Tag 131: Die faszinierendste Küste Spaniens

von Franz Bujor
13.05.2014 07:47 Uhr

Bruder Arturo hatte mehrmals versucht, einen Pfarrer in Unquera oder Colombres, dem nächstgelegenen Ort zu erreichen. Doch er war gescheitert, was nicht weiter verwunderlich war, wenn man bedachte, dass die Geistlichen am Sonntag von einer Messe zur nächsten eilten. Als wir um 17:15 Uhr in Unquera ankamen, hatten wir also noch keine Idee davon, was uns an diesem Tag noch alles erwarten würde. Der Barbesitzer erwartete uns bereits und er war freudig überrascht, als er sah, dass Bruder Arturo der Grund für das ganze Spektakel um unsere Wagen war. Der Mönch kannte hier einfach jeden.

Da in Unquera selbst kein Pfarrer lebte, gingen wir die zwei Kilometer weiter nach Colombres. Dort trafen wir zwar eine Menge Leute, die ein klein wenig hilfreich waren, darunter aber zunächst keinen Pfarrer. Das Problem mit dem „klein wenig hilfreich sein“ war, dass man den Menschen dafür nicht böse sein konnte, denn sie hatten es ja wenigstens versucht. Doch am Ende war man durch sie keinen Schritt weiter, dafür aber viel Zeit los. Ich versuchte es bei einer Pilgerherberge, fragte in einer Bar nach Ideen und gelangte schließlich in ein Altenheim, dass von ein paar Nonnen geführt wurde. Diese lehnten mich zunächst zwar auch ab, erklärten sich dann jedoch bereit, einige Menschen in der Stadt anzurufen, die vielleicht einen Platz für uns hätten. Während sich die Leiterin der Herberge ans Telefon klemmte, unterhielt ich mich mit einer kleinen Nonne, die ungefähr in ihren Achtzigern war. Sie war eine niedliche Person, die man sofort gernhaben musste und wollte alles über uns und unsere Reise wissen. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie uns wahrscheinlich adoptiert. Dann kam ihre Chefin mit guten Nachrichten zurück. Sie hatte den Pfarrer erreicht und er war auf dem Weg hier her. Es konnte nicht länger als 5 Minuten dauern, bis er eintraf.

Aus den fünf Minuten wurden 10, dann 15 und schließlich 20. Nach einer knappen Dreiviertelstunde traf der Mann dann wirklich ein und zog dabei eine Miene, als wollte er mich auf der Stelle erschlagen. Super, dachte ich mir, das kann ja heiter werden, wenn der Mann jetzt schon so schlecht drauf war. Noch bevor ich etwas über uns sagen konnte, sagte er bereits, dass er keinen Platz für uns hätte. Dann erst fragte er, was ich eigentlich wolle. Ich erzählte ihm, dass wir als Mönche durch die Welt reisten, dass wir ohne Geld waren und dass wir dringend einen Schlafplatz brauchten. Ich erzählte ihm auch, dass wir zuvor Gäste von Bruder Arturo waren, der ihn uns als Ansprechpartner empfohlen hatte. Dem Pfarrer waren all diese Informationen jedoch auf Deutsch gesagt scheißegal. Dass einzige, was er mich daraufhin fragte war, ob wir eine Legitimierung von unserem Kloster hätten, die besagte, dass wir wirklich Mönche waren. Ich verneinte wahrheitsgemäß und erklärte, dass die Idee unserer Reise war, ins Urvertrauen zu kommen. „Es geht uns darum, dass die Menschen uns helfen, weil wir Menschen sind, nicht weil wir einem bestimmten Orden angehören“, sagte ich. Der Mann beharrte weiterhin darauf, dass er uns nichts anbieten könne und dass wir eben sehen müssen wo wir blieben. „Gibt es denn hier keine Räume für Konfirmandenunterricht oder für Versammlungen oder Veranstaltungen?“ wollte ich wissen und versuchte dabei so gut es ging freundlich zu bleiben.

„Doch sagte er, aber die kann ich euch nicht geben.“

Langsam wurde ich etwas ungehalten. „Warum dass nicht?“ fragte ich, „in allen anderen Gemeinden war das ohne Probleme möglich.“

„Dann sein!“ sagte er, hier geht es jedoch nicht.“

Jetzt war meine Geduld am Ende. Ich war stocksauer. Wie konnte es sein, dass einige Pfarrer ihre Aufgaben wirklich ernst nahmen und einem ohne eine einzige Sekunde des Zögerns ihre Hilfe anboten und dass sich andere mit immer der gleichen Ausrede so dreist aus der Affäre zogen. Wenn wir überall im Ort gefragt hätten und uns jeder Mensch hier ablehnte, dann war das sein gutes Recht. Doch es war nun einmal die verdammte Aufgabe der Kirche, Glaubensreisende zu beherbergen und es konnte doch nicht sein, dass einen die Pfarrer immer wieder aufs neue so dreist anlogen und einem jede noch so kleine Hilfe verweigerten. Ich fragte ihn ja nicht nach dem Kirchenschatz oder nach einem Vermögen. Ich fragte ihn nicht einmal nach Essen. Meine Bitte war nichts weiter als die, uns einen leeren Raum zur Verfügung zu stellen, in den wir unsere Isomatten legen konnten. Was war daran so unvorstellbar schwer, dass es sich lohnte, dafür gegen den Kodex zu verstoßen, der jeden Pfarrer zur Nächstenliebe verpflichtete? Und wenn er mir schon nicht helfen wollte, warum ließ er mich dann fast eine Stunde warten, obwohl er von Anfang an gewusst hatte, worum es mir ging? Ich konnte es einfach nicht fassen, wie unsagbar Herzlos ein Mann sein konnte, der jeden Tag in der Kirche und im Altenheim von der Liebe Gottes predigte. Dass es am kommenden Abend noch viel schlimmer werden würde, hätte ich mir zu diesem Zeitpunkt nicht erträumen lassen.

Das einzige, was mir der Pater am Ende offerierte, war eine Pilgerherberge, die seinen Angaben nach 4 Kilometer entfernt lag und für Pilger kostenlos sei. Wütend und endtäuscht verließ ich den Raum und bedankte mich bei der Nonne für ihre Hilfe. Draußen traf ich auf die andere alte Dame, die mich freundlich anlächelte und fragte, ob ich nun einen Platz für die Nacht hätte. „Nein!“ sagte ich, „leider nicht! Der Pfarrer will uns nichts anbieten, obwohl er einen Raum hätte. Wir werden jetzt weiterziehen und unser Glück woanders versuchen.“

„Kommst du dann später wieder?“ fragte sie traurig.

„Nein!“ sagte ich, „Ich brauche einen Platz für die Nacht und hier kann ich nicht bleiben.“

Sie schaute so traurig, dass ich meinen Ärger über den Pfarrer vergaß und sie am liebsten knuddeln wollte. Dann verabschiedete ich mich und verließ das Altenheim.

Draußen kam meine Wut mit aller Macht zurück und es dauerte noch einige Kilometer des Wanderns, bis ich mich wieder beruhigt hatte.

Von Colombres aus führte uns der Weg weiter an der Nationalstraße entlang. Wir fragten bei zwei Hotels, die uns jeweils ein Stück weiter bis zum nächsten schickten.

„In dem Steinhaus dort vorne wohnt ein Mann namens Juan!“ erklärte uns der Mann im zeiten Hotel. „der hat einen Schlüssel für ein Gemeindehaus und dort lässt er euch bestimmt übernachten!“ Damit hatte er Recht. Wir bekamen ein kleines Blockhaus, dass nach einer gründlichen Besenreinigung einen astreinen Schlafplatz abgab.

Am nächsten Morgen führte uns der Weg weiter an der Hauptstraße entlang. Die Autobahn verlief wieder direkt daneben, war aber an dieser Stelle noch im Bau. Wie ein gigantisches Fließband wurde sie quer durch die Landschaft geschnitten. Berge, die im Weg waren wurden einfach abgetragen und das zum Teil auf einer Höhe von über hundert Metern. Täler wurden mit Brücken überwunden, die zwar riesig waren, dafür aber verhältnismäßig winzige Fundamente besaßen. Und zwischen diesen Fundamenten hatte man einen Fluss umgeleitet, der das Wasser aus den Bergen ins Meer leitete. Jetzt war es niedlich, doch welche Kräfte er entwickeln würde, wenn die Schneeschmelze kam, war kaum auszumalen. Ob die Autobahnbrücke dem wirklich gewachsen war, war mehr als fraglich. Am wenigsten verstanden wir jedoch, warum diese Autobahn hier überhaupt benötigt wurde. Die Nationalstraße war nahezu unbefahren und die meisten Autos, die hier fuhren, waren Baufahrzeuge für den Autobahnbau. Darüber hinaus gab es viele kleine Straßen, die ebenfalls kaum genutzt wurden und in der näheren Umgebung gab es keine große Stadt, die dringend eine Autobahnanbindung brauchte. Wofür also der ganze Aufwand? Nach allem, was wir von Spanien erfahren hatten, lebte das Land als solches hart an der Armutsgrenze. Und gleichzeitig gab man Millionen für den Bau einer Autobahn aus, die niemand brauchte, die aber das letzte bisschen Tourismus, das es hier gab endgültig zerstören würde. So sehr wir es auch versuchten, wir konnten die Menschen in diesem Land einfach nicht verstehen.

An den Zufahrten der großen Baustellen standen Männer, die den Verkehr stoppten, wenn LKWs auf die Baustelle einbiegen wollten. Ihr Job war es tatsächlich, den ganzen Tag auf einer Bundesstraße zu stehen und hin und wieder ein Schild mit der Aufschrift „STOPP“ in die Höhe zu halten. Dabei saßen sie nicht nur ununterbrochen im Lärm, sondern auch in einer permanenten Staubwolke, die durch die vorbeifahrenden Autos aufgewirbelt wurde. Hin und wieder fuhren Traktoren an ihnen vorbei, die die Straße mit Wasser besprühten um den Staub zu bändigen. Doch das brachte nicht wirklich etwas. Auch wir spürten, dass es zwischen unseren Zähnen knirschte, nur durch den Staub, den wir im Gehen einatmeten. Die Männer hatten sich aus diesem Grund Halstücher vor das Gesicht gebunden, doch auch das half nicht wirklich. Das Husten und Keuchen, dass sie von sich gaben verriet, dass sie eine ordentliche Staublunge hatten. Und auch ihre Haut zeigte deutliche Anzeichen von Gesundheitsschädigungen durch ihre Arbeit.

Als der Pilgerweg schließlich von der Schnellstraße abging wahren wir überglücklich. An dieser Stelle befand sich übrigens die Herberge, von der mir der Pfarrer am Vortag berichtet hatte. Sie kostete 9€, befand sich rund 8 Kilometer von dem Altenheim entfernt in dem er mir den Tipp gegeben hatte und lag genau zwischen der Nationalstraße und der zukünftigen Autobahn. Er hatte also auch in dieser Hinsicht so gut es ging gelogen.

In Pendueles kamen wir an einem kleinen Überdach vorbei, dass zu einem öffentlichen Sportplatz gehörte. Darunter auf einer Bank schlief ein Mann in seinem Schlafsack. Der Rucksack der neben ihm stand ließ keine Zweifel übrig, um wen es sich dabei handelte.

„Javier, du alte Schlafmütze! Es ist schon fast Mittag!“ rief Heiko dem Mann entgegen. „Außerdem ist herumlungern hier verboten!“ fügte ich mit gespielt ernster Stimme hinzu.

Müde öffnete Javier seine Augen und blinzelte uns an.

„Wuarg!“ sagte er uns setzte sich auf. „Es war so ein schöner Schlafplatz und ich hätte noch viel länger schlafen können. Aber dann kommen solche Nervensägen daher und wecken einen auf. Das Leben ist manchmal echt hart!“

„Es freut uns auch dich zu sehen!“ sagte Heiko und wie zum Zeichen, dass es nun wirklich Zeit zum Aufstehen war, begann ein Anwohner damit seine Terrasse abzuflechsen.

Wir hatten Javier bereits am Vorabend wiedergetroffen, als wir bei einem Hotel angehalten hatten um nach einem Schlafplatz zu fragen. Ein Stück waren wir zusammen weitergewandert, doch als wir zum Haus von Juan abgebogen waren, war er alleine weitergezogen. Später hatte er diesen Unterstand gefunden, in dem es eine öffentliche Steckdose und einen Tisch gab. „Ich wollte endlich wieder einmal wir ein normaler Mensch am Tisch zu Abend essen,“ erzählte er, „denn ich habe jetzt einen kleinen Kocher und kann mir richtige Mahlzeiten zubereiten. Außerdem habe ich diesen Strohmkasten hier entdeckt, an dem ich meinen Laptop laden konnte. Darum habe ich mir bis um drei Uhr in der Nacht Filme angeschaut. Es war ein guter Abend und ein schöner Schlafplatz.“

In der Bar um die Ecke fragten wir nach einem Frühstück und Javier begann damit, seine Sachen zusammenzupacken.

In der Bar trafen wir auf fünf Österreicher, die den Jakobsweg mit dem Fahrrad zurücklegten. Zunächst konnten sie nicht glauben, dass wir wirklich ohne Geld lebten, doch dann waren sie von der Idee regelrecht fasziniert. Als sie kurz darauf mitbekamen, wie mir der kleine Tante Emma-Laden eine Tüte mit Tintenfischen, Sardinen und Muscheln in der Dose sowie mit Brot, Wurst und Äpfeln geschenkt bekam, trauten sie ihren Augen kaum. „Das funktioniert ja wirklich!“ sagte einer und bat mich darum, den Inhalt der Tüte fotografieren zu dürfen. Inzwischen war auch Javier auf den Beinen und da wir keine großen Fans von „Tintenfischen in eigener Tinte“ waren, versorgten wir ihn gleich mit.

Ehe wir aufbrachen trafen wir dann sogar auf weitere bekannte Gesichter. Die beiden deutschen Jungs, die wir mit Blasenpflastern ausgestattet hatten kamen angehumpelt. Es ging ihnen deutlich besser und sie hatten sich sogar noch weitere Pflaster gekauft, um die maledierten Füße komplett zu verarzten. Nun waren sie bereit wieder voll durchzustarten. Wir warnten sie zwar davor, sich gleich wieder zu viel vorzunehmen, da es ihnen ihre Füße sonst bitter heimzahlen würden, doch sie winkten nur ab und meinten: „Irgendwann müssen wir ja mal ankommen!“

Später erst viel uns auf, dass wir in letzter Zeit immer mehr Feedback für unser Handeln bekamen. Die Jungs hatten gezeigt, dass wir ihnen mit den Füßen helfen konnten. Der Hund von Arturo war einen Tag nachdem wir uns um ihn gekümmert hatten wieder munter gewesen, obwohl er drei Tage zuvor nur in der Ecke gelegen und auf seinen eigenen Tod gewartet hatte. Zu beginn der Reise hatten wir solch ein Feedback nicht gehabt.

Javier begleitete uns noch ein Stück, bis der Jakobsweg an die Küste abbog. Dann wählte er den direkten Weg nach Llanes, der wieder an der Nationalstraße entlangführte. Er wollte möglichst schnell dort ankommen, um genügend Zeit zum Betteln zu haben.

„Zwei Sätze sind mir von Javier besonders im Gedächtnis geblieben“, meinte Heiko nachdenklich, nachdem sich der bärtige Franzose verabschiedet hatte. „Der erste war: ‚die Straße hat mich immer beschützt!’ und der zweite: ‚Ich war nie reich, ich bin nicht reich und ich werde auch niemals reich sein!’ Beides waren tief verwurzelte Glaubenssätze, die sich in seinem Leben deutlich wiederspiegeln. Der erste ist dabei wahrscheinlich sogar ziemlich hilfreich, obwohl er ihn auch irgendwie an die Straße fesselt. Auf der Straße, das heißt als Obdachloser und als Straßenkünstler fühlt er sich sicher, doch dass bedeutet auch, dass er immer am Existenzminimum lebt Aber noch heftiger ist natürlich der zweite Satz. Mit dieser Überzeugung kann er ja niemals erfolgreich werden. Ich glaube, sein Problem ist, dass es das reich sein nicht nur auf Geld, sondern auch auf seinen ganzen Lebenswohlstand bezieht. Er hat einfach dieses Gefühl, dass er nichts wert ist und es deshalb nicht verdient hat im wahren Herzenswohlstand zu leben. Das ist echt schade, denn wenn es einer verdient hat, dann ja wohl er.“

Das wir den Weg gewählt hatten, der nicht an der Schnellstraße entlang führte, kostete uns zwar etwas Anstrengung, schenkte uns aber auch die schönsten und beeindruckensten Momente, die wir in Spanien bisher erlebt haben. Zunächst führte er uns durch ein felsiges Hügelland, dass ein bisschen an die Heimat der Hobbits in Herr der Ringe erinnerte. Passender Weise trafen wir hier auf ein Ehepaar aus der Schweiz, das hier gerade Urlaub machte. Sie waren die ersten nichteinheimischen Nichtpilger seit langer Zeit. Auch wenn ich nicht dafür bin, länderspezifische Vorurteile zu verstärken oder zu prägen, muss ich doch sagen, dass uns sofort ein krasser Unterschied zwischen diesem Ehepaar und nahezu allen Einheimischen auffiel, zu denen wir bislang Kontakt hatten. Die beiden hatten so etwas wie eine natürliche Sympathie, die sie ausstrahlten und die eine ganz andere Art von Kontakt erzeugte, als wir ihn mit den Spaniern hatten aufbauen können. Die beiden waren offen, freundlich, interessiert und man verstand sich von der ersten bis zur letzten Sekunde. Es war eine durch und durch kraftspendende und aufmunternde Begegnung.

Am Ende fotografierten sie noch die Internetadresse ab, die auf der Rückseite unserer Wagen stand. „Mein Sohn sagt immer: ‚Heute wird nichts mehr aufgeschrieben!’“ sagte die Frau, „eine komische Sitte, aber wenn man die Technik hat, kann man sie ja auch nutzen.“

Im Nachhinein fiel uns auf, dass den beiden sehr viele Dinge hier in Spanien nicht aufgefallen waren, die uns seit dem Überschreiten der Grenze beschäftigten. Damit waren sie nicht die einzigen. Fast jeder Pilger oder Tourist, den wie getroffen hatten, hatte bemerkt, dass in diesem Land viele Dinge schief liefen. Doch keiner hatte sich die Fragen gestellt warum. In Deutschland und Frankreich war es nicht anders gewesen. Niemand machte sich die Mühe, Fährten zu lesen und Rückschlüsse aus seinen Beobachtungen zu ziehen. Dadurch konnte auch niemand einen Jagderfolg in Form einer Erkenntnis oder eines Verständnisses von Zusammenhängen erzielen. Wie wollen wir es als Menschheit schaffen, hinter die Kulissen der Offensichtlichen zu schauen, wenn sich niemand mehr die Mühe machte, die Spuren zu lesen. So wie jede Fährte etwas über das Tier verrät, dass sie hinterlassen hat, so zeigt jede Veränderung des Körpers dessen Gesundheitszustand an. Jede Krankheit sagt etwas über die Geisteshaltung, die seelische Verfassung und die Lebensthemen eines Menschen. Und genauso sagt auch jeder kulturelle Aspekt und jeder vermeintliche Fehler im System etwas über den Zustand und die Lebensthemen einer Gesellschaft aus. Das Dritte Reich hätte verhindert werden können, wenn mehr Menschen frühzeitig die vielen Vorboten bemerkt und verstanden hätten, die sich lange vor der Diktatur abzeichneten. Genauso sind auch alle heutigen Krisen egal welcher Art lange vorher sichtbar. Nur verhalten wir uns als Menschheit nicht anders als ich es in Bezug auf meinen Wagen getan habe. Wir ignorieren die Anzeichen für eine baldige Panne, hoffen, das sich schon alles wieder von alleine regeln wird und kriegen dann eine Kriese, wenn es zu spät ist.

Nach dem Hügelland fiel der Weg steil bergab und machte dann eine scharfe Kurve. Plötzlich tauchten vor uns riesige Wellen auf, die über einen rauen Kiesstrand rollten. Wir hatten mit vielen gerechnet, aber nicht damit, dass wir hier auf einen Strand stoßen würden. Er war umgeben von rauen, schroffen Felsen, in die das Meer mehrere Höhlen hineingespült hatte. Zwei Pilger zogen an uns vorbei, machten ein Foto und liefen danach umso schneller, um die Zeit wieder aufzuholen, die das Fotoschießen gekostet hatte. Wir stellten unsere Wagen ab und kletterten über die scharfkantigen Felsblöcke bis aufs Meer hinaus. Es war ein kraftvoller und beeindruckender Ort, der keinen Zweifel daran ließ, dass das Meer hier der Boss war. Dicht oberhalb der Wellengrenze saßen zwei weitere Pilger im Kies, die wir zuvor schon einmal gesehen hatten. Es war ein Pärchen, das offensichtlich herausgefunden hatte, dass es sich am besten verstand, wenn es nicht miteinander sprach. Zuvor waren sie mit einem Mindestabstand von 20 Metern hintereinander her gepilgert und nun machten sie gemeinsam Pause an einem Ort der so laut war, dass man sich unmöglich unterhalten konnte.

Nach dem Strand ging der Weg naheliegender Weise wieder steil bergauf, denn außer an dieser Stelle bestand die Küste aus steilen Felsen, die senkrecht zum Meer hinab fielen. Oben trafen wir auf zwei Spanier, von denen sich eine einen roten Coca-Cola-Rucksack auf den Bauch geschnallt hatte. Sie grüßten uns und fragten, ob wir uns hier auskannten, da sie den Weg zu einem Hotel suchen würden. Sicher waren wir uns nicht, aber mit Hilfe unserer Karte konnten wir ihnen zumindest eine große Richtung geben. Es war das erste Mal, dass wir in Spanien nach dem weg gefragt wurden und auch tatsächlich weiterhelfen konnten.

Kurz darauf kamen wir an die wohl faszinierendste Stelle des ganzen Weges. Eine Stelle, die in den meisten Reiseführern nicht einmal erwähnt wird und dann der die meisten Pilger mit einem Abstand von nur zehn Metern vorbeirumpeln, ohne überhaupt nur zu bemerken, was sie hier verpassen.

Wir erreichten eine Anhöhe, von der aus wir einen großen Teil der Steilküste sehen konnten. Allein dies war schon absolut beeindruckend. Doch etwas war besonders auffällig. Irgendwo aus den Felsen kam ein lautes und unheimliches Grollen. Es klang fast wie bei einem Gewitter, nur dass es von unten kam und nicht von oben. Dass mussten wir uns näher ansehen. Wir stellten unsere Pilgerwagen ab, packten ein Picknick ein und krackselten über die Felsen in Richtung Meer. Mit jedem Schritt wurde das Grollen lauter. Plötzlich tauchte vor uns eine tiefe Felsspalte auf, aus der eine gewaltige Nebelfontaine in die Höhe schoss. Gleichzeitig dröhnte der Fels wie bei einem Donnerschlag. Mit einem Mal wurde uns klar, was es mit diesen Felsen auf sich hatte. Die gesamte Steilküste war von unterirdischen Höhlen durchzogen, die von den Wellen in den Fels gewaschen worden waren. Jede Welle, die an dieser Stelle ankam, schlug nicht gegen die Felswand, sondern rollte unter ihr hindurch bis weit ins Landesinnere. An einigen Stellen, waren diese Höhlen nach oben hin offen und der gewaltige Luftdruck, den die Wellen verursachten, presste die Gischt und die feuchte Luft nach oben. Der Anblick war überwältigend, doch das Gefühl mitten auf diesem Naturwunder zu stehen und das Meer unter sich zu spüren war absolut unbeschreiblich. Wir kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Hinter der ersten Felsspalte entdeckten wir einen zweiten Krater, diesmal war er komplett rund. Sehen konnte man das Meer hier nicht, dafür aber umso stärker spüren.

An der Spitze der Felsklippen konnten wir auf die Außenseite der Küste hinabblicken. Hier hatte das Meer das Gestein nach seinen eigenen Vorstellungen geformt. Die Wellen überschlugen sich und wurden dabei auf Wegen zurückgeworfen, die ich bis jetzt für unmöglich gehalten hätte. Dies, da waren wir uns einig, war ein absolut würdiger Platz für ein Picknick.

Was uns am Schauspiel der Wellen besonders beeindruckte, war die Tatsache, dass es heute absolut Windstill war. Wie musste es hier erst sein, wenn ein Sturm aufkam. Selbst da wo wir saßen, gut 20 Meter über dem Meeresspiegel, waren die Felsen ausgewaschen und hatten durch das Meer die abstraktesten Formen bekommen. Es war kaum vorstellbar, doch ganz offensichtlich gab es Zeiten, in denen die Wellen bis hier her kamen.

Als wir zu unseren Wagen zurückkehrten, sahen wir mehrere Pilger, die auf dem Weg an diesem Wunderwerk der Natur vorbeigingen, ohne auch nur stehen zu bleiben. Wir winkten sie herbei und deuteten begeistert in Richtung Felsklippen, doch sie grüßten nur knapp und gingen ungerührt weiter. Sie wusste nicht einmal, was sie hier verpassten. Wir mussten an Javier denken, der sich in der Früh für die Schnellstraße entschieden hatte, anstatt mit uns zu diesem genialen Platz zu gehen und die schönsten Seiten des Camino del Norte zu genießen.

„Ich war nie reich, ich bin nicht reich und ich werde niemals reich sein!“ wie sehr hatte er diesen Satz dadurch wieder einmal bestätigt, ohne dass er es überhaupt bemerkte.

Auch nach dieser Demonstration der Naturgewalten büßte der Weg nichts von seiner Schönheit ein, wenngleich er sein Gesicht noch einmal völlig wandelte. Er führte durch einen ausgedehnten Eukalyptuswald und kurz darauf über einen azurblauen Fluss voller großer Fische. Mitten auf der Brücke holte uns Michel ein, ein 22 Jähriger Pilger aus Dänemark mit langen wuscheligen Haaren. Er war ein freundlicher und geselliger Zeitgenosse und begleitete uns von hier an für den restlichen Weg bis nach Llanes. Auf den Jakebsweg war er aufgebrochen, weil er nach einer Perspektive in seinem Leben suchte. Den Studiengang, den er eigentlich studieren wollte hatte er nicht bekommen und so brauchte er eine Alternative. Zunächst hatte er etwas gejobbt, doch zu hause konnte er nicht die Ruhe finden, um sich wirklich klar darüber zu werden, wohin ihn sein Herz führen wollte. Daher war er n

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.