Grenz-Erfahrungen in Russland: Gefängnis, Militär & Industrie

von Heiko Gärtner
02.11.2018 06:46 Uhr

Einmal Russland und zurück – Warum wir das größte Land der Welt an nur einem Tag abhandelten

Dass eine Wanderung zu Fuß und ohne Geld durch Russland kein Kinderspiel werden würde, war uns gleich von Beginn an bewusst gewesen. Noch bevor wir überhaupt nur in die entsprechende Richtung der russischen Grenze kamen, mussten wir bereits mit den ersten Hindernissen kämpfen. Zunächst einmal war da die Sache mit dem Visum. Alle 41 Länder zuvor hatten wir bereisen können, ohne irgendetwas zu Planen oder zu organisieren. Wir waren zur Grenze gegangen, hatten teilweise einen Stempel in unseren Reisepass bekommen und hatten manchmal nicht einmal bemerkt, dass wir überhaupt ein neues Land betraten. Doch um nach Russland einreisen zu können brauchte man ein Visum. Und dies bekam man nicht so ohne weiteres. Man brauchte Passbilder, einen Antrag, eine Reiseversicherung und vor allen Dingen eine Einladung eines Einheimischen. Zum Glück konnten wir Russlandvisum.org als Sponsorpartner gewinnen, die sich um all die Einzelheiten kümmerten und so hielten wir etwa zwei Wochen vor dem erreichen der Grenze unsere Touristenvisa in den Händen.Bis zu diesem Zeitpunkt waren unsere Erfahrungen mit Russland also noch ganz gut.

Eine Grenze voller Hindernisse

Doch sofort folgte das nächste Problem: Russland war das wahrscheinlich einzige Land der Welt, dass es verbot, seine Grenze zu Fuß zu überqueren. Man durfte mit dem Bus fahren, Trampen, oder auf einem Fahrrad über die Grenze rollen. Man durfte sogar reiten und wahrscheinlich sprach auch nichts dagegen, die Grenze auf dem Rücken einer Schildkröte zu überqueren, sofern diese dadurch nicht illegal eingeführt wurde und sofern man eine fand die groß und stark genug war. Das einzige, was man ganz und gar nicht durfte, war zu Fuß gehen. Für zwei Wanderer wie uns natürlich eine äußerst ungünstige Situation.

Mit so einem Oltimer-Rennauto wäre der Grenzübertritt nach Russland kein Problem gewesen.

Mit so einem Oltimer-Rennauto wäre der Grenzübertritt nach Russland kein Problem gewesen.

Laut dem finnischen Grenzbeamten, den ich bereits drei Monate vor unserem Grenzübertritt angerufen und um Informationen gebeten hatte, gab es drei Möglichkeiten für uns. Wir konnten entweder mit einem Auto oder einem Truck mittrampen, einen offiziellen Bus nehmen oder uns ein Fahrrad besorgen. Die erste Idee scheiterte daran, dass es nahezu unmöglich war, jemanden zu finden, der sowohl uns, als auch die Wagen mitnehmen konnte. Die zweite Möglichkeit erwies sich als nicht weniger komplex. Denn was mir der Grenzbeamte nicht gesagt hatte war, dass es überhaupt keine Busse gab, die über die Grenze unserer Wahl fuhren. Von der Stadt aus, von der wir zu unserem Russlandabenteuer starten wollten, gab es lediglich einen Zug in die nächstgrößere finnische Stadt. Von dort aus wiederum musste man dann einen Überlandbus bis in einen kleinen, abseitsgelegenen Grenzort nehmen und erst dort konnte man in einen Bus steigen, der über die Grenze fuhr. Dieser machte aber dann auch erst wieder rund 30km hinter der Grenze seinen ersten Stopp und der zweite befand sich bereits in Sankt Petersburg.

Diese Bus- und Bahnkutschiererei erschien uns also auch nicht besonders sinnvoll, weshalb wir uns bei unserer Lösung auf die Fahrräder konzentrierten. Und tatsächlich, als wir es schon fast aufgegeben hatten, gelang es uns, noch zwei alte Räder aufzutreiben. Kurz bevor wir nach einer ebenso langen wie erfolglosen Tour durch die Stadt wieder unseren Schlafplatz erreichten, kamen wir an einem Hof vorüber, der so voller Gerümpel war, dass es nur eines bedeuten konnte: Hier lebten Messies, also Menschen, die niemals etwas wegwarfen oder aussortierten, da man nie wissen konnte, ob man es noch einmal brauchen würde. Und wenn wir auf unserer Reise eine Sache gelernt hatten, dann war es die, dass Messies überall auf der Welt, vollkommen unabhängig von Kultur und Nationalität immer hilfreiche und freundliche Menschen waren, die einem gerne aus der Patsche halfen. Genau für solche Zwecke sammelten sie das ganze Zeug ja, das ihnen den Platz zum Leben nahm.

Auch hier irrten wir uns nicht. Nach einem kurzen Moment der Skepsis über unsere ungewöhnliche Anfrage, wurde sich sofort auf die Suche nach alten, ausrangierten Rädern gemacht. Heiko bekam eines, dass der Onkel vor zwanzig Jahren gekauft uns aufgemotzt, aber niemals gefahren hatte. Ich hingegen bekam das Mädchenrad der Mutter, mit dem sie rund 30 Jahre zuvor zur Schule gefahren war.

Nur mit dem Fahrrad durften wir über die russische Grenze

Nur mit dem Fahrrad durften wir über die russische Grenze

Mit dem Rad über die Grenze

Wenn wir mit unseren Wägen so durch die Welt wandern, Heiko mit seinem Hawaii-Hemd und dem Zopf und ich mit meiner Mönchsrobe, dann geben wir für die meisten Menschen ein recht ungewöhnliches Bild ab. Doch dies war nichts im Vergleich zu dem Bild, das wir nun mit unseren Rädern abgaben. 10 km lang war die Strecke von unserer Unterkunft bis an die Grenze. Als wir dort ankamen taten uns bereits Beine, Arme und Hintern weh. So praktisch ein Fahrrad auf der einen Seite auch sein mochte, in Kombination mit einem Pilgerwagen und in einem Zustand, in dem es weder Luft befüllte Reifen noch eine Gangschaltung oder eine Bremse hatte, brachte es keine echten Vorteile gegenüber dem Wandern.

Die finnischen Grenzbeamten waren noch weitgehend entspannt und lächelten nur sanft über unser Auftreten. Die russischen hingegen waren da etwas strikter. Man hatte sie nach ihrer Fähigkeit eingestellt, absolute Humor- und Herzlosigkeit auszustrahlen und jedes bisschen Freude und Zuversicht aus den Menschen in ihrer Umgebung zu saugen. Wären wir in einem Harry Potter Film gewesen, hätte man sie sicher durch Dementoren dargestellt.

„STOPP!!!!!“ schrie mich eine kleine aber beeindruckend autoritäre Frau aus 100 m Entfernung an, die aussah, als verspeiste sie Pilger wie mich zum Frühstück. Mein Fehler war es gewesen, nicht mit meinem Rad zu fahren, sondern es neben mir her zu schieben. Laut Vorabinformation des besagten Grenzbeamten hätte dies kein Problem sein dürfen, doch hier sah man das anders. Fußgänger waren hier verboten, auch wenn sie ein Rad bei sich hatten. Radeln hingegen war erlaubt. Und dies wurde auch fleißig genutzt. Auf der einen Seite von den Finnen, die ein Dauervisum besaßen und dafür auf der russischen Seite bedeutend günstiger einkaufen und tanken konnten. Auf der anderen Seite von Russen, die auf die finnische Seite herüber fuhren, um hier all die Dinge zu kaufen, die man in Russland überhaupt nicht bekommen konnte. Gute Schokolade zum Beispiel. Obwohl vollkommen klar war, dass beide nur über die Grenze fuhren, um einzukaufen und dass viele von ihnen Dinge mitbrachten, die man eigentlich versteuern musste oder gar nicht über die Grenze bringen durfte, wurden die anderen Radler einfach durch gewunken. Wir hingegen mussten uns einer langatmigen und zugleich vollkommen sinnlosen Grenzkontrolle unterziehen, bei der unsere Packsäcke gerade soweit durchsucht wurden, dass man eventuelle Schmuggelware nicht gefunden hätte.

Noch schlimmer erging es den Autofahrern, die Teilweise für Stunden aufgehalten wurden und jedes einzelne Gepäckstück öffnen und präsentieren mussten. Später erfuhren wir von einem Pfarrer aus der Gegend, dass man in Russland immer in etwa für die Hälfte tanken konnte, dass es jedoch vorkam, dass man beim Grenzübertritt mehrere Stunden aufgehalten wurde. Die nächste Tankstelle hinter der Grenze befand sich ebenfalls rund 30km entfernt. Man konnte also sagen, dass man hier durchaus einen verdammt hohen Preis dafür zahlte, dass man günstig tanken durfte.

Schließlich hatten auch wir die andere Seite der Grenze erreicht und waren damit am Ende unserer Fahrradtour angekommen.

Die russische Grenze

Die russische Grenze

Wie in einer neuen Welt

Wir waren etwas überrascht darüber, wie sehr sich die Welt plötzlich veränderte, nur weil wir eine Grenze überquert hatten. Doch Russland hatte mit Finland nicht das geringste gemeinsam. Wo Imatra, die letzte Stadt vor der Grenze, zwar eine laute, ungemütliche und hektische, aber doch immerhin eine ernstzunehmende Stadt mit eigenem Zentrum und modernem Krimskrams war, war Swetogorsk nun ein reiner Slum. Straßen und Pflastersteine waren aufgebrochen und auf dem Marktplatz wuchs mehr Grünzeug, als im Park. Die Häuser waren im besten Fall die typischen Plattenbauten der UdSSR, im schlimmsten halb verfallene Baracken, wie man sie sonst aus Filmen über Armenviertel in Afrika kennt. Noch schlimmer wurde es, als wir kurz darauf ins Industrieviertel der Stadt kamen. Hier gab es eine Fabrik, die irgendetwas herstellte, für das sie Kies benötigte. Doch anstatt den Kies wie überall sonst auf der Welt mit Förderbändern oder LKWs zu transportieren, wurde er hier mit Wasser vermengt und durch stählerne Pipelines gepumpt. Ich weiß nicht, ob ihr euch vorstellen könnt, wie viel Lärm es verursacht, wenn mehrere Millionen Steine gleichzeitig gegen ein hallendes Metall schlagen. Es war absolut unaushaltbar und dennoch lebten und arbeiteten hier Menschen. Allein diese eine Beobachtung sagte bereits alles über den Stellenwert, den ein Menschenleben in diesem Land hatte. Das überraschende dabei war jedoch vor allem, dass die Menschen hier extrem gut und Modisch gekleidet waren. Blendete man die Kulisse im Hintergrund aus, so hätte man die Menschen auch für die wohlhabenden Besucher einer Businessmesse halten können. Und doch war es unverkennbar, dass sie alle in diesen verfallenen und unwohnlichen Baracken lebten, für die man in Deutschland wahrscheinlich sogar von einem Obdachlosen verklagt würde, wenn man sie ihm als Notunterkunft anbot.

Ein russischer Platz mitten in der Stadt Swetogorsk

Ein russischer Platz mitten in der Stadt Swetogorsk

Eigentlich hatten wir gehofft, unsere Räder irgendwo sinnvoll unterbringen, oder wenigstens angemessen entsorgen zu können, aber das schien hier eher unmöglich zu sein. Andererseits wirkte alles ein bisschen wie eine Müllhalde und somit hatten wir dann auch kein allzu schlechtes Gefühl, sie einfach in einem Gebüsch zu verstecken.

Unser erstes Ziel in Swetogorsk war die Kirche, in der Hoffnung dort beim Pfarrer einen Schlafplatz zu bekommen. Dieser vertröstete uns jedoch höflich aber bestimmt und löschte zugleich jede Hoffnung aus, in Russland auch nur einen Platz bei der Kirche zu ergattern. Das System hier glich dem in Serbien. Es gab die Kirchen, die aber nicht vergeben wurden und das war´s. So wie es aussah, standen wir also in jeder erdenklichen Hinsicht vor ungeahnten Herausforderungen, die immer mehr die Frage in uns wachriefen, ob diese ganze Russlandreise überhaupt eine sinnvolle Idee war.

Unsere erste orthodoxe Kirche in Russland

Unsere erste orthodoxe Kirche in Russland

Unser zweiter Zwischenstopp war die Poststation, da man uns bei der Aushändigung unseres Visums gesagt hatte, dass wir uns umgehend registrieren lassen müssten, sobald wir Russland erreicht hatten. Ohne eine solche Registrierung wären wir diesen Informationen nach, bereits wenige Tage nach der Ankunft wieder illegal im Land, da unser Visum nur in Kombination mit der Registrierung gültig bleibt.

Der Besuch der Poststation wurde zu einem ganz eigenen Erlebnis. Von außen sah das Gebäude schon nicht allzu einladend aus, aber damit passte es sich ja nur an seine Umgebung an. Das Innere jedoch übertraf selbst unsere kühnsten Erwartungen. In Deutschland kennt man ja dieses Phänomen, dass man im Schalter oft viel zu lange warten muss, weil einfach jeder Hinz und Kunz irgendein anliegen hat, mit dem er sich in die Schlange stellt. Hier in Russland geht man gegen diese Ärgerniss entschiedener vor und siebt gleich zu beginn erst einmal die aufmerksamen Kunden mit einer schnellen Reaktionszeit von den unaufmerksamen tollpatschigen. Dazu befand sich gleich im Eingangsbereich ein riesiges, klaffendes Loch im Boden, das lediglich mit ein paar Fähnchen auf Knöchelhöhe gesichert war. Jeder, der hier also nicht aufpasste versank Buchstäblich im Boden und verschwand auf nimmer wiedersehen. Anscheinend hatte es hier einen Rohrleitungsschaden gegeben und man hatte es nicht für Nötig befunden, das Loch im Anschluss auch wieder zu verschließen.

Doch was ist schon ein Loch im Boden eines Postamtes, wenn man nicht passend dazu gleich auch noch eines in der Decke hat? Dieses war ebenfalls durch einen Wasserschaden entstanden, der dazu geführt hatte, dass die Deckenplatten aufgeweicht und schließlich einfach herunter gefallen waren. An dieser Stelle möchte ich gerne auch meinen aufrichtigen Respekt für den Mut der Postbeamtin zum Ausdruck bringen, die mitten unter diesem Loch seelenruhig weiter Briefmarken abstempelte, obwohl eine der Platten mit der Spitze direkt auf ihren Kopf zielte und nur noch an einem seidenen Faden hing. Wenn draußen ein LKW vorbei fuhr oder wenn in der Warteschlange jemand hustete, dann wackelte sie leicht aber furchteinflößend hin und her.

Durchaus nicht das am schlechtesten erhaltene Haus, das wir hier sahen

Durchaus nicht das am schlechtesten erhaltene Haus, das wir hier sahen

Andere Länder, andere Sitten

Auch die Menschen selbst verhielten sich vollkommen anders, als wir es von den einundvierzig zuvor bereisten Ländern gewöhnt waren. Wenn man in Deutschland oder England in eine Post kommt, findet man dort eine geordnete Schlange vor, bei der man sich einfach hinten anstellt. In Italien hingegen zieht man einen Zettel mit einer Nummer und sucht sich dann irgendwo einen Sitzplatz. In Frankreich schaut man sich in der Regel um und fragt, wer als letztes vor einem erschienen ist. Hier in Russland läuft das anders. Nur weil jemand in einer Reihe steht, heißt dass für die Nachfolgenden nicht zwangsläufig , dass er auch vor einem dran sein muss. Hier erinnert das System eher an das einer Bar in einer Discothek. Nicht nur, dass es fast genauso laut war, es galt auch das Prinzip, wer die meiste Aufmerksamkeit des Beamten auf sich ziehen kann, wird zuerst bedient. Es war also vollkommen normal und akzeptiert, dass sich ständig jemand an den bereits wartenden bis ganz nach vorne drängelte während die Schüchternen gut daran taten, sich ein Buch mitzunehmen um die ewige Wartezeit zu überbrücken.

Russische Industrie mitten in der Stadt

Russische Industrie mitten in der Stadt

 

Stehen bleiben ist illegal

Bereits auf dem Weg zur Kirche wurden wir das erste Mal von einem Grenzpolizisten angehalten und kontrolliert. Warum sagte er uns nicht, aber als er fertig war entschuldigte er sich und verschwand. Nun während wir in der Post warteten und versuchten, dabei nicht aus versehen im Fußboden zu versinken, kamen erneut zwei Grenzpolizisten auf uns zu. Zunächst freuten wir uns, da zumindest einer von ihnen Englisch sprach was bedeutend mehr was als bei den Kollegen von der Post. Wir erklärten unser Anliegen, das ja sicher in ihrem Sinne war und baten um Hilfe beim Übersetzen. Doch die Grenzbeamten dachten nicht daran, uns bei irgendetwas zu helfen.

„Sie müssen uns bitte auf unser Revier begleiten, da Sie sich hier illegaler Weise aufhalten!“ sagte der größere von beiden und meinte es ganz und gar nicht als Bitte. Wir verstanden zwar nicht im Geringsten, was man uns vorwarf, doch am Ende beugten wir uns der Staatsgewalt und folgten den beiden Männern zu einem schäbigen Betonklotz mit vergitterten Fenstern. Im Inneren erwartete uns ein kaltes, schmuckloses Treppenhaus von dem einige verschlossene Metalltüren abgingen. Außerdem gab es eine Gittertür, die zu einer Gefängniszelle führte und die offen stand. Und genau durch diese wurden wir nun geführt. Um die einladende und erbauliche Stimmung perfekt zu machen, bot man uns sogar gleich höflichst an, auf der Gefängnispritsche Platz zu nehmen. Die Beamten selbst bauten sich vor uns auf, um ihre Autorität ein bisschen mehr zur Geltung zu bringen und begannen mit einem Verhör, wie es im Buche steht. Lediglich die grelle Schreibtischlampe, die man uns ins Gesicht blenden konnte vermisste ich ein bisschen. Schon sehr schnell stellte sich heraus, dass es für uns lediglich einen Ansprechpartner gab, der Englisch sprach. Die anderen waren nur eine Art moralische Unterstützung. Oder in diesem Fall eher eine moralische Verunsicherung.

Ein Betonmischer beliefert die Industrie über die Hauptstraße.

Ein Betonmischer beliefert die Industrie über die Hauptstraße.

 

Nachdem wir ausführlich von unserem Projekt berichtet und erklärt hatten, dass wir weder terroristische noch kriminelle Absichten hatten, erfuhren wir sogar den Grund, warum wir hier festgehalten wurden. Russland hatte eine Art Sperrzone eingerichtet, die sich in einem Bereich von rund 30km um die Grenze befand. Ohne eine spezielle Sondergenehmigung durfte man sich innerhalb dieser Grenzzone nicht aufhalten. Außer natürlich man war gerade dabei, sich aus ihr herauszubewegen. Dass der einzige Grund für unseren Stopp der Versuch war, uns rechtlich korrekt zu verhalten, beeindruckte den Beamten wenig. Wer nach Russland reist, der habe sich zuvor zu informieren, was hier legal sei und was nicht. Aber er wolle ein Auge zudrücken, da wir zum ersten Mal hier waren und so gab es nur eine Verwarnung und noch kein Bußgeld von 1500 Rubeln, die wir sonst hätten zahlen müssen. Wir hatten zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung, wie der Rechenkurs zwischen dem Rubel und dem Euro stand, weshalb uns die Summe ordentlich Respekt einflößte. Erst deutlich später fanden wir heraus, dass es gerade einmal 18,50€ waren. Aber trotzdem! Bußgeld war Bußgeld und wir hatten definitiv keine Lust irgendeine Strafe zu zahlen, einfach nur weil wir existierten.

Also versprachen wir dem Beamten, dass wir so schnell wie möglich die Grenzzone verlassen und uns ordnungsgemäß auf das innere der russischen Föderation konzentrieren würden.

Auch wenn es nicht so wirkt: dies war die nobelste Gegend, durch die wir in Russland kamen

Auch wenn es nicht so wirkt: dies war die nobelste Gegend, durch die wir in Russland kamen.

 

Ein kurzer Ausflug ins russische Hinterland

So verließen wir Swetogorsk und kamen endlich in ländlichere Gebiete, die etwas weniger nach Slum und Verwüstung aussahen aber noch immer kein wirklich gutes Gefühl machten. Die Betonburgen wurden nun durch einfachste Holzhütten ersetzt, bei denen wir uns ernsthaft fragten, wie sie auch nur einem heftigen Wind standhalten wollten. Geschweige denn einem Schneesturm oder einem Winter mit 30°C unter Null. Bald schon waren unsere Wasserreserven aufgebraucht und langsam mussten wir uns Gedanken machen, wo wir hier wohl am ehesten nach neuem fragen konnten. Die Entscheidung fiel nicht leicht, denn die meisten Häuser wirkten, als hätten sie nicht einmal einen Wasseranschluss. Die ersten Menschen, die wir trafen ignorierten uns als wären wir aus Luft. Und diejenigen, die reagierten und die Frage sogar verstanden, wirkten mit ihr überfordert. Ein bisschen so, als hätten wir gefragt, wo man hier am besten argentinisch Essen gehen konnte.

Weit kamen wir mit unserer Fragerei allerdings nicht, denn kaum hatten wir uns auch nur zwei Mal im Kreis gedreht, tauchte schon wieder ein Streifenwagen mit Grenzpolizisten auf, dessen Insassen unsere Pässe einforderten.

Felsmonster

Felsmonster.

 

Dieses Mal war kein Beamter dabei, der der englischen Sprache mächtig war, weshalb unsere gesamte Kommunikation über Google-Translator stattfand. Das machte das Geschehen nicht unbedingt einfacher, denn die Herren liebten es, bestimmte Textzeilen zu überlesen. Besonders wenn es dabei um Fragen ging wie: „Warum halten Sie uns auf, obwohl mit Ihrem Kollegen bereits alles besprochen wurde?“ oder: „Wenn wir hier schon herumstehen müssen, können Sie uns dann wenigstens etwas Wasser besorgen?“

Die ersten 10 Minuten war die ganze Geschichte ja noch irgendwie lustig. Aber dann wurde es langsam nur noch nervig und störend, zumal die Polizisten immer unfreundlicher und fordernder wurden. Schließlich befahl man uns, in das Dienstfahrzeug einzusteigen, da wir zurück zur Wache gebracht werden müssten. Damit war unsere Geduld nun endgültig am Ende. Wir waren nun etwa sechs Stunden in Russland und rund vier davon hatten wir damit verbracht, überflüssige Gespräche mit unfreundlichen Beamten zu führen.

Doch es half nichts! Sie waren nun nicht einmal mehr bereit, unsere Nachrichten im Übersetzer zu lesen und da wir keine Lust auf eine körperliche Auseinandersetztung mit der russischen Staatsgewalt hatten, fügten wir uns in unser Schicksal.

Wie wir bereits prophezeit hatten, war es natürlich vollkommen unmöglich, unsere Wagen in den winzigen Kofferraum ihres Autos zu quetschen.     Was sie natürlich nicht davon abhielt, es zu versuchen. Schließlich sahen sie es ein und riefen einen Militär-Truck zur Verstärkung. Nach ihrer überzeugenden Ansprache, dass wir keine Zeit für weiteres Geplänkel hätten und umgehend in den Streifenwagen steigen müssen, folgte also eine Viertelstunde peinliches Schweigen, in der wir einfach nur herumstanden. Eine optimale Gelegenheit, um die Frage nach Wasser noch einmal zu wiederholen, dachten wir. Doch wir wurden damit noch immer ignoriert.

Straße in die Endlosigkeit

Straße in die Endlosigkeit

Grenzerfahrungen in Russland

Der Truck war ein typisch Russischer Militärtruck mit Ladefläche und olivgrüner Plane darüber, wie man ihn aus unzähligen Filmen kannte. Gemeinsam wuchteten wir die Wagen hinauf. Dann teilten wir unserem Hauptansprechpartner mit. Dass einer von uns auf der Ladefläche mitfahren müsse, um die Wagen festzuhalten, da sie sonst kaputtgehen würden.

„Ausgeschlossen!“ fuhr mich der Mann an. „Sie sitzen im Auto!“

„Einer wird die Wagen festhalten!“ antwortete ich mit wütenden Buchstaben, „Entweder wir oder einer von Ihnen. Das ist mir egal, aber einer muss sie festhalten!“

Der Gedanke, die Fahrt auf der Ladefläche zu verbringen, gefiel ihm gar nicht und so ließ er mich gewähren. Sekunden später begann die schlimmste Fahrt meines Lebens. Heiko vorne im Cockpit schrie sich dich Seele aus dem Leib um den Fahrer zu einem vernünftigen Fahrstil zu bewegen. Doch es halb nichts. Der Kerl raste als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Oder noch eher, als wäre er selbst der Leibhaftige, der irgendjemanden in den Tod treiben wollte. In den knapp zwei Stunden, die wir wandern durften hatten wir rund 10km zurückgelegt, die es nun wieder in die Gegenrichtung ging. 10 km reine Schotterpiste voller Schlaglöcher, kinderkopfgroßen Steinen und Nadelörkurven, die mich und die Wagen in alle Richtungen schleuderten. Einmal machten wir gemeinsam einen Sprung von rund 40 cm bei gleichzeitiger Seitwärtsbewegung. Die Klappe, die die Ladefläche nach hinten begrenzte war gerade einmal 30 cm hoch. Ohne meinen eisenharten Griff, um die Deichseln der Wagen, wären sie nicht nur verbogen und zerbrochen, wie wir es befürchtet hatten, sie wären einfach von der Ladefläche gefallen.

Die russischen Grenzsoldaten waren nicht zum Scherzen aufgelegt.

Die russischen Grenzsoldaten waren nicht zum Scherzen aufgelegt.

Als der Wagen schließlich abrupt stoppte, so dass mein Kopf unsanft an eine Eisenstange gepresst wurde, brauchte ich erst noch ein paar Minuten um wieder zu mir zu kommen. Meine Hände hatten sich so sehr um die Griffe der Wagen verkrampft, dass ich sie kaum selber öffnen konnte und mein Hintern schmerzte als hätte ich einen zehnstündigen Westernritt hinter mir.

Doch die Beamten kannten kein Pardon und trieben uns sofort in gewohnt harschem Ton weiter. Dieses Mal mussten wir auch die Wagen im Inneren der Wache verstauen. Doch das war nicht das verstörende. Viel schlimmer war, dass man uns nun wirklich in die Gefängniszelle sperrte, die wir zuvor schon einmal zur Probe hatten betreten dürfen. Eine halbe Stunde zuvor hatte es noch geheißen, dass wir hier vor Ort augenblicklich einen Dolmetscher antreffen würden, der alles aufklärte. Nun fanden wir uns in einer Gefängniszelle wieder und hatten keine Ahnung, ob und wann man sich wieder mit uns befassen würde. Unsere Fragen wurden ignoriert und die einzige Reaktion, die wir von den Beamten im Flur überhaupt bekamen, hieß soviel wie: „Bleiben Sie verdammt noch mal von dem Gitter weg!“

„Es gibt hier nicht einmal eine Toilette!“ raunte mir Heiko zu, dem das Gefühl der Gefangenschaft sogar noch unbehaglicher war als mir. Nach der Schüttelfahrt wirkte all dies auf mich noch etwas unwirklich und so drang auch das Gefühl der Gefangenschaft nicht ganz zu mir durch. Und doch war es erschreckend zu erleben, wie schnell man ier seine Freiheit verlieren konnte. Tatsächlich waren wir nun bereits vollkommen dem Wohlwollen der Beamten ausgeliefert. Wenn sie uns wirklich verhaften und in irgendein Gefängnis in Sibirien verfrachten würden, würde uns niemand jemals finden. Dessen waren wir uns bewusst.

Industrielle Förderbänder

Industrielle Förderbänder

Zum Glück aber kam es nicht so weit. Nach einer guten Dreiviertelstunde tauchte ein altbekanntes Gesicht in neuem Gewandt vor der Gefängnistür auf. Es war der Beamte vom Nachmittag, mit dem wir auf Englisch hatten sprechen können. Er hatte inzwischen Dienstschluss und war bereits zuhause bei seiner Familie gewesen, als man ihn anrief, damit er noch einmal das gleiche Gespräch mit uns führen konnte, wie zuvor. Dementsprechend angenervt war nun auch er von dem Verhalten seiner Vorgesetzten, wodurch es plötzlich zu uns ungewöhnlich freundlich wurde. Seine offizielle Erklärung an uns als Grund für unsere Verhaftung lautete folgendermaßen: Wir hatten versprochen, auf direktem Weg aus der Grenzzone zu verschwinden. Die direkteste Verbindung wäre aber die Hauptstraße gewesen, die hier den Charakter und die Verkehrsdichte wie eine Autobahn hatte. Stattdessen waren wir aber auf einer Nebenstraße gegangen, die etwas länger war und daher die Vermutung offen legte, dass wir vielleicht abbiegen und noch tiefer ins Grenzgebiet wandern wollten.

„Warum zur Hölle hätten wir das tun sollen?“ fragten wir verständnislos. „Wir kommen doch von da und wollen nach Süden! Wenn ihr uns nicht aufgehalten hättet, wären wir nun sogar längst aus der Grenzzone raus! Aber jetzt wird es unmöglich! Es ist bereits nach vier Uhr und wir hätten noch mindestens 6 Stunden Wanderung vor uns!“

Zu diesem Zeitpunkt hatten wir bereits beschlossen, dass wir von Russland für´s erste genug hatten und gleich nach unserer Entlassung den Rückweg nach Finnland antreten wollten. Als wir dies dem Beamten mitteilten wurde er plötzlich traurig und bereute, dass wir so einen schlechten Eindruck von seinem Land bekommen hatten. „Ihr könnt noch nicht gehen!“ meinte er enttäuscht, „Russland ist so ein schönes Land und wir wollen doch auch in eurer Dokumentation vorkommen!“

„Sorry!“ antwortete Heiko, „das hättet ihr euch überlegen müssen, bevor ihr uns den Aufenthalt hier unmöglich gemacht habt!“

Industriegebiet in der russlischen Grenzstadt Swetogorsk

Industriegebiet in der russlischen Grenzstadt Swetogorsk

Als Ausgleich begleitete er uns nun sogar zurück zur Grenze, um sicher zu gehen, dass wir nicht noch einmal belästigt wurden. Nun da er zivil und außer Dienst war, wurde er erstaunlich offen. Er erzählte uns, dass die Begründung mit der Nebenstraße auch in seinen Augen reiner Schwachsinn gewesen war und dass er den Kollegen und seinem Chef bereits am Telefon mehrfach versichert hatte, dass alles OK war und es keinen Grund gab, uns festzuhalten oder gar zurück zu fahren. Doch man hatte ihn ebenso ignoriert, wie unsere Bitte nach Wasser. Er sagte dazu nichts, aber die gesamte Situation und sein Schweigen ließen vermuten, dass man es gerne gesehen hätte, wenn wir die 1500 Rubel Strafe gezahlt hätten, die man dann wunderbar in Wodka hätte umsetzen können.

Doch er erzählte noch mehr: Seit der ganzen Terror- und Flüchtlings-Thematik hatte sich hier einiges verändert. Dazu gehörte auch, dass die Regierung die Landbevölkerung mehrfach aufgefordert hatte, jeden „verdächtig“ aussehenden Menschen, also im Grunde jeden Menschen, den man nicht kannte, sofort als potentiellen Terroristen bei der Polizei zu melden. Auf dem Weg aus der Stadt waren wir natürlich von mehren Menschen gesehen worden und daraufhin hatten die Grenzbeamten tatsächlich vier oder fünf Anzeigen bekommen, in denen wir als suspekte Personen benannt worden, die abtransportiert gehörten. „Wenn du keine Robe tragen würdest“, meinte er dann, „wäre also wahrscheinlich nichts passiert!“ fügte er hinzu. Eine harte Aussage, die durchaus alarmierend auf uns wirkte. Auf was für eine Gesellschaft gingen wir hier zu, wenn sogar schon die Regierung eine Vorverurteilung von Menschen aufgrund ihres Kleidung und ihres Erscheinungsbildes fördert?

Wer hätte je gedacht, dass wir uns einmal freuen würden, die Schornsteine der finnischen Großindustrie wieder zu sehen!

Wer hätte je gedacht, dass wir uns einmal freuen würden, die Schornsteine der finnischen Großindustrie wieder zu sehen!

Alles zurück auf Anfang

Kurz vor der Grenze klaubten wir unsere Räder wieder aus dem Büschen, die hier noch genau so dalagen, wie wir sie zurückgelassen hatten. Dann verabschiedeten wir uns von unserem Dolmetscher und machten die Grenzkontrollprozedur noch einmal rückwärts mit. Wieder wurden wir lustlos durchsucht, dieses Mal aber mit der Verstärkung durch einen kleinen und unglaublich süßen Spürhund, der ständig hin und hergerissen war, zwischen seinem Pflichtbewusstsein und seinem Wunsch mit Heiko zu spielen und Schabernack zu treiben.

Traktor Modell

Traktor Modell

Zurück in Finnland verstauten wir die Räder so, dass andere Wanderer sie noch für ihr Grenzabenteuer in Russland nutzen konnten. Dann wanderten wir in die Stadt zurück. Hier endlich bekamen wir nun etwas zu trinken und dazu gleich einen Döner von einem freundlichen Marokkaner. Nun wartete jedoch das nächste Problem auf uns. Unsere Schlafmöglichkeit hier in Imatra hatrw nur eine Nacht gegolten und es wurde bereits dunkel. Doch ehe wir uns noch recht Sorgen machen konnten, war es wieder unsere Fahrradspenderin, die uns aus der Patsche half. Sie traf uns zufällig, als sie mit dem Auto unterwegs war und bot uns ein Sommerhäuschen an, dass sie außerhalb der Stadt an einem See hatte. So konnten wir den Tag dann nach all dem Trubel und all den Schikanen dann bei Grillwürstchen und einem Saunabesuch ausklingen lassen.

Spruch des Tages: Nicht unterkriegen lassen!
Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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