Tag 650: Grenzerfahrungen – Teil 2

von Heiko Gärtner
12.10.2015 15:36 Uhr

Fortsetzung von Tag 649:

Die ersten Kilometer bis zur Grenze und von dort bis in die Stadt, war es hauptsächlich geradeaus oder bergab gegangen. Nun begann die Straße wieder anzusteigen und mit dem Hinterland der Stadt kamen wir auch wieder in die Berge.

„Danke, dass ihr heute auf mich wartet!“ sagte Paulina, als wir einen kleinen Gipfel erreichten. Sie war nur wenige Meter hinter uns und nachdem sie bereits mehrere Male angemacht worden war, hatte sie Angst, alleine unterwegs zu sein.

„Das haben wir gar nicht!“ sagte ich wahrheitsgemäß, „wir gehen genauso schnell wie immer! Aber du bist heute deutlich schneller als sonst!“

„Wirklich?“ fragte sie erstaunt. „Das ist mir gar nicht aufgefallen!“

Die vergangene Nacht und auch die vielen Zurufer und Gaffer hatten zum ersten Mal eine Absicht in ihr geweckt. Sie spürte deutlich, dass es kein Spiel war, hier an der Straße entlang zu wandern. Es war durchaus nicht ungefährlich und auch wenn objektiv betrachtet heute nichts anders war als an anderen Tagen, spürte sie nun die Ausstrahlung, die sie aussendete und die damit verbundene Gefahr. Plötzlich war sie nicht mehr matt und kraftlos. Sie hatte genau die Energie, die sie brauchte, um mit uns Schritt halten zu können. Nicht ganz, denn sie fiel ja immer noch leicht zurück, aber doch genug, um nicht außer Sichtweite zu geraten und so dass wir immer wieder ein paar Sekunden warten konnten, bis sie wieder aufgeholt hatte, ohne dass es für uns zu einer Belastung wurde.

Sie verstand nun auch, dass sie mit dem Versuch, zu jedem Menschen nett und Freundlich zu sein, direkte Einladungen aussendete, mit denen sie darum bat, belästigt zu werden. Niemand auf diesen Straßen lächelte. Allenfalls warf man einem anderen ein mürrisches „Dober Dan!“ - „Guten Tag!“ zu, oder man grüßte mit einem ausdruckslosen Kopfnicken, das ebenso auch die Androhung einer Kopfnuss sein konnte. Und aus dieser grimmigen Masse stach die kleine Paulina heraus, die jeden noch so schleimigen und aufgeblasenen Kerl freundlich anlächelte, ihm zuwinkte und ihm ein kindlich fröhliches „Dober Dan!“ zu zwitscherte. Kein Mann konnte da anders, als diese Signale misszuverstehen und daraus eine Einladung zu einem Gespräch oder mehr zu deuten. Mir war es ja am Vormittag mit der jungen Frau von dem Café nicht anders gegangen. Sie war eine nette, freundliche Person, die irgendwie aus dem grauen Muster fiel und schon war ich mir nicht mehr sicher, ob sie einfach nur helfen oder mit mir ausgehen wollte. Und ich bin mir da bis heute noch nicht sicher.

Als Paulina das bewusst wurde, begriff sie zum ersten Mal, in was für eine Gefahr sie sich selbst brachte, ohne es auch nur zu merken. Sofort änderte sie ihre Taktik und versuchte sich darin, unfreundlich und abweisend zu sein.

„In Ungarn haben wir vor ein paar Jahren einen Mann getroffen,“ erzählte ich, „der genau die Ausstrahlung hatte, die du jetzt lernen solltest. Er war ein Obdachloser, der immer nach Flaschen gesucht hat und wir fanden ihn eigentlich ganz interessant. Immer wenn wir ihm begegneten, wollten wir ihn grüßen, aber es war absolut unmöglich. Er hatte einen Gesichtsausdruck und eine Aura, die ihn vollkommen ungrüßbar machte. Ich weiß nicht warum, aber sobald man ihm aus der Nähe in die Augen schaute, blieb einem jedes Wort im Hals stecken.“

Paulina beschloss, zunächst einmal jeden Menschen zum üben zu nutzen und grüßte vorerst überhaupt keinen mehr, auch wenn er eigentlich ganz nett zu sein schien. Später wollte sie dann lernen, einen Blick dafür zu entwickeln, wen sie grüßen konnte und wen nicht. Sie machte auf den nächsten Kilometern erstaunliche Fortschritte und blieb nicht einmal mehr stehen, wenn sie von jemandem angesprochen wurde. Nicht einmal ihre Schritte verlangsamten sich und sie schaute auch nicht mehr auf. Sobald sie den Entschluss gefasst hatte, nicht mehr jedem gefallen zu müssen, nahmen die Anmachen rapide ab. Noch immer gab es ein paar hartnäckige Typen, die sich nicht abschrecken ließen, aber es waren nun deutlich weniger.

Der Weg führte uns nun immer steiler den Berg hinauf, an etwas vorbei, das auf der Karte wie ein Stausee aussah, letztlich aber doch keiner war. Noch immer war es nicht einfach einen Platz zu finden, an dem wir sicher schlafen konnten und auch zum Essen hatten wir noch nichts aufgetrieben. Die wenigen kleinen Märkte an denen wir vorbei gekommen waren, hatten uns alle abgelehnt und der Reis alleine war etwas fad.

Schließlich entdeckten wir eine größere Fläche, die zu großen Teilen von Böschungen, Sträuchern und kleinen Wäldern umgeben war. Sie sah als einziges so aus, als konnte man hier einigermaßen geschützt zelten, ohne gleich von der ganzen Stadt überfallen zu werden. Kaum hatten wir den Weg eingeschlagen um uns einen Zeltplatz zu suchen, wurden wir aber schon wieder entdeckt. Beim Näherkommen entpuppte sich die Person jedoch als junge Frau, die sich recht ähnlich verhielt, wie die vom Vormittag und die mich sogar zum Baden am nahegelegenen See einlud. Wären wir an diesem Tag nicht bereits 30km gewandert und wäre die ganze Situation ein bisschen weniger zehrend und düster gewesen, hätte ich vielleicht sogar zugesagt. Immerhin war es eine Weile her, dass ich gleich zwei so nette Einladungen an einem Tag bekam. Im Nachhinein betrachtet wäre sie auch sicher die angenehmere Abendgesellschaft gewesen, im Vergleich zu dem, was sich am Ende dann tatsächlich ereignete.

Froh, endlich einen geschützten Platz gefunden zu haben und nicht mehr weiter zu müssen, bauten wir unsere Zelte auf. Doch noch ehe wir wirklich damit angefangen hatten, hörten wir bereits ein Auto, dass oberhalb von unserem Platz durch den Wald fuhr. So gut wie wir es sehen konnten, war es ausgeschlossen, dass der Fahrer uns nicht entdeckt hatte. Und richtig. Keine fünf Minuten später tauchte ein hagerer Mann um die dreißig hinter den Büschen auf und will wissen, was wir hier machen. Er sprach nahezu kein Englisch und Deutsch erst recht nicht, doch die Tatsache, dass wir uns nicht mit ihm unterhalten konnten oder wollten schien ihn nicht besonders zu beeindrucken. Zunächst war er recht freundlich, doch nachdem das kurze Floskelgespräch beendet war, wurde es langsam unangenehm. Dies wäre eigentlich der Zeitpunkt gewesen, um ihm deutlich zu machen, dass er hier nicht länger erwünscht war und dass wir unsere Privatsphäre brauchten. Doch dafür waren wir zu höflich. Irgendwo steckte der Glaubenssatz in uns, dass man nicht einfach einen Menschen von einem öffentlichen Platz vertreiben konnte, nur weil man dort zeltete. Er hatte ja genauso ein Recht darauf hier zu sein wie wir. Oder nicht? Er war ja nicht hier, weil er diesen Platz so toll fand, sondern weil er uns beim Aufbauen anstarren wollte. Er war unseretwegen hier und jedem von uns war das unangenehm. Wir hätten also jedes Recht gehabt, ihm das deutlich zu machen und ihn zum Gehen aufzufordern. Doch wir taten es nicht. Aus den gleichen Gründen, aus denen Paulina den besoffenen Hotelbesitzer gestern Nacht nicht vertrieben hatte. Im laufe des Abends bot sich noch mehrfach die Gelegenheit einen klaren Strich zu ziehen und so die Situation zu beenden. Doch wie so oft im Leben warteten wir zu lange, ließen zu viel zu und hatten zu viel Angst davor, eine Grenze zu ziehen. Schmerzlich wurde mir bewusst, dass ich selbst auch nicht besser darin war, Menschen, die mir zu nahe traten in ihre Schranken zu weisen, als Paulina. Ich ließ mir viel zu viel gefallen und hatte ebenso noch immer eine Opferhaltung in mir, wie sie. Mein großer Vorteil, für den ich gerade jetzt in diesem Moment sehr dankbar bin, ist lediglich, dass ich keine Frau bin. In unserer Gesellschaft gibt es leider eine sehr große Ungerechtigkeit zwischen Männern und Frauen und dazu gehört auch, dass die gleichen Lebensthemen bei Menschen mit unterschiedlichen Geschlechtern vollkommen verschiedene Auswirkungen haben. Als Mann, der wenig Selbstbewusstsein besitzt, nicht in seiner männlichen Kraft steht und die Ausstrahlung eines Opfers hat, hat man vor allem das Problem, dass man für das andere Geschlecht uninteressant wird. Man gerät in die Freundesschublade und hat wenig bis gar keinen Sex. Das ist nicht unbedingt großartig, aber auch nicht besonders gefährlich. Männer hingegen kümmern sich eher selten um einen, vorausgesetzt man provoziert sie nicht und kommt ihnen nicht in die Quere. Nur wenn man Geschäftsabschlüsse und ähnliches tätigt, muss man besonders stark aufpassen, dass man nicht übers Ohr gehauen wird. Als Frau ist das anders. Nur weil man nicht in seiner Kraft steht und nicht weiß, was man im Leben will, heißt das nicht, dass man für die Männerwelt uninteressant wird. Im Gegenteil, man wird eine leichte Beute und dadurch wird das Leben deutlich gefährlicher. Frauen hingegen nehmen einen, ausgehend von der eigenen Erfahrung entweder als Gleichgesinnte oder als Konkurrentin war. Das ist jetzt natürlich sehr vereinfacht, aber wir hatten das Thema ja auch schon einmal ausführlicher.

Der Fremde blieb also, bis wir die Zelte aufgebaut hatten und es entging ihm dabei nicht, dass die beiden Männer sich ein Zelt teilten, während die Frau für sich alleine im anderen Zelt schlief. Wären wir schlauer gewesen hätten wir die später folgenden Ereignisse komplett dadurch verhindern können, in dem Paulina und Heiko unser Zelt und ihr ihres aufgebaut hätte. Sie hätte Heiko nur einmal deutlich um den Hals fallen und abknutschen müssen um deutlich zu machen, dass die Zugehörigkeitsansprüche hier vollkommen geklärt waren und dass sich ihr niemand nähern brauchte, der nicht vor hatte, sich mit Heiko anzulegen. Doch das passierte nicht und so witterte der Mann leichte Beute, die einsam in ihrem Zelt lag und sicher nur auf einen schnieken Prinzen wie ihn wartete.

Als das Lager errichtet war, versuchte ich zum ersten Mal dem Mann deutlich zu machen, dass er jetzt gehen müsse. Wir hätten noch viel zu tun und wären außerdem müde, so dass wir keine Gesellschaft mehr brauchen würden. Das war natürlich nur die halbe Wahrheit und das spürte der Mann auch. Klar waren wir müde und klar hatten wir viel zu tun, aber das war nicht der Grund, weshalb wir ihn nicht mehr hier haben wollten. Er war uns unangenehm und wir wollten seine Gegenwart nicht mehr. Das wären klare Worte gewesen und die hätte er auch akzeptieren können. So aber suchte er nach einem Grund, doch noch bleiben zu können und den fand er auch. Denn wie er richtig erkannte, saßen wir Essen- und Wassertechnisch auf dem Trockenen. Er bot uns daher an, mit mir einige Vorräte holen zu gehen. Vielleicht war er ja doch kein so übler Kerl. Wie leicht es doch war, uns zu bestecken.

Bereits beim Losgehen hatte ich ein ungutes Gefühl bei der Sache. Er stapfte voran und ging mitten durch die Pampa, den steilen Berghang hinauf zu seinem Auto. Wäre ich alleine ins Dorf hinunter gegangen, wäre ich jetzt bereits da und hätte ganz in Ruhe nach etwas fragen können. Doch noch immer ignorierte ich meine Bauchstimme. Stattdessen stieg ich zu ihm ins Auto und fuhr zurück in die Stadt, wo wir vor einem kleinen Supermarkt hielten, der uns eine knappe Stunde zuvor abgelehnt hatte. Hier kaufte er Wasser, Obst, Gemüse, Brot, Käse und etwas von der bunten Plastikwurst für uns. Dann fuhren wir zurück zu seinem Parkplatz im Wald. Auf seiner Rückbank stand ein linker Kindersitz, weshalb ich ihn fragte, ob er Papa war. Er nickte und meinte, dass er eine kleine Tochter habe. Irgendwie ließ ihn das harmloser und vernünftiger erscheinen. Dann erzählte er mir, dass er seine Nächte immer hier im Wald verbrachte und dass er wilde Hunde jagte. Dies wiederum hob das Gefühl, dass der Kindersitz vermittelt hatte wieder auf. Ich weiß nicht woran es lag, aber der Mann hatte etwas unheimliches an sich. Er wirkte verschroben und undurchsichtig und seine Großzügigkeit und die Höflichkeit kamen irgendwie nicht ganz authentisch rüber. Sie passten nicht zu dem schnoddrigen Wesen, dass sie stundenlang vor einen setzte und einen anstarrte, während es eine Zigarette nach dem nächsten raucht und permanent auf den Boden rotzt.

Fortsetzung folgt...

 

Spruch des Tages: Der erste Eindruck muss nicht immer der Beste sein.

Höhenmeter: 450 m

Tagesetappe: 22 km

Gesamtstrecke: 11.583,27 km

Wetter: ständiger Wechsel zwischen Starkregen und Sonnenschein. Manchmal sogar beides gleichzeitig.

Etappenziel: Zeltplatz auf einem 44003, Vrontismeni, Griechenland

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

 Der verschwindend kleine Ort Jabuka, der auf Deutsch übersetzt Apfel heißt, ist der letzte Ort vor der Grenze. Von unserem Hotel aus wanderten wir noch gut 6km, bis wir Serbien verließen. Dann wanderten wir gut einen weiteren Kilometer, bis wir Montenegro erreichten. Alles dazwischen ist offiziell Niemandsland und das obwohl sogar ein kleines Dorf darin liegt.

Die Einreise nach Montenegro war wenig spektakulär und verlief absolut reibungslos und ohne nennenswerte Zwischenfälle. Die vielen LKWs, die von Montenegro nach Serbien fahren wollten, hatten da hingegen weniger Glück. Für sie wurde die Grenzkontrollabfertigung zur Tortur, denn sie mussten teilweise Stundenlang warten, bis sie passieren durften. Mehrere Kilometer wanderten wir daher an einer langen LKW-Schlange vorbei, in der fast alle Fahrzeuge Holz geladen hatten. Den meisten LKW-Fahrern war verständlicherweise todlangweilig und so starrten sie entweder aus ihren Fenstern oder hatten ihren Truck verlassen um mit anderen Fahrern ein Kaffee-Kränzchen abzuhalten. In beiden Fällen waren wir als Wanderclan eine willkommene Abwechslung und so gab es eigentlich niemanden, der uns nicht irgendetwas hinterher rief. Die meisten Fahrer bezogen sich dabei auf Paulina, was ebenfalls nachvollziehbar war, die Situation für sie aber nicht gerade angenehm machte. Vor allem nach den Ereignissen der letzten Nacht hatte sie daher ein ungutes Gefühl bei der Sache. Zum ersten Mal wurde ihr so richtig bewusst, dass sie hier nicht alleine unterwegs sein konnte. Nicht so.

Wenige Kilometer weiter kamen wir an ein kleines Restaurant. Es wurde von einer alten, grimmigen Frau geleitet und von ihrer Tochter oder Schwiegertochter geführt. Beide saßen an einem Tisch als ich hereinkam und beide konnten mich so gut wie gar nicht verstehen. Schließlich kam eine dritte Frau hinzu. Sie war ungefähr in meinem Alter, war attraktiv, sprach fließend Englisch und machte sich sich zur Aufgabe, die persönliche Fremdenführerin für mich zu spielen. Sie überredete nicht nur die Restaurantbesitzerin dazu, uns ein Mittagessen auszugeben, sondern wollte sich auch noch einmal mit uns treffen, um uns die Stadt zeigen zu können. Ob es dabei wirklich nur um die Stadt ging? Oder sollte es so eine Art Date werden. Sie schien mich jedenfalls zu mögen und das offensichtlich genug, das Heiko und Paulina es mitbekamen und mich das ganze Essen über damit neckten. Vielleicht nahm der Tag ja wirklich noch eine unerwartete Wendung.

Als wir jedoch später an das Ortseingangsschild kamen, an dem sie auf uns warten wollte, konnten wir sie nirgendwo entdecken. Eine Verabredung mit „Wir treffen uns in ungefähr ein bis zwei Stunden am Ortsschild bevor es in die Stadt geht“ war vielleicht doch ein wenig ungenau. Irgendwie schade, denn sie schien wirklich nett zu sein, trotz ihrer für mich schwer nachvollziehbaren Vorliebe für Großstädte. Auch ihre Heimatstadt selbst erwies sich als unangenehme, laute und verschmutzte Industriestadt, in der wir es keine zwei Minuten aushielten. Die Sache mit dem Date wäre also ohnehin schwierig geworden.

Auf dem Weg in die Stadt kamen wir zunächst an einem riesigen Kiesberg vorbei, von dem wir dachten, dass es sich um ein Kiesabbaugebiet handelte. Einige Kilometer weiter entdeckten wir jedoch, dass wir uns gewaltig geirrt hatten, was die Verwendung der vielen kleinen Steine anbelangte. Sie waren kein Abbauprodukt, sondern vielmehr ein Abfallprodukt. Der eigentliche Rohstoff, der hier gewonnen wurde war Braunkohle. Plötzlich tat sich vor uns ein riesiges Loch auf in dem Bergbaumaschinen von so ungeheurer Größe standen, dass LKWs dagegen aussahen wie Spielzeugautos. Ein Förderband mit einer Länge von mehreren Kilometern transportierte das Gestein, das die Kohle verdeckt hatte, zu den großen Kiesbergen und sorgte dafür, dass die Kohle zur Weiterverarbeitung kam. Hinter diesem Übertagebau der wie eine klaffende Wunde in die Oberfläche der Erde gerissen worden war, stieg eine dicke Rauchwolke in den Himmel auf. Hier befand sich das Kohlekraftwerk, in dem der frischgewonnene Rohstoff gleich wieder verbrannt wurde, um die Stadt sowie den Tagebau mit ausreichend Strom zu versorgen. Der große Kreislauf der Energie, der nicht ganz spurlos an der Stadt vorüber zog. Später erfuhren wir von einem Bewohner eines nahe gelegenen Dorfes, dass Pljevlja die am stärksten verschmutzte Stadt Montenegros ist. So schlecht wie hier, ist die Luft nirgendwo sonst im ganzen Land und das, obwohl die Stadt bedeutend kleiner ist als Nikšic und Podgorica.

Da unsere Erfahrungen mit Hotels in letzter Zeit nicht allzu gut verlaufen sind und wir keine Lust hatten, mehr Zeit als Nötig in diesem Smogparadies zu verbringen, bogen wir gleich an der Pforte der Stadt wieder ab und folgten der Umgehungsstraße, um unser Glück irgendwo im Innland zu suchen. Doch zunächst machten wir noch zwei kleine Zwischenstopps, bei einer Tankstelle und bei einem Supermarkt. In der Tankstelle fragte ich, ob wir unser serbisches Geld in Euro wechseln könnten, denn obwohl Montenegro nicht zur EU gehört, wird hier mit Euro gezahlt. Hauptsächlich deshalb, weil sich nach seiner Unabhängigkeitserklärung niemand die Mühe gemacht hat, eine eigene Währung zu erfinden.

Der Tankwart teilte mir zunächst mit, dass sie leider keine serbischen Dinara annehmen könnten, überlegte es sich dann aber noch einmal anders und sprach mit seinem Boss. Dieser witterte ein kleines Nebengeschäft mit einem guten Wechselkurs und ersparte mir damit den Weg zur Bank, für den ich wirklich mitten in die Stadt hineingemusst hätte. Um mich nicht völlig übers Ohr hauen zu lassen, rechnete ich unser serbisches Geld im Kopf zusammen und überschlug grob den ungefähren Wechselkurs. Der Boss der Tankstelle tat dann in etwa das gleiche, nur andersherum. Er glaubte mir den Wert, den ich ihm sagte ohne ihn zu überprüfen, rundete ihn noch ein bisschen auf um ihn leichter rechnen zu können und tippte dann einen Wechselkurs in seinen Taschenrechner. Anschließend wies er seine Mitarbeiterin an, mit den entsprechenden Betrag in Euro auszuhändigen und ließ sich von mir die Dinara geben. Erst später wurde mir klar, dass er mit einem völlig falschen Kurz gerechnet hatte, den er dann noch einmal aufrundete. Auf diese Weise schenkte er uns am Ende fast 13€. Ich fühlte mich fast ein bisschen wie bei Monopoly nach dem Ziehen der berühmten Ereigniskarte „Bankirrtum zu Ihren Gunsten!“. Nur dass das Geld dieses Mal echt war.

Mit den frisch gewonnenen Moneten stolzierten wir in den nahegelegenen Supermarkt und hauten sie erst einmal ordentlich auf den Putz. Wir kauften Reis, Chips, Saft und seit langer Zeit mal wieder ein paar Erdnüsse, von denen wir schon ganz vergessen hatten, wie sie überhaupt schmeckten. Außerdem wollten wir Paulina, die draußen auf unsere Sachen aufpasste, eine kleine Überraschung mitbringen. Irgendetwas blödsinniges, mit dem man sie ein wenig aufmuntern konnte. So etwas wie der falsche Schnauzbart, den sie mir vor einem Jahr mitgebracht hatte. Die Spielzeugabteilung war leider deprimierend klein und so entschieden wir uns am Ende für eine grüne Spielzeugpistole, damit sie sich in Zukunft gegen düstere Gestalten verteidigen konnte. Zumindest eignete sie sich als Schlagwaffe, denn schießen konnte sie leider nicht. Aber vielleicht merkte das ja keiner.

Bevor wir den Laden verließen kamen wir noch an der Wursttheke vorbei, was unter anderen Umständen sicher kein nennenswertes Ereignis gewesen wäre. Hier aber haute es uns fast aus den Socken. Normalerweise, das heißt in allen Ländern, die wir bisher bereist haben, gibt es in großen Supermärkten immer zwei Arten von Wursttheken. Auf der einen Seite gibt es die Kühlregale, in denen die Massenware praktisch verpackt in buntes, giftiges Plastik für jedermann griffbereit herumliegt. Zum anderen gibt es dann die Frischetheke, an der man sich nicht selbst bedienen darf. Hier bekommt man die teureren Produkte, die noch nicht eingeschweißt sind in genau der Menge vom Schlachter in die Hand gedrückt, die man bestellt. Erst dann kommen sie in genauso giftiges, meist aber weniger buntes Plastik.

Die gleiche Aufteilung gab es auch in diesem Laden. Doch anstelle von frischen Fleisch und Wurstprodukten lagen in der Frischetheke genau die gleichen bunt eingeschweißten Plastik-Presswürste, wie auch im anderen Regal. Nur größer und mit noch mehr Farben auf der Hülle. Der Inhalt war aber immer der gleiche. Es war eine gummiartige, rosafarbene Masse, die zu gut zwei Dritteln aus Zusatzstoffen und Geschmacksverstärkern bestand. Der Rest war eine Mischung aus Fett, Knorpelmasse und Sehnen, die so fein zermahlen waren, dass man nicht mehr erkennen konnte, um was es sich dabei eigentlich handelte. Möglicherweise mag in der einen oder anderen Wurst auch ein bisschen Fleisch enthalten sein, aber das würde ich nicht beschwören wollen. Der Fleischereifachverkäufer der hinter dem Tresen stand, war dafür zuständig, den Kunden ihre Wurstimitate so zu geben, wie sie waren, oder sie auf Wunsch einmal in der Mitte durchzuschneiden. Wir trauerten ernsthaft um die armen Tiere, die ein Leben in Leid und Qualen hatten führen und loslassen müssen, um dann so herzlos verunstaltet zu werden. Hatten die Menschen den gar keinen Anstand? Obwohl, wie sicher waren wir uns eigentlich, dass überhaupt ein Tier für diese Wurst gestorben war? Vielleicht kam sie ja auch ganz ohne organisches Material aus und bestand nur aus Chemie. Ein Gedanke, der auf eine seltsame Weise gleichzeitig irgendwie erleichternd und äußerst beunruhigend wirkte.

Als wir Paulina mit ihrer neuen Selbstverteidigungswaffe überraschten, freute sie sich seltsamerweise gar nicht so sehr, wie wir es gehofft hatten. Mehr als ein fades Lächeln konnte sie sich nicht abgewinnen. Irgendwie schien sie die ganze Sache nicht besonders gut mit Humor nehmen zu können. Auf der einen Seite war das verständlich, auf der anderen Seite machte es ihr die Situation natürlich noch bedeutend schwerer. Es ist eine Angewohnheit von uns Menschen, dass wir immer glauben, irgendetwas erreichen oder erschaffen zu müssen, um glücklich, fröhlich, zufrieden und humorvoll sein zu können. Doch das ist ein Irrtum. Es gibt nicht den kleinsten Beweis dafür, dass wir glücklicher, fröhlicher, zufriedener oder humorvoller wären, wenn wir mehr Geld, mehr Erfolg im Job, eine bessere Beziehung, mehr Talente, ein größeres Auto oder sonst irgendetwas im Leben mehr, besser oder anders hätten, als wir es jetzt haben. Im Gegenteil. Wir kennen alle genügend Situationen, in denen es uns deutlich besser ging als jetzt, in denen wir mehr konnten, mehr wussten, mehr besaßen oder mehr Erfolg hatten, ohne dass wir uns deswegen aber auch besser fühlten. Gleichzeitig kennen wir mindestens ebenso viele Situationen, in denen wir glücklich und fröhlich waren, ohne dass unser Leben objektiv betrachtet in diesem Moment „besser“ war. Natürlich ist es eine höhere Kunst, mit sich selbst und der Situation zufrieden zu sein, wenn man gerade bis zum Hals in der Scheiße steckt, als wenn man in der Karibik am Strand liegt und sich die Schultern massieren lässt. Aber es ist bedeutend leichter, aus dem stinkenden Haufen zu entkommen, wenn man seine Situation mit Humor nehmen kann, anstatt auch noch den Kopf hängen zu lassen. Und wenn man es schafft, in einer solchen Situation mit sich zufrieden zu sein, dann schafft man es immer. Schafft man es nicht, wird man sich wahrscheinlich auch noch auf der Sonnenliege in der Karibik den Kopf darüber zerbrechen, was mit einem selbst alles nicht stimmt.

Paulinas nüchterne Reaktion auf unsere kleine, ironische Aufmunterung machte uns aber auch noch einmal bewusst, wie lange es gedauert hatte, bis wir nach unserem Aufbruch selbst unseren Humor wiederentdeckt hatten. Es gab Zeiten, in denen wir selbst auch über so gut wie gar nichts lachen konnten. Es hatte lange gedauert, bis sich das wieder änderte und auch jetzt ist es definitiv noch ausbaufähig.

Kurz vor dem Ausgang der Stadt kamen wir dann gleich noch an einem anderen Großindustriezweig vorbei. Diesmal war es eine Holzfabrik, ein gigantisches, vollautomatisiertes Sägewerk, das auf dem neusten Stand der Technik zu sein schien. Die Stämme wurden von den LKWs in ein Laufbandsystem gekippt und gelangten dann automatisch von einer Station in die nächste. Zunächst wurden sie grob entrindet, dann weitertransportiert und anschließend wurde ihnen in einem ähnlichen Monster noch einmal die restliche Rinde entfernt. Dann gelangten sie in eine Sortiermaschine, wo sie nach verwertbarer Länge und nach Dicke in unterschiedliche Bereiche verteilt wurden. Am Ende kamen sie dann entweder als ganze Stämme in ein Lager oder wurden zuvor noch von überdimensionierten Sägen in Bretter gesägt. Das erklärte nun auch die lange LKW-Schlange, die uns an der Grenze entgegen gekommen war.

 

Fortsetzung folgt...

 

Spruch des Tages: Willkommen in Montenegro

Höhenmeter: 110 m

Tagesetappe: 11 km

Gesamtstrecke: 11.561,27 km

Wetter: bewölkt, immer wieder starke Regenschauer

Etappenziel: ZISSIS Hotel, 44004 Aristi, Griechenland

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

 Fortsetzung von Tag 648:

Kurz nachdem die Party vorbei war, kam auch Heiko in unser Zimmer zurück. Der steile Berg und einige weitere Ereignisse des Tages hatten in Paulina wieder vieles von ihrer unterdrückten Wut gelöst und jetzt, nachdem der Lärm vorbei war, hatte Heiko so sehr auf die schlechte Stimmung im Raum und auf Paulinas wütendes Schnauben lauschen müssen, dass er schon wieder nicht hatte schlafen können. Hätte er gewusst, dass sich die Nacht noch so entwickeln würde, wie sie sich entwickelt hatte, hätte er sich sicher anders entschieden. Vielleicht hätte er mit mir getauscht oder er hätte Paulina gebeten, sich zu mir ins Zimmer zu legen. Sicher aber hätte er sie nicht alleine gelassen.

Für einen Moment wirkte es, als wären die Ereignisse des Tages nun wirklich vorbei und als könnten wir endlich die Ruhe und den Schlaf finden, die wir uns nun bereits so lange herbeigesehnt hatten. In uns hämmerten die Bässe zwar noch immer nach, aber langsam begannen wir weg zu dösen.

Im Halbschlaf hörte ich plötzlich wieder Stimmen. Sie kamen wie aus einer anderen Welt und zunächst glaubte ich, dass ich sie mir bloß einbildete. Dann aber klopfte es an unserer Tür und noch ehe wir etwas antworten konnten standen Paulina und der Hotelbesitzer in unserem Zimmer. Heiko trug Ohropax und bekam von der Geschichte noch weniger mit als ich, der nur völlig verwirrt und schlaftrunken in seinem Bett saß. Der Mann hielt seine Geldbörse in der Hand und zog verschiedene Scheine daraus hervor, die er mir geben wollte, dann aber letztlich doch nicht gab. Er faselte irgendetwas von Bezahlen und Ausgleich und ich vermutete, dass er uns vielleicht für die Unannehmlichkeiten der Nacht entschädigen wollte. Dann machte es eher den Anschein, dass er stattdessen plötzlich auf die Idee gekommen war, uns doch noch Geld für die Übernachtung abzuknöpfen und schließlich waren sowohl er als auch ich so verwirrt, dass er einfach verschwand und sich in sein eigenes Zimmer begab.

„Was war los?“ fragte ich an Paulina gewandt.

Sie erzählte, dass der Mann plötzlich neben ihrem Bett gestanden hatte, das Geld in der Hand und kurz davor, sie anzutatschen. Sie wäre dann aufgestanden und an ihm vorbei zu uns gegangen. Das alles erzählte sie so beiläufig, dass ich mir in meinem schlaftrunkenen Zustand keine Gedanken darüber machte. Ich hielt es für ein Missverständnis und war überzeugt davon, dass er ein schlechtes Gewissen wegen der Party hatte, das er irgendwie bereinigen wollte. Erst am nächsten Morgen wurde mir klar, dass vielleicht viel mehr hinter der Sache steckte.

Paulina kehrte in ihr Zimmer zurück und versuchte wieder zu schlafen. Doch das Problem an der Sache war, dass sie keinen Zimmerschlüssel hatte. Sie konnte sich also nicht einschließen und damit auch nicht wirklich vor ungebetenen Besuchern schützen. Stattdessen schob sie einen kleinen Schrank vor die Tür und legte sich so in ihr Bett, dass sie den Zimmereingang jederzeit im Auge hatte. Sie war so voller Angst, dass sie keine Sekunde schlief und nur darauf wartete, bis die Sonne aufging.

Nachdem Paulina weg war, stand ich noch einmal auf, um aufs Klo zu gehen, wofür ich unser Zimmer verlassen und ans andere Ende des Flurs musste. Dabei sah ich, dass unser Hotelbesitzer im Zimmer neben uns auf dem Bett lag. Er war einfach umgekippt, so wie er war, lag auf dem Rücken und hatte es nicht einmal mehr geschafft, die Zimmertür zu schließen. Dies war das letzte Mal, das ich ihn zu Gesicht bekam. Am morgen hatte ein Zimmermädchen seine Tür verschlossen. Sein Schnarchen hörte man noch immer. Er schlief seinen Rausch aus und selbst wenn er wach gewesen wäre, hätte er wohl kaum den Mut gehabt, uns noch einmal unter die Augen zu treten.

Erst jetzt konnten wir noch einmal besprechen, was in der Nacht wirklich passiert war.

Paulina war ebenfalls bereits fast eingeschlafen gewesen, als sie plötzlich merkte, dass der betrunkene Mann neben ihr stand. Er hatte seine Hand ausgestreckt und versuchte sie zu berühren. Als sie aufschreckte wich er zurück und versuchte ihr Geld zu geben. Ob es als eine Art Bezahlung für sexuelle Gefälligkeiten gedacht war oder ob er wirklich nur versucht hatte, sie zu wecken um ihr eine Entschädigung für die schlaflose Nacht zu geben, wissen wir natürlich nicht mit Gewissheit. Vielleicht hatte er auch vor gehabt sich bei mir zu entschuldigen, hatte dann festgestellt, dass eine Frau im Bett lag und war dann auf die Idee gekommen, seinen Plan noch einmal zu ändern um den Party-Abend noch mit einem Highlight zu beenden. Wir wissen es nicht und wir werden es wohl auch nie erfahren. Aber darum geht es im Grunde auch gar nicht. Wichtiger und entscheidender ist, wie Paulina die Situation wahrgenommen hat und wie sie darauf reagierte. In ihren Augen war es klar, dass ihr der Kerl an die Wäsche wollte und dass es sich bei dem Betrunkenen um einen potentiellen Vergewaltiger handelte. Und selbst wenn er es vielleicht nicht vorgehabt hatte, so ließ sich doch nicht leugnen, dass sie ihn förmlich dazu eingeladen hatte. Er war wie gesagt ein kleiner, schüchterner Wurm, der nüchtern einer Frau nicht einmal in die Augen sehen konnte. Es wäre also kein Problem gewesen, ihn mit einem einzigen Schlag außer Gefecht zu setzen oder ihn mit einem lauten Schrei zu vertreiben. Doch Paulina tat nichts davon, nicht weil sie es nicht gekonnt hätte, sondern weil sie glaubte, es nicht zu dürfen. Obwohl sie sich bedroht fühlte, hatte sie noch immer die Unsicherheit im Kopf, ob sie wirklich das Recht dazu hatte, zu sich zu stehen und sich zu verteidigen. Vielleicht war es ja nur ein Missverständnis und er wollte überhaupt nichts böses. Vielleicht! Aber selbst wenn, dann hatte er nachts um vier und in komplett betrunkenem Zustand nicht das geringste im Zimmer eines Gastes zu suchen. Erst recht nicht im Zimmer eines weiblichen Gastes. Selbst wenn er aus Trunkenheit einfach nur die falsche Tür erwischt hatte, wäre dies allein Grund genug gewesen um ihn windelweich zu schlagen, wenn sie sich deshalb bedroht oder angemacht fühlte. Wenn es wirklich ein Missverständnis war, dann konnte man sich im Anschluss ja noch dafür entschuldigen, aber die Sicherheit ging an dieser Stelle vor. Nicht aber für Paulina. Sie bekam mit dem nächtlichen Besucher noch einmal deutlich ihr zentrales Lebensthema gespiegelt. Lieber verletze ich mich selbst, als das ich jemand anderem auf die Füße treten könnte. Selbst dann, wenn es sich bei diesem anderen um einen mutmaßlichen Vergewaltiger handelt. Die Unsicherheit, die in ihr Herrschte, war sogar so groß, dass sie nicht einmal uns gegenüber von ihrer Angst erzählen konnte. Obwohl sie vollkommen in Panik gewesen war, hatte sie die Geschichte in der Nacht so rübergebracht, als wäre alles in Ordnung. Wenn sie nur für eine Sekunde erwähnt hätte, dass sie Angst vor einem erneuten Übergriff hatte und dass sie deshalb nicht alleine in einem Zimmer schlafen wollte, das sie nicht abschließen konnte, dann hätten wir mit Leichtigkeit etwas unternehmen können. Tatsächlich hatte sie ja sogar davon berichtetet, nur eben ohne jedes Gefühl von Dringlichkeit, so dass ihre eigentliche Botschaft nicht bei uns ankam.

Doch noch beunruhigender als das, was passiert war, war der Umstand an sich, dass überhaupt etwas derartiges passiert war. Es zeigte deutlich, dass Paulina die Entscheidung, die sie treffen sollte, noch immer nicht getroffen hatte. Sie strahlte noch immer eine Unsicherheit und eine Opferhaltung aus, die niemandem entgehen konnte. Der Polizist am Nachmittag war bereits der erste Bote gewesen. Der betrunkene Hotelmann war dann noch einen Schritt weiter gegangen. Er war ein möglicher Vergewaltiger, aber gleichzeitig auch der harmloseste, den sie hatte bekommen können. Er selbst war ein Opfertyp gewesen, jemand, der so viel Unsicherheit in sich trug, dass jeder auf ihm herumhackte und der es sich sogar gefallen ließ, dass seine angeblichen Kumpel sein Hotel in den Ruin trieben, indem sie alle Gäste verscheuchten. Er war ein Täter gewesen, den man mit einem Fingerschnipsen in die Flucht jagen konnte und somit war er das sanftmöglichste Angebot der Schöpfung, um Paulina die Notwendigkeit des Lernens vor Augen zu führen. Was also würde als nächstes kommen, wenn sie dieses Angebot nicht wahrnahm? Wenn sie weiterhin stur blieb und an ihrer Taktik mit dem Todstellen festhielt? Wenn sie nicht lernte, zu sich zu stehen und klare Grenzen zu fordern? Der nächste Spiegelpartner war vielleicht nicht mehr so ein Waschlappen und damit stieg auch die Gefahr, für Paulina ebenso wie für uns.

Noch ahnten wir nicht, wie schnell sich diese böse Vorahnung bereits in eine Gewissheit.

 

 

Spruch des Tages: In einem Land voller Wölfe sollte man lieber nicht so tun, als wäre man ein Schaf.

Höhenmeter: 720 m

Tagesetappe: 15 km

Gesamtstrecke: 11.550,27 km

Wetter: überwiegend sonnig

Etappenziel: Zeltplatz auf einer Wiese, kurz vor 44012 Geroplatanos, Griechenland

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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