Tag 1312: Die letzte Station in Schottland
25.07.2017 Sie können es einfach nicht! Mit Campbeltown haben wir ihnen noch einmal eine Chance gegeben und waren wirklich guter Dinge, hier ein gemütliches, kleines Fischer- und Hafenstädtchen vorzufinden, von dem man sagen konnte, dass man die Touristen verstand, die hier herkamen um es sich anzusehen. Doch mit Fischerromantik hatte Campbeltown leider nicht das geringste zu tun. Es wirkte viel mehr, als würde uns die britische Hauptinsel genauso verabschieden, wie sie und empfangen hatte. Genau wie Dover war auch Campbeltown eine düstere, graue Ansammlung an Betonbunkern und verfallenen Backsteinhäusern, von denen man sich nicht vorstellen konnte, das irgendjemand in ihnen leben wollte. Die Stimmung, die in der Stadt vorherrschte war düster, aggressiv und frustriert. Nahezu jeder Mensch schaute, als wäre ihm gerade der Teufel persönlich begegnet - und vor ihnen davon gelaufen!
Wie üblich führten die Hauptstraßen mitten durch das Zentrum und wie üblich hatte man die größte von ihnen als Einkaufsmeile festgelegt.
Glücklicherweise bekamen wir trotz der äußeren Umstände ohne jedes Problem sofort einen Schlafplatz vom katholischen Pfarrer. Wenn uns die Pfarrer der katholischen Kirche in Irland genauso begegnen, dann wird das Leben dort ein Zuckerschlecken!
Der Platz selbst war seiner Umgebung durchaus angemessen, weshalb sich der Pfarrer sichtlich schämte, uns keinen besseren Ort anbieten zu können. Erst vor kurzem hatte man es geschafft, das leckende Dach zu flicken, doch die Feuchtigkeit, die in den letzten Jahren in das Gebäude eingedrungen war, wohnte hier noch immer. Der Schwarzschimmel an der Decke und den Wänden war so dicht, dass er fast ein Tapetenmuster hätte sein können. Ein bisschen gleichmäßiger und er hätte als Ikea-Wandtattoo durchgehen können. Der Spalt unter der Tür war groß genug um einen Pizzakarton hindurch zu schieben und eines der Fenster war notdürftig mit etwas Silikon und einer Plexiglasscheibe geflickt worden, um den großen Sprung zu verdecken, der sie zierte. Auf Tischen, Boden und Stühlen lag ein raffiniertes Muster aus weißen Punkten, bei denen es sich um Putzsplitter aus der herabbröselnden Decke handelte. Die Heizung leckte, so dass man ein Schälchen darunter gestellt hatte, das nun schon fast einen Eintrag als geschütztes Biosphärenreservat verdient hatte, denn die Pilzkulturen, die hier wuchsen, waren auf der Welt sicher einmalig. Das heißt, vielleicht waren sie mit denen verwandt, die im Wasserkocher gediehen, den man nach seiner letzten Benutzung vor drei Jahren nicht ausgeleert hatte. Auf dem Sofa klebte eine Warnung, dass man sich nicht darauf setzen sollte, da sie sich direkt unter einem einsturzgefährdeten Bereich der Zimmerdecke befand. Und die Toiletten hätte man in diesem Zustand in Bulgarien geschlossen, weil man sie für unzumutbar hielt. Aber ansonsten war es ein super Platz! Das beste, und das ist nicht ironisch gemeint, war, dass das Gebäude versteckt in einem Hinterhof lag, wo man nahezu nichts vom Straßenlärm und Stadttrubel mitbekam.
Von unserer extra-rustikalen Unterkunft aus, machten wir uns auf eine Hafenerkundung, um herauszufinden, von wo aus morgen unsere Fähre starten würde. Es war leicht zu finden und sollte also kein größeres Problem darstellen.
Auf der Tour durch den Hafen kamen wir auch an einigen Fischerbooten vorbei und konnten zwei Seebären in gelben Regenhosen dabei zusehen, wie sie ihren Krebsfang sortierten. Es war ein durchaus verstörender Anblick, mit was für einer Routine und Gleichgültigkeit sie die noch lebenden Schalentiere in verschiedene Eimer oder zurück ins Meer warfen. Allein von dem, was wir in den wenigen Minuten mitbekamen, die wir im Hafen verbrachten, ließ sich sagen, dass sie rund 50% ihres Fanges sterbend ins Meer zurück warfen. Einen deutlichen Unterschied zwischen den Krebsten im „Zu-Verkaufen“-Eimer und denen, die über Bord geworfen wurden, konnte man nicht ausmachen. Die letzteren schienen entweder verletzt oder kleiner zu sein, als die anderen, was theoretisch kein großes Problem hätte sein dürfen, da sie ja eh weiterverarbeitet wurden. Doch für die Fischer ging es hier nicht um den Umgang mit einem Lebewesen, sondern rein um das Sortieren einer Ware, die ein Minimum an Profit einbringen musste, damit sich der Transport und die Weiterverarbeitung überhaupt rechneten. Theoretisch war es nicht neu für uns, dass so mit Meerestieren umgegangen wurde, aber es war doch noch einmal etwas anderes, ob man darüber las oder ob man es mit eigenen Augen sah.
Den Krebsfischern bei ihrer Arbeit zuzusehen weckte in uns auch noch einmal ein paar Überlegungen zu unserem unliebsamen Gast von gestern Abend. Wir hatten uns bereits während der Wanderung gefragt, warum wir so arg mit ihm in Resonanz gegangen waren und ihm am liebsten den Hals umgedreht hätten. Der Grund war gar nicht so sehr seine unverschämte Art oder das einfordern der geschenkten Lebensmittel gewesen, sondern viel mehr der Umstand, dass er uns vorschreiben sollte, wie wir zu leben hatten. Er war die Verkörperung einer moralischen Stimme, die sagte: „So wie ihr lebt ist es nicht richtig! Ihr braucht einen normalen Job und müsst auf normale weise Geld verdienen, damit ihr das Recht zum Leben habt!“
Doch was bedeutet das überhaupt? Ab wann sehen wir etwas al anständige Arbeit an und ab wann nicht? Uns fiel auf, dass es hier einige sehr klare Definitionen gab, die so lebensfeindlich und abstrakt waren, dass man sich durchaus noch einmal ernsthaft die Frage stellen sollte, wohin wir als Menschheit eigentlich gehen wollten.
Während der Mann in unser Quartier stürmte, war Heiko gerade dabei die aktuellen Bilder für die Homepage zu bearbeiten. Er war also mitten in eine intensive, kreative und zeitaufwändige Arbeit vertieft, aus der der Mann ihn heraus riss, um ihn aufzufordern, sich doch einfach einen Job zu suchen. Hätte Heiko nicht in einer Gemeindehalle gesessen, sondern in einem Foto-Atelier und wären die Bilder nicht für einen kostenlosen Blog sondern für eine bezahlte Auftragsarbeit gewesen, dann wäre die exakt gleiche Tätigkeit ein angemessener Beruf gewesen, gegen den niemand etwas hätte einwenden können. Nicht anders war es mit unserer täglichen Wanderung. Wären wir nicht für uns selbst unterwegs, sondern würden auf ähnliche Weise für einen Marathon oder die Olympischen Spiele trainieren, wäre das was wir tun nicht nur eine Arbeit, sondern auch noch eine verdammt gut bezahlte. Wenn ich als Fußballspieler sechs Stunden täglich mit meinem Training verbringe, dann bin ich ein Nationalheld, von dem man Sticker für Fotoalben und Fan-Tassen druckt. Verbringe ich die gleiche Zeit mit meinem Training, ohne einen Verein als Backround zu haben, bin ich ein fauler Sack, der nichts zu tun hat, als den Tag mit etwas Sport abzupimmeln.
Noch heftiger finde ich es in Bezug auf die Gemeinnützigkeit der Aktion. Arbeite ich offiziell für eine Organisation und treibe für sie Geld ein, dann ist dies nicht nur anerkannte Arbeit, sondern auch noch sehr Ehrenhaft und Verantwortlich. Selbst oder besser vor allem dann, wenn ich für eine große, angesehene Organisation wie das Rote Kreuz, den WWF oder die Krebsstiftung arbeite, die im Namen der Gemeinnützigkeit Geld anhäufen und mehr Schaden verursachen als verhindern. Baue ich hingegen ein eigenes Projekt auf, durch das Organisationen unterstützt werden, ohne dass ich selbst offiziell dafür arbeite und daher auch kein Geld bekomme, dann ist dies verwerflich und ich bin nichts weiter als ein lästiger Bettler. Wenn man sich nun noch einmal die Krebsfischer anschaut, dann scheint es für Arbeit noch eine weitere abstrakte Definition zu geben. Arbeiten tut man immer dann, wenn man eine Tätigkeit ausführt, die einem selbst und meist auch anderen Schaden zufügt. Das mag erst einmal komisch klingen, aber denkt noch einmal darüber nach. Wie viele von euch würden das, was sie auf der Arbeit tun auch dann noch machen, wenn es dafür kein Geld geben würde und sie auch keines bräuchten? Wie viele von euch sind wirklich aus vollem Herzen und mit voller Überzeugung bei ihrer Arbeit und sehen darin ihre Berufung? Und wie viele finden sich stattdessen in unangenehmen Räumen oder Orten wieder, sind Stress, Lärm, Hektik und Druck ausgesetzt, der sie auf Dauer auslaugt und zerstört?
Nächste Frage: Wie viele Jobs und Berufe tragen wirklich zu einer Verbesserung des Lebens und der Erdengemeinschaft bei? Oder schaden ihr zumindest nicht? Ein Pädagoge muss dafür sorgen, dass seine Schützlinge in die Norm der Gesellschaft gepresst werden, selbst wenn dadurch große Teile ihres Charakters und ihres wahren Selbsts verloren gehen. Ein Bauer sorgt durch die industriellen Methoden der Landbearbeitung dafür, dass große Lebensräume zerstört, Grundwasservorkommen vergiftet und unsere Lebensmittel immer Nährstoffärmer werden. Selbst eine einfache Verkäuferin baut ihren finanziellen Erfolg darauf auf, dass die Produkte, die sie verkauft von Billiglohnarbeitern hergestellt werden, die als moderne Sklaven ausgebeutet werden. Gleichzeitig steht sie selbst den ganzen Tag an einer lauten, piepsenden Kasse, was es nahezu unmöglich macht, so etwas wie innere Ruhe, Ausgeglichenheit und Entspannung zu verspüren. Auf diese Weise könnte man nun jeden Beruf durchgehen und würde kaum einen finden, der nicht dazu führt, dass man gegen die eigene Seele und/oder das Wohl unseres Planeten arbeiten muss. Das ist doch wert einmal hinterfragt zu werden, oder nicht?
Spannend ist auch, sich unter diesem Aspekt noch einmal die Wertigkeiten anzusehen, die wir den einzelnen Berufen geben. So hat das Ansehen eines Berufszweiges nichts mit seiner Nützlichkeit zu tun und auch nicht mit der Menge der tatsächlich geleisteten Arbeit. Dies wird hier in Schottland und England, noch einmal besonders deutlich, da es hier so viele vermögende Menschen gibt, die im Finanzwesen arbeiten. Während der talentierteste Handwerker, der mit seinem Geschick direkt und maßgeblich zur Verbesserung der Lebensqualität seiner Mitmenschen beiträgt, immer nur ein einfacher Arbeiter bleibt, ist jemand der beispielsweise mit Derivaten handelt, also irreale Geldgeschäfte mit Produkten macht, die ihm nicht einmal gehören, ein angesehenes Mitglied der Oberschicht. Allein der Umstand, dass er Geld verdient, sorgt dafür, dass man davon ausgeht, dass er anständig arbeitet. Selbst dann, wenn er mit seinen Geschäften tausende von Menschen ausbeutet und es sich auf ihren Rücken bequem macht.
Die Aufforderung des Mannes „Sucht euch einen Job!“ hatte also nichts mit der Sorge zu tun, dass wir auf Kosten anderer Leben könnten, denn das ist in unserer Gesellschaft vollkommen anerkannt und legitim. Es geht lediglich darum, dass man nicht frei leben darf und sich so aus dem System herauslöst. Denn dadurch stellte man plötzlich alles in Frage und das durfte nicht passieren.
Spruch des Tages: Irland wir kommen!
Höhenmeter: 440 m
Tagesetappe: 32 km
Gesamtstrecke: 24.789,27 km
Wetter: Regen ohne Ende
Etappenziel: Pfarrhaus, Bosheen, New Ross, Co. Wexford, Irland
23.07.2017
Im Guten wie im Schlechten verabschiedet sich Schottland noch einmal mit einem Feuerwerk an Höhepunkten. So wurde die heutige Tagesetappe noch einmal um ein vielfaches anstrengender als die letzten, dafür aber auch um ein vielfaches schöner.
Direkt hinter unserer Kirche führte eine Straße in den hinteren Bereich des Dorfes, wo der sogenannte „Kentyre-Way“ begann, ein Fernwanderweg, der bis hinunter nach Campeltown führte. Die ersten Meter waren noch entspannt und führten an der alten Burgruine vorbei, von der aus man einen beeindruckenden Blick über den Hafen hatte. Dann jedoch kam der weniger entspannte Part. Auf einer Strecke von nicht einmal eineinhalb Kilometern ging es nun auf holprigen Pfaden mehr als 150 Höhenmeter nach oben. Für einen alleine pro Wagen war das bei weitem zu viel. Wir schafften es gerade einmal mit vereinten Kräften, sie den Berg hinauf zu wuchten. Der Umstand, dass sich aus Heikos leichter Angeschlagenheit eine ausgewachsene
Erkältung mit Niedergeschlagenheitsgefühl und dauerhaft laufender Nase entwickelt hatte, machte die Herausforderung nicht unbedingt leichter. Oben angekommen mussten wir zuänchst einmal unsere Lungen wieder finden. Tropfnass und mit heraushängender Zunge folgten wir nun einem Forstweg, der sich weiterhin den Berg hinauf schraubte. Hier erreichten wir eine weite Heidelandschaft in der es noch ein paar vereinzelte Bäume und hin und wieder ein paar Waldstücke gab. Auch dieses Land war von Menschen gerodet worden, aber es hatte dennoch seinen Reiz. Schließlich mussten wir noch einmal auf einen Pfad abbiegen, der mitten durch die Heide führte. Zu unserem Erstaunen befanden wir uns dabei nach wenigen Metern schon wieder im Moor und das obwohl wir uns auf der Spitze des Hügels befanden. In diesem Land gab es wirklich nichts mehr, das nicht vollkommen unter Wasser stand.
Am Ende unseres Weges erreichten wir ein kleines Nest an der Küste, das an einer Sackgasse lag und nicht einmal mehr 100 Einwohner hatte. Normalerweise hätte es hier nur eine Frage von Sekunden sein dürfen, um einen Platz und etwas zum Essen zu ergattern. Doch es war sogar weitaus komplexer als in den letzten Städten, die wir bereist hatten. Die meisten Häuser standen leer und von den wenigen Menschen, die wir antrafen, fühlte sich niemand wirklich zuständig. Kirche wie Gemeindehalle wurden über Komitees verwaltet, die keine Vorsitzenden hatten. Einen Pfarrer gab es nicht mehr und niemand wollte die Verantwortung übernehmen. Wir waren schon kurz davor weiter zu ziehen und hätten es sicher auch getan, wenn die nächste Etappe nicht 28km betragen hätte. Und im Endeffekt löste sich dann wieder alles wie von selbst, so dass wir uns sogar aussuchen konnten, wo wir übernachten wollten.
Nur mit dem Essen sah es wieder einmal eng aus. Eine alte Dame und eine junge Familie schenkten uns, was sie in ihren Küchen finden konnten. Wie so oft waren es diejenigen, die selbst am wenigsten hatten. Die reichen Nachbarn mit den großen Häusern und den teuren Autos vor den Türen, gaben entweder nichts oder so klein Spenden, dass man fast mehr Energie zum Fragen aufwenden musste, als man durch die Nahrung im Nachhinein zurück bekam. Dabei gab es zwei unterschiedliche Varianten. Die einen hielten sich selbst für großzügig und hatten augenscheinlich wirklich das Gefühl, dass sie einen enormen Beitrag leisteten. „Wir haben und Gedanken darüber gemacht, wie wir euch heute durch den Tag bringen und haben gedacht, dass ihr am Besten mit je einer Banane bedient seit! Die haben viel Energie und ihr könnt sie bequem in die Tasche stecken, bis ihr sie essen wollt. Damit dürftet ihr eigentlich soweit versorgt sein!“ Erschreckender Weise glaubte er das wirklich!
Die anderen wussten, dass sie geizig waren und beriefen sich darauf, dass sie leider selbst fast kein Essen besaßen. Dies war die Lieblingsantwort der Menschen in Schottland und teilweise auch schon in England. Vor allem dann, wenn sie reich und wohlhabend waren. Es war schon verrückt! Als wir durch den Balkan wanderten und bei alten Omis klingelten, die irgendwo im Niemandsland lebten und keine 100 Euro im Monat zur Verfügung hatten, hatten wir niemals das Gefühl, ihnen etwas wegzunehmen, wenn wir um eine Essensspende baten. Die Menschen mochten kein Geld haben, doch an Lebensmitteln gab es nie einen Mangel. Im Gegenteil! Wie oft hatten wir das Gefühl, den alten Damen oder Herren den Tag zu erhellen, indem wir mit ihnen gemeinsam durch ihre Gemüsegärten schlenderten, während sie begeistert ihre Schätze mit uns teilten. Hier hingegen hatte man oft das Gefühl, dass man den Menschen noch etwas zu Essen mitbringen sollte, weil sie so arm waren und anscheinend nicht einmal ein Abendessen für sich selbst besaßen.
Klar hatten sie Häuser in denen man eine Fußballweltmeisterschaft hätte veranstalten können und klar standen vier oder fünf Autos in ihren Einfahrten herum, von denen mindestens einer ein Porsche, Ferrari oder Lotus war. Aber das änderte nichts daran, dass man sich nicht trotzdem arm fühlen konnte.
Spruch des Tages: Geld haben allein ist kein Grund, nicht arm zu sein.
Höhenmeter: 320 m
Tagesetappe: 36 km
Gesamtstrecke: 24.728,27 km
Wetter: Sonne, leichte Bewölkung, Wind
Etappenziel: Kloster, Callan, Irland
22.07.2017
Mit kleinen Schritten und großen Etappen nähern wir uns dem Ende unserer Zeit in Schottland. Es wird sicher kein Land sein, dem wir lange nachtrauern, wenngleich es uns immer wieder mit versteckten Schönheiten und unerwarteten Begegnungen überrascht hat. Im Großen und Ganzen wird es uns aber wohl dennoch als das wohl anstrengendste und ungemütlichste Land unserer Reise in Erinnerung bleiben. Kein anderes Land hat uns so viel Regen, so lange Tagesetappen und so viel Verkehrshölle eingebracht, wie dieses. Und das obwohl es zu mehr als 90% vollkommen unbewohnt ist.
Unbewohnt und unbewohnbar
Ich glaube, genau hier liegt auch der große Irrtum, dem wir unterlegen sind, als man uns von einem fast menschenleeren Land voller Berge und unberührter Natur erzählt hat. Wir hatten geglaubt, dass man das Land hier einfach in Ruhe sich selbst überlassen hatte, um sich noch einen Rest Wildnis in Europa zu erhalten. Das war natürlich mehr als nur ein bisschen Naiv gewesen. Es liegt nun einmal nicht in der Natur unserer Gesellschaft, sich auch nur einen Fingerzeig aus der Natur zu machen. Wenn also ein Gebiet unbesiedelt ist, dann nicht um es zu schützen, sondern weil man es nicht besiedeln konnte. Schottland zeigt das noch einmal par excellance. Alles, was nördlich von Glasgow und Edinburgh liegt, besteht zu rund 95% aus steilen Berghängen, Moor, Fels oder See. Wenn es irgendwo eine Möglichkeit gab eine Straße oder eine Stadt zu bauen, dann wurde sie auch genutzt. Zu sagen, im Norden von Schottland leben nur 3% der Gesamtbevölkerung von Großbritannien mag schon stimmen, doch es sagt nichts über die Bevölkerungsdichte aus. Der Teil des Landes, der Zugänglich ist, ist auch besiedelt und in permanenter Benutzung. Und sei es nur, um spazieren zu fahren, weil man vor Langeweile bei dem schlechten Wetter sonst nichts mit sich anzufangen weiß.
Schade ist hingegen vor allem, dass es in den unbesiedelten und unzugänglichen Bereichen nicht einmal durchgängige Wege gibt. Gäbe es hier, wie es in den meisten anderen Ländern der Fall ist, ausgebaute Fahrrad- und Wanderwege, wäre das Land ein Paradies für Fuß- und Radreisende. So ist es leider fast nicht begehbar. Und doch wirbt die Schottische Tourismusindustrie genau mit dieser unberührten Natur. Wo immer es nicht ausdrücklich verboten ist, sei man eingeladen, wild zu zelten, zu wandern, mit dem Rad zu fahren, zu klettern und die Natur zu genießen. Nett gesagt in einem Land, in dem jeder Weg eingezäunt ist und in dem man selbst wenn man vom Weg abgehen könnte, bereits nach wenigen Metern im Moor versänke.
„Come and enjoy our spectacular wildlive!“ hieß es auf einem Flyer: „Kommen Sie um die spektakulären Lebewesen unserer Wildnis zu genießen!“ Große Worte dafür dass man jedes Mal einen Luftsprung macht, wenn man auch nur ein Eichhörnchen sieht.
Ein Mauswiesel zu Besuch
Spektakulär ist hier also wirklich nicht das richtige Wort, aber dennoch hatten wir in den letzten Tagen einige sehr schöne Tierbegegnungen, auch wenn die Tiere dabei vielleicht nicht ganz so wild wirkten. Vor knapp einer Woche wurden wir ein gutes Stück unseres Weges von einem Mauswiesel begleitet. Der kleine, drollige Zeitgenosse spitzte vorsichtig hinter einem Grasbüschel hervor und beobachtete, wie wir näher in seine Richtung kamen. Dann huschte er kurz in Deckung, kam aber gleich wieder hervor und lief mit einem Abstand von nur zweieinhalb Metern vor uns auf dem Weg entlang. Dieses Spiel wiederholte er drei oder vier mal, bis er schließlich doch im Dickicht verschwand.
Perfekte Performance
Fast die gleiche Situation erlebten wir kurz darauf mit einem Eichhörnchen. Dieses bescherte uns jedoch am Ende zur Feier seines Besuches noch ein großes und tatsächlich spektakuläres Finale. Wie ein Parcoursläufer sprang es vom Boden über einen Stein auf einen Zaun und lief dann über diesen hinweg, bis zu einer Baumgruppe. Wenn man nur auf den kleinen Akrobaten achtete, konnte man meinen, der Zaun sei eine durchgängige Straße, auf der man einfach entlang rennen konnte. Stattdessen aber gab es nur einzelne, ungleich verteilte Pfähle und Säulen, mit zum Teil sehr großem Abstand. Das Eichhörnchen sprang von einem zum nächsten, wirkte dabei aber nicht als würde es springen, sondern viel mehr als glitt es durch die Luft in einer einzigen, fließenden Bewegung. Es wurde weder schneller noch langsamer, wenn es einen Pfahl unter den Füßen hatte und in seinem kompletten Bewegungsablauf gab es keine einzige abrupte Richtungsänderung. Es war eine Performence, die er zur Perfektion ausgearbeitet hatte und die in ihrer Eleganz, ihrer Leichtigkeit und ihrer Ästhetik alles übertraf, was ein Mensch je zustande bringen könnte.
Erste Flugstunden
Auch mit unseren gefiederten Freunden hatten wir einige unvergessliche Momente. Zugegeben, im Großen und Ganzen waren wir hier nicht allzu gut auf sie zu sprechen, da die Angewohnheit der Einheimischen, den Singvögeln das ganze Jahr über unessbar viel Futter in den Garten zu hängen, vielerorts zu regelrechten Singvogelplagen führt. So schön der Gesang eines einzelnen Vogels auch ist, so grauenhaft ist das Geschnatter einer unnatürlichen Überpopulation von Wesen, die keine natürlichen Feinde mehr haben und sich daher auch an keine Regeln mehr halten müssen. Nichts desto trotz haben wir uns mit zwei kleinen Vertretern der Schnatterwesen etwas tiefer angefreundet.
Den ersten entdeckte Heiko vor einer Kirche, als er gerade nach einem versteckten Pinkelplatz suchte. Es war ein Jungvogel, der gerade versuchte flügge zu werden, sich bei den ersten Flugstunden jedoch selbst ein klein wenig überschätzt hatte. Nun saß er verloren am Boden herum und wusste nicht mehr, wohin er wollte. Behutsam hob Heiko ihn auf und nahm in mit auf den Kirchenvorplatz, von wo aus man die Umgebung am besten einsehen konnte. Wir schauten uns nach einem Nest oder eine aufgeregt suchenden Mutter um, konnten aber zunächst nichts ausfindig machen. Dafür erkannte der kleine Bruchpilot sein Heimatgefilde nun offenbar wieder, denn er fasste neuen Mut, wurde sichtlich munterer und aktiver und startete schließlich einen neuen Flugversuch. Die Höhe von Heikos Hand machte ihm das Starten dabei um einiges leichter, da er nun erst einmal gleiten konnte und nicht gleich einen Senkrechtstart hinlegen musste. Dennoch überschätzte er seine Wendigkeit ein bisschen, was um ein Haar zu einem Zusammenstoß mit einem Grabstein führte. In letzter Sekunde konnte er das Steuer herumreißen und in Richtung eines weiteren Steines ausweichen, den er ebenfalls nur knapp verfehlte. Dann bekam er die Kurve und steuerte auf ein Gebüsch zu, in dem sich sein Nest befand.
Von Schüchternheit keine Spur
Die zweite außergewöhnliche Begegnung hatte Heiko als er das letzte Mal an einer Bushaltestelle auf mich wartete, während ich nach einem Schlafplatz suchte. Wie immer war es kalt und regnerisch, weshalb sich Heiko so gut wie möglich in einer Ecke zusammengekauert hatte. Plötzlich kam ein kleiner Spatz angehüpft und wanderte vor ihm am Boden der Bushaltestelle herum. Zunächst blieb Heiko reglos, um ihn nicht zu verschrecken, doch nach einer Weile merkte er, dass dies nicht nötig war. Der Kleine hatte keinerlei Angst sondern war im Gegenteil so neugierig, dass er sogar auf Heikos Füße sprang. Dann untersuchte er unseren Wagen und entdeckte dabei einige Nüsschen und ein paar Brotkrümel, die er sich stibitzte.
Als ich von meiner Suche zurückkehrte, ging er nur für ein paar Sekunden in Deckung. Dann tauchte er wieder auf und machte weiter wie bisher. Zu Zweit schienen wir nun sogar fast noch ein bisschen interessanter zu sein, als zuvor.
Mehr Kraft als man selbst glaubte
Trotz des unerwarteten Zwischenstopps den wir im Caravan-Park einlegen konnten, betrug die Etappe heute wieder 25km. Straße und Wetter führten dabei permanent auf und ab und so war es wieder einmal nach vier Uhr am Nachmittag, als wir unseren Zielort Tarbert erreichten. Früher musste das Dorf einmal ein hübsches Fischerdorf gewesen sein,. Heute jedoch machte es einen heruntergekommenderen Eindruck, als einige der ärmsten Städte in Bosnien. Um so mehr freuten wir uns, dass wir dennoch sofort einen Schlafplatz in der freien Kirch bekamen. Der Pfarrer war ein sympathischer Teddybär, dem man ohne zu Zögern sein Herz anvertrauen würde.
Er lud uns auf eine Portion Fish and Chips ein und wir kamen ein wenig ins Gespräch. Er war lange Zeit als Krankenhausseelsorger tätig gewesen und so fiel unser Gesprächsthema recht schnell auf die Verbindung zwischen Körper und Seele in Bezug auf Heilung. Nachdem man aus irgendeinem Grund den Menschen in seine Seele und seinen Körper aufgespalten hatte, um den einen Teil zum Arzt und den anderen zum Pfarrer zu schicken, gab es nun auch in Schottland eine Bewegung, die das ganzheitliche Heilen eines Menschen im Fokus hatte.
So richtig konnte sich die Schulmedizin auch hier noch nicht damit anfreunden, aber die Stimmen wurden lauter es ließ sich kaum mehr vermeiden in diesem Bereich für Neuerungen zu sorgen. Der Pfarrer selbst war als Krankenhausseelsorger Teil dieses neuen Konzepts, denn er kümmerte sich nun um die seelischen Belange der Krankenhauspatienten. Dabei erzählte er uns von einer Schlüsselbegegnung, die er mit einem todkranken Mann auf einer Palliativ-Station hatte. Der Mann war mit seinen Nerven am Ende, da er wusste, dass er sterben würde, dies aber nicht akzeptieren konnte. Der Pfarrer hörte ihm zu und da der Mann einen christlichen Glauben hatte, konnte er ihm zudem Trost und Hoffnung mit seinen Worten spenden. Dann passierte etwas seltsames. Der Mann hatte eine Art Zusammenbruch und war für einige Minuten wie weggetreten. Als er wieder zu sich kam, wirkte er ruhiger und seltsam verändert. Er konnte es selbst nicht genau erklären, doch er hatte während seiner Ohnmacht eine Begegnung gehabt. Jemand war bei ihm gewesen um ihm die Kraft zu geben, die er für die nächsten Schritte seines Weges benötigte.
„Ich war damals vollkommen perplex!“ erzählte der Pfarrer, „Ich weiß, das klingt komisch, weil ich Pfarrer bin, aber bis zu diesem Moment hätte ich nie geglaubt, dass so etwas wirklich funktioniert. Ich meine, ich gebe den Menschen natürlich Trost und Hoffnung, wenn sie es brauchen und ich versuche auch, ihren Glauben zu stärken, aber daran dass man auf diese Weise auch heilen kann, hätte ich nie geglaubt. Trotzdem ging es dem Mann plötzlich besser und das sogar nachhaltig. Die Ärzte hatten ihm nur noch ein paar Tage gegeben, aber er erholte sich so sehr, dass er noch über ein Jahr weiter lebte. Und das in besserer Verfassung als die Jahre zuvor. Ich denke oft an diese Situation zurück und kann mir noch immer nicht genau erklären, was da passiert ist. Ich weiß nur dass da etwas war und ich hoffe, dass ich selbst auch einmal eine solche Erfahrung machen darf!“
Spruch des Tages: Ein schüchternes Kerlchen bist du nicht, oder!?!
Höhenmeter: 150 m
Tagesetappe: 18 km
Gesamtstrecke: 24.692,27 km
Wetter: Sonne, leichte Bewölkung, kaum Wind
Etappenziel: Pfarrhaus, Urlingford, Irland