marino vor 30 Jahren wirklich noch komplett ohne Verkehr gewesen ist, ist eher gering. Dafür sind unsere Fähigkeiten als Kinder, nur die Dinge wahrzunehmen, die wir wahrnehmen wollen, absolut verblüffend. Auch die unzähligen Souvenirshops, die sich entlang der Burgmauern aneinanderreihten, wie Perlen auf einer Schnur, kamen in Heikos Erinnerungen nicht vor. Das war mehr als nur verständlich, denn sie störten das Gesamtbild der mittelalterlichen Hochburg ungemein. Faszinierend war auch, was man hier alles kaufen konnte. Neben Ritter-, Elfen-, Feen-, Engel- und Dämonenfiguren gab es vor allem Waffen aller Art, sowohl als Spielzeuge, denn auch in Form von funktionierenden Tötungsgeräten. Mit dem Motto „Ritter“ ließ sich eben alles rechtfertigen. Das meiste von dem Krimskrams ließ sich nur deshalb verkaufen, weil es hier verkauft wurde. Würde man es im Ramschladen bei sich zu hause um die Ecke für ein Zehntel des Preises angeboten bekommen, würde man ihm nicht einmal eines Blickes würdigen. Auffällig war auch, dass alle Lädchen exakt die gleichen Waren anboten. Natürlich gab es unterschiedliche Ausrichtungen, aber überall wo man Ritterfiguren kaufen konnte, gab es die gleichen Figuren, überall wo Handtaschen angeboten wurden, wurden die gleichen Taschen angeboten und so weiter. Es war offensichtlich, dass alle zu einem einzigen Betreiber gehörten.

Doch auch wenn San Marino nicht mehr ganz der Erwartung von Heiko entsprach, war der kleine Stadtstaat einen Besuch wert. Vor allem um diese Jahreszeit, wenn die Stadt ruhig und fast verlassen daliegt und sich keine nie endenden Menschenmassen durch die schmalen Gassen drängen. Mit Ausnahme der City of London, einem kleinen Bankenstadtteil in der Londoner Innenstadt, der ebenfalls ein eigener Staat ist, haben wir mit San Marino nun die vier kleinsten Staaten Europas besichtigt: Den Vatikan, Monaco, San Marino und Andorra. Dabei muss ich sagen, dass mir San Marino von allen mit Abstand am besten gefallen hat. Klar mussten wir auch hier das letzte Stück an einer viel befahrenen Hauptstraße entlangwandern, doch verglichen mit Monaco und Andorra war das nicht der Rede wert. Auch konnte man den kleinen Staat anders als den Vatikan als solchen ernst nehmen. Klar ist auch San Marino nicht viel mehr als eine reine Touristenattraktion aber es gibt dennoch ein Eigenleben.

Lediglich unsere Ankunft in dem kleinen Zwergstaat war wieder einmal anspruchsvoller als geplant. In der Nacht hatte es so sehr gestürmt, dass wir fast nicht schlafen konnten. Der Wind riss an den Jalousien und verursachte damit einen Lärm, als hätte er die eine Hälfte des Gebäudes bereits eingerissen. Zwischen den Fenstern und Türen befanden sich Spalte von mehreren Millimetern. Trotz heruntergelassener Rollos und fest verschlossenen Fenstern wehte es immer wieder die Gardine ins Zimmer. Einige Male sprang sogar die Klotür auf, weil der Wind, der durchs geschlossene Badezimmerfenster hereindrückte einfach zu stark war.

Dementsprechend gerädert wälzten wir uns heute Morgen aus den Betten. Die anderen Gäste waren bereits wach und konnten es kaum erwarten, über uns herzufallen. Es waren wirklich liebe Leute, doch sie konnten schon etwas ansträngend sein, wenn sie einen beim Arbeiten oder beim Packen umringten und einem fast die Nasen an die Stirn drückten, um zu erfahren was wir so machten. Auch die immer gleichen Fragen sorgten dafür, dass das Entspannungslevel nach einiger Zeit rapide sank. Sie waren eben hier, weil sie geistige oder psychische Probleme hatten und die meisten von ihnen, waren nicht die schnellsten, was das Denken anbelangt. Trotzdem oder gerade deswegen zählten sie zu den offenherzigsten und interessiertesten Menschen, denen wir in Italien begegnet sind. Nur eben auch zu den anstrengendsten.

Der Sturm hatte glücklicherweise etwas nachgelassen und es kam sogar ein bisschen die Sonne durch. Die Wanderung war fast genauso anstrengend wie unsere Zimmernachbarn, da es permanent bergauf ging. Aber damit musste man wohl rechnen, wenn man einen Bergstaat besuchen wollte. Plötzlich gaben die Berge vor uns die Sicht auf San Marino und auf die unendlich weite Ebene dahinter frei. Seit wir begonnen hatten der Via Francigena zu folgen, konnten wir nun das erste Mal wieder das Meer sehen. Irgendwo da hinten lag Cattolica, der Urlaubsort, in dem Heiko als Kind mit seinen Eltern die Ferien verbracht hatte. Und davor ragte ein gewaltiger Felsen in den Himmel empor, auf dessen Spitze eine kleine Burg zu sehen war. Dies war San Marino.

Kurz darauf erreichten wir die ersten Nebenorte von San Marino und mit ihnen auch die erste Kirche. Es war ein gewaltiger, moderner Betonkomplex, in dem man locker eine ganze Armee unterbringen konnte, doch der Pfarrer war der Meinung, dass für Pilger hier kein Platz wäre. Stattdessen gab er uns die Adresse eines Klosters, in dem einige Schwestern lebten, die sich um Reisende kümmerten. Es lag jedoch auf der anderen Seite von San Marino und so mussten wir erst einmal außen um den großen Felsen herum. Eine Frau an einer Bushaltestelle beschrieb uns den Weg und deutete auf das Klostergebäude. Es war ebenfalls ein hochmoderner Betonkomplex, so wie es der Pfarrer beschrieben hatte. Der einzige Haken war nur, dass dieses Kloster rund zweihundert Höhenmeter unterhalb von San Marino im Tal lag. Für unsere Stadtbesichtigung also nicht gerade der ideale Ausgangsort.

Als wir das Kloster erreichten mussten wir jedoch feststellen, dass uns die Frau mit absoluter Überzeugung in die komplette Irre geführt hatte. Es war zwar ein Kloster, aber eben das falsche. Zunächst schien das jedoch nicht weiter tragisch, denn mit den Clarissa-Schwestern hatten wir ja bereits gute Erfahrungen gemacht. Eine junge Frau war gerade im Begriff die Nonnen zu besuchen und legte sogar noch ein gutes Wort für uns ein. Was sollte also schiefgehen? Die Nonne an der Tür, fragte uns, welche Art von Zimmer wir bräuchten, da es Einzelzimmer, Doppelzimmer, Zimmer mit Bad und Zimmer, bei denen man das Bad irgendwo auf dem Gang finden konnte gab. Dann wollte sie unsere Personalausweise haben und bat uns unsere Wagen zu einem Nebentor zu bringen. Als sie dort erschien war sie den Tränen nahe. Die Mutter Obere, die zuvor noch Ja gesagt hatte, hatte ihre Meinung nun geändert und wolle uns doch nicht aufnehmen. Sie könne da leider nichts machen. Wir müssten also doch weiter zu Schwester Norma, deren Kloster in vier Kilometern Entfernung oben auf dem Berg lag. Die Junge Frau verstand die Welt nicht mehr. Was sollte das denn jetzt? Das ganze Kloster war frei, die Nonne hatte bereits damit begonnen alles vorzubereiten und jetzt wurde uns abgesagt, weil der Obernonne der Pups quer stand? Vor ein paar Tagen hätte ich wahrscheinlich noch nichts weiter dazu gesagt. Klar hätte ich mich auch das schon darüber geärgert, aber jetzt wo ich gerade herausgefunden hatte, dass die Klarissen als eine ihrer drei Grundsätze die Gastfreundschaft fest in ihrem Orden verankert hatten, da fühlte es sich doch noch einmal anders an. Nur konnte man der Nonne, die uns gegenüberstand nicht einmal böse sein, denn sie konnte j nichts dafür. Der einzige Vorwurf den man ihr machen konnte war, dass sie sich einer solchen Obernonne unterordnete.

Die junge Frau hatte die Idee, den Pfarrer in der Kirche neben dem Kloster nach einem Platz zu fragen und begleitete uns dort hin. Doch der dicke griesgrämige Mann zuckte nur mit den Schultern und meinte: „Aha, und warum ist das mein Problem?“

Wir blieben nicht, bis er seine Rede zur Rechtfertigung beendet hatte, sondern machten uns wieder an den Anstieg. Auf halbem Wege kamen wir dann an einem alten Kloster vorbei, das den Namen Santa Maria trug. Bereits auf dem Hinweg hatten wir es gesehen und sowohl Heiko als auch ich hatten bei seinem Anblick das Gefühl gehabt, dass es ein guter Platz war. Nur dachten wir da noch, dass wir eine Verabredung hatten. Jetzt klingelten wir an der Tür und kurz darauf wurden wir von einem freundlichen und erfrischend unkomplizierten Mann zum Übernachten eingeladen. Er lebte als einziger in dem Kloster und unser Schlafraum war aufgrund mangelnder Belegschaft zu einem Zimmerpflanzenfriedhof umfunktioniert worden, aber das störte uns nicht weiter. Von hier aus hatten wir dann doch einen guten Ausganspunkt für unsere Stadterkundung.

Spruch des Tage: Nicht Menschen machen Reisen sondern Reisen macht Menschen!

 

Höhenmeter: 650 m

Tagesetappe: 27 km

Gesamtstrecke: 7853,77 km

Wetter: Kalter Wind, Wolken aber immer wieder auch Sonne

Etappenziel: Monasterio Santa Maria, 47893

San Marino, San Marino

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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