Tag 977: Über den Berg nach Polen

von Heiko Gärtner
11.09.2016 17:05 Uhr

21.08.2016

Die letzten Meter in der Slowakei hatten es noch einmal ordentlich in sich. Von dem Tal aus, in dem wir übernachtet haben, führte eine kleine, mittelmäßig befahrene Straße immer weiter den Berg hinauf und wurde dabei immer steiler. Am Ende betrug die Steigung über mehrere Kilometer hinweg laut Schild 19%. Die Hitze sorgte nicht gerade dafür, dass uns dieser Anstieg leichter fiel und so fürchteten wir schon, dass wir entweder an einem Herzinfarkt sterben oder an unserem eigenen Schweiß ertrinken würden, noch ehe wir die polnische Grenze erreicht hatten. Hätten die deutschen Soldaten damals versucht, über diese Grenze nach Polen einzumarschieren, wäre der Krieg wahrscheinlich etwas anders ausgegangen.

Jeder halbwegs vernünftige Befehlshaber hätte gesagt: "Männer! So eine Weltherrschaft ist ja schön und gut und dieses Polen einzunehmen ist sicher ein wichtiger ein wichtiger Schritt dahin. Aber die ganze Sache wird hier einfach zu anstrengend. Was immer auch hinter diesem Berg liegt, es kann sich nicht lohnen, dafür diese Steigung hinaufzumarschieren. Der neue Befehl lautet daher: Umdrehen und wieder nach hause gehen!"

Tatsächlich lohnte sich der Anstieg auch nur bedingt, denn auf der anderen Seite des Passes, auf dessen höchstem Punkt sich die Grenze befand, sah es genauso aus, wie zuvor. Ohne das Schild mit dem großen PL darauf, hätten wir niemals gemerkt, dass wir ein neues Land betreten hatten. Nur die Sprache änderte sich wieder einmal. Polnisch war dem Slowakischen zwar nicht unähnlich, beinhaltete aber noch weitaus mehr "S", "Sc", "Zc", "Cs", "Zs" und "Sczsc"-Laute, von denen wir uns nicht vorstellen konnten, dass wir jemals lernen würden, sie richtig auszusprechen.

Das erste Dorf kam nach etwa zwei Kilometern und da wir komplett ohne Frühstück gestartet waren, fragten wir gleich am ersten Haus nach etwas zum Essen. Eine Frau in einem Jeansrock und ein dicker, älterer Mann in Unterhose mit einem selbst gestochenen Kugelschreibertintentattoo auf dem Arm öffneten die Tür. Wir bekamen ein Brot und zehn Eier, womit wir schon einmal etwas anfangen konnten. Die Sprachbarriere war gigantisch, aber der erste Eindruck der Menschen war durchaus positiv.

Fünf Kilometer weiter erreichten wir eine kleine Touristenstadt. Zunächst fragten wir in einem Hotel nach einem Schlafplatz, doch dieses war, wie die meisten anderen auch, noch bis ende September vollkommen ausgebucht. Dafür bekamen wir eine großartige Zwiebelsuppe, einen Kuchen und eiskaltes Wasser mit Stachelbeeren, Zitrone und Minze. Warum dieser Ort so beliebt bei den einheimischen Touristen war, wollte uns am Anfang noch nicht so ganz einleuchten.

Es gab zwei recht schöne Kirchen und einen Skilift in der Nähe aber ansonsten war es ein Ort wie jeder andere. Erst später erfuhren wir, dass nur fünf Kilometer weiter ein großer Kurort mit mehreren Thermalbädern und Reha-Kliniken war und dass dieser Ort von den Touristen profitierte, die von dort überschwappten. Nach einigem hin und her bekamen wir schließlich einen Schlafplatz im ehemaligen Wohnhaus eines Nonnenordens, den wir bereits aus Italien kannten. Später zeigte sich, dass es ein wahrer Segen war, diesen Platz bekommen zu haben, denn am Abend begann es wie aus Eimern zu schütten und zu gewittern.

Nachdem es nun bereits seit einigen Tagen nicht geklappt hatte, war heute mal wieder rasieren an der Reihe. Zum ersten mal habe ich mich nun darin versucht, meinen Schädel selbst zu rasieren. Ich muss sagen, dass ist gar nicht so einfach. An den Stellen, die man von vorne sehen kann, funktioniert es echt gut, aber am Hinterkopf ist es ein ziemliches Gefriemel. Als ich fertig war und Heiko noch einmal drüber schaute, fand er noch jede Menge Stellen, die ich übersehen hatte und die nun wie kleine Grasbüschel von meinem Kopf abstanden.

Für eine Weile dachte ich ernsthaft darüber nach, ob ich mich nicht in irgendwelchen Neo-Nazi-Foren anmelden und dort nach einigen Tipps fragen sollte. Die Jungs aus der rechten Szene müssten sich damit ja eigentlich auskennen, wie sonst niemand. Andererseit kommt es wohl auch nicht so gut an, wenn man hinschreibt: "Hi Leute vergesse mal für einen Moment euren ganzen Schwachsinn von wegen Deutsche Rasse und so weiter, ich habe mal eine wirklich wichtige Frag: Wie macht ihr dass, dass ihr eure Schädel immer so schön sauber rasiert bekommt?"

Spruch des Tages: Gar nicht so leicht, so eine Glatze!

Höhenmeter: 260 m Tagesetappe: 28 km Gesamtstrecke: 17.741,27 km Wetter: überwiegend sonnig und warm Etappenziel: Kloster, Cieszyn, Polen

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20.08.2016

Um halb neun hatten wir uns mit dem Pfarrer verabredet, der uns nun wieder zurück zu unseren Wagen fahren sollte. Als er um zehn vor neun noch immer nicht aufgetaucht war, begann Heiko langsam zu vermuten, dass er uns einfach vergessen hatte. Er hatte von Anfang an das Gefühl gehabt, dass die Idee, sich auf den Hotel-Deal einzulassen nur mäßig sinnvoll war. Doch vergessen hatte uns der Pfarrer nicht. Er hatte lediglich vergessen zu erwähnen, dass er um 8:00 Uhr eine Messe halten musste und daher unmöglich um 8:30 bei uns sein konnte. Warum er uns diese Information vorenthalten hatte, wussten wir nicht. Es wirkte fast, als wäre es ihm peinlich gewesen, von vornherein zu sagen, dass er die von uns vorgeschlagene Zeit nicht einhalten konnte. Stattdessen sagte er zu, in dem wissen, dass er uns warten lassen musste. Auf diese Weise sorgte er natürlich gleich für eine etwas gereizte Stimmung. Hätte er einfach am Vortag die Wahrheit gesagt, hätten wir uns darauf eingestellt und noch eine halbe Stunde länger geschlafen. Spannend war, dass ich mich in dieser Verhaltensweise des Pfarrers auch selbst wiederfand und nun noch einmal spüren durfte, wie störend diese diplomatische Inkonkretheit war.

Die Nacht war nicht die angenehmste gewesen, denn unser Hotel stand wie erwähnt direkt an deer Hauptstraße und weder die Wände noch die Fenster boten einen angemessenen Lärmschutz. So waren wir in der Früh beide noch etwas verschlafen unterwegs. Die Sonne setzte jedoch alles daran, uns wieder zum Leben zu erwecken. Es was nun nicht mehr so heiß, wie in Rumänien oder Moldawien, aber dafür war die Luftfeuchtigkeit um einiges höher. Dadurch entstandt eine drückende Hitze, die beim Wandern sogar noch härter war, als die trockene aber heißere Zeit im Hochsommer. Landschaftlich zeigte sich die Slowakei auch heute wieder von allen Seiten gleichzeitig. Es war wohl das ambivalenteste Land, das wir überhaupt bereist hatten. Auf der einen Seite war es so idyllisch wie man es sich nur vorstellen konnte und auf der anderen Seite war es dann wieder so grauslich, dass man es nicht glauben mochte. Verglichen mit der Ukraine oder Bulgarien gab es hier nur sehr wenig Verkehr. Dafür waren die Straßenbeläge aber so laut, dass jedes Auto zehn Mal so unangenehm war, wie in den Nachbarländern. Etwa die hälfte der Wanderung befanden wir uns auf leeren Straßen mitten in dem saftig grünen Hügelland. Die andere Hälfte kamen wir auf größere Straßen oder durch Ortschaften und Siedlungen. Obwohl die Orte oft aussahen, als wären es nette kleine Bergdörfer, konnte man sich hier ein Leben nicht vortellen, weil einfach alles Lärmte. Zwischenzeitig hatten wir den Eindruck, dass es irgendwo ein Michpult für Störgeräusche gab, an dem ein DJ saß und den perfekten Lärm-Mix für uns zusammenstellte. Kaum gaben die Autos ruhe, finden die Hunde an. Wenn diese ausgeblendet wurden, gab es sofort den Switch zu den Grillen, zum Freischneider, zur Kettensäge oder zum Mähdrescher. Langsam war es so übertrieben, dass wir nicht mehr an Zufälle glauben konnten. Die Welt musste einfach eine Illusion sein, die durch unsere eigenen Glaubensmuster erschaffen wurde. Anders machte es eifachen keinen Sinn, dass sich Menschen selbst freifillig so etwas antaten.

Gegen 13:00 Uhr machten wir uns das erste Mal auf die Suche nach einem Schlafplatz. Von diesem Moment an folgte ein Ablehnungsmarathon, der bis um 19:00 Uhr anhielt. Insgesamt fragten wir 11 verschiedene Menschen in 5 verschiedenen Orten. Davon waren 7 Pfarrer, zwei waren Mitarbeiter in sozialen Einrichtungen, die vielleicht Altenheime waren, vielleicht aber auch nicht, und 2 waren Hotelbesitzer. Die evangelischen Pfarrer waren generell nicht anzutreffen, die griechisch-katholischen befanden sich auf einer Hochzeit und die katholischen lehnten uns alle it scheinheiligen Gründen ab. Einer drückte uns 5€ in die Hand und meinte, wir sollen uns ein Hotelzimmer buchen. Die fünf Euro waren ja nett, die Aussage dahinter allerdings weniger. Langsam freuten wir uns immer mehr auf Deutschland und Österreich. Wer hätte jemals gedacht, dass wir einmal die Deutschen neben den Franzosen zu den Topfavoriten der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft in Europa zählen würden. Doch genau so war es. Und wie um das noch einmal zu bestätigen, trafen wir heute ein junges Mädchen aus Eichstädt, das hier mit seinen Eltern Urlaub machte. Zwischen der Art, mit der sie uns ansprach und der mit der uns die einheimischen Kinder oft hinterherriefen, lagen Welten. Bei ihr hatte man sofort das Gefühl etwas freundliches erwidern zu wollen. Sonst hatten wir nur immer dne Impuls, so schnell wie möglich weiter zu kommen.

Um kurz vor 19:00 Uhr hatten wir wieder einmal rund 40km zurückgelegt. Von hier aus waren es nun nur noch knappe 10km bis zur polnischen Grenze. Morgen würden wir die Slowakei also wieder verlassen und wir waren ehrlich gesagt nicht traurig deswegen. In diesem Land hatten wir nun wirklich alles erfahren, von der überschwänglichen Gastfreundschaft mit Vollverpflegung auf der ungarischen Seite, bis hin zu Pfarrern, die einem nicht einmal mehr die Tür vor der Nase öffneten, einen durch die Scheibe hindurch alles genau erklären ließen und einen dann zum Teufel schickten. Es war also eine seltsame Mischung aus Ungarn und Ukarine, denn selbst das Zelten war hier fast wieder eine Unmöglichkeit. Nach 40km und 11 Ablehnungen in Bezug auf einen leeren Raum oder eine Garage, schlugen wir unser Zelt oberhalb einer kleinen Ortschaft auf einer Wiese hinter dem Friedhof auf.

Spruch des Tages: Es muss doch hier irgendwo einen Zeltplatz geben!

Höhenmeter: 380 m Tagesetappe: 21 km Gesamtstrecke: 17.713,27 km Wetter: überwiegend sonnig und warm Etappenziel: Hostel, Rudzica, Polen

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19.08.2016

Bevor wir aufbrachen, bekamen wir noch ein Frühstück im Haus der Bürgermeisterin. Es gab heißen Hollundersaft und frisch in Butter gebratene Eier. Besser konnte man also kaum in den Tag starten. Unsere Schule lag gleich am Beginn des Weges, der uns über den Pass ins Nachbartal führte. Es war ein überwucherter Feldweg, der kaum mehr verwendet wurde und den die Landmaschienen leider recht übel zugerichtet hatten. Dafür aber führte er über ruhige, schöne Hügelkuppen hinweg. So waren unsere Wanderwege ganz am Anfang unserer Reise gewesen und die gesamte Umgebung gab uns nun wieder ein Gefühl von Heimat. Es waren nur noch Nuancen, die das Wandern hier von einer Wanderung in Bayern oder Österreich unterschieden und solange keine Menschen oder Besiedelungen sichtbar waren, merkte man überhaupt keinen Unterschied.

haengebruecke franz zerstoert

Was die Menschlichkeit anbelangte begannen wir die Ungarn nun richtig zu vermissen. Die Menschen hier waren kein unangenehmes Volk, aber sie waren sehr reserviert und sehr unstet in ihren Aussagen und Entscheidungen. Heute bekamen wir gleich mehrfach eine Zusage für einen Platz, die sich dann wieder in eine Absage wandelte, weil irgendjemand irgendetwas übersehen hatte. Es schien wirklich, als wäre das ganze Volk ein Spiegel von mir, da jeder auf seine Art vollkommen verplant war und sich selbst wie auch allen anderen das Leben schwer machte. Fast den ganzen Tag wanderten wir über kleine Sträßchen durch eine schöne, ruhige Gegend. Erst als wir uns auf die Schlafplatzsuche machten, kamen wir plötzlich wieder an eine Hauptstraße, die so stark befahren war, dass man es kaum aushielt, sich in ihrer Nähe aufzuhalten. Und doch gab es hier Häuser mit Gärten, hübschen Beeten, Planschbecken und Gartenstühlen. Teilweise waren sie gerade erst vor ein oder zwei Jahren hier her gebaut worden. Sie waren top gepflegt und überall sonst auf der Welt wäre es sicher schn gewesen, sich im Sommer mit einem Buch auf die Terrasse zu setzen oder abends eine kleine Grillparty zu veranstalten. Aber hier war es kaum vorstellbar. Allein in den zwei Minuten, die eine alte Dame brauchte, um mit dem Pfarrer zu telefonieren, fuhren 163 Fahrzeuge an uns vorrüber. Davon waren 87 LKWs, 14 Busse und 3 Traktoren. Heiko hatte sich die Mühe gemacht, sie zu zählen. Wie konnte man hier freiwillig leben wollen?

Nachdem uns auch diese Pfarrer zu und dann wieder abgesagt hatte, folgten wir der Hauptstraße für einige Kilometer und bogen dann in ein Seitental ab. Hier versuchten wir unser Glück an der nächsten Kirche noch einmal, wobei wir dieses Mal zum umgekehrten Ergebnis kamen. Der Pfarrer war gerade dabei, sich ein Abendessen zuzubereiten und zeigte daher nicht das geringste Interesse, uns weiterzuhelfen. Kaum waren wir weg, packte ihn jedoch das schlechte Gewissen und er fuhr uns im Auto hinterher. Zwei Orte weiter holte er uns ein und bot uns doch noch eine Lösung an. Unsere Wagen wurden in einer Kirche verstaut und er fuhr uns mit dem Auto die gesamte Strecke zurück zur Hauptstraße und noch einige Kilometer weiter in eine Kleinstadt. Dort bezahlte er eine Hotelübernachtung für uns, steckte uns 25€ zu und gab uns noch Essensgutscheine für die gegenüberliegende Pizzeria im Wert von 32€. Insgesamt hatte er nun also fast 100€ für uns ausgegeben, obwohl wir mit einem einfachen, kostenlosen Platz in seinem Gemeindehaus zufrieden gewesen wären. Das dumme dabei war, dass wir nun wieder direkt an der Hauptstraße schliefen, von der wir uns schon so schön weit entfernt hatten. Dafür bekamen wir dann aber jeder eine Riesenpizza, die einiges wieder gut machte.

Spruch des Tages: Die ungarischen Slowaken waren mir irgendwie lieber.

Höhenmeter: 390 m Tagesetappe: 25 km Gesamtstrecke: 17.692,27 km Wetter: überwiegend sonnig und warm Etappenziel: Pfarrhaus, Janowice, Polen

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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