Die Gefängnisse in unseren Köpfen

von Heiko Gärtner
21.01.2018 04:31 Uhr

31.07.2017

Nachdem er am Vorabend gerade einmal einen einzigen Apfel im Haus hatte, hatte Pater John es irgendwie geschafft, einen ganzen Korb voller Früchte zu besorgen, aus dem wir uns nun unser Frühstück zusammenstellen konnten. Damit bekamen wir das erste gesunde und nahrhafte Frühstück, seit wir den Kontinent verlassen hatten. John verließ sein Haus ein paar Minuten vor uns und meinte wiederum nur vertrauensvoll, dass wir die Tür einfach zuziehen sollten, seine polnische Haushälterin würde dann später schon abschließen. Er verabschiedete sich, stieg in sein Auto und verschwand.

auf den ersten Blick sieht irland wie ein weites, freies Land aus

Auf den ersten Blick sieht Irland wie ein weites, freies Land aus

 

Drei Minuten später sahen wir ihn dann aber schon wieder, denn er war lediglich zur Kirche hinübergefahren. Prägnanter hätte man den Umgang mit Verkehrsmitteln in Britannien nicht auf den Punkt bringen können. Zugegeben, das Grundstück des Pfarrhauses war nicht klein und bis zum Gartentor waren es fast 100 Meter. Aber die Kirche lag gleich auf der anderen Straßenseite, insgesamt also keine 200 Meter weit entfernt. Und trotzdem fuhr man hier mit dem Auto hin. Es war also kein Wunder, dass überall ein Verkehr herrschte, den man sich zunächst nicht erklären konnte. Langsam hatten wir den Verdacht, dass man hier in den großen Villen eher durch eine Seitentür nach draußen ging und mit dem Auto einmal halb um das Haus fuhr, als durch das Haus hindurch auf die andere Seite zu gehen.

Bis zum Horizont gibt es nichts als saftig grüne Felder

Bis zum Horizont gibt es nichts als saftig grüne Felder

 

Nach einer eingehenden Recherche bei Google-Maps hatte ich uns für heute und die nächsten tage eine Wegführung herausgesucht, die uns weitgehend von allen Formen der Zivilisation fern hielt. Sobald man den Menschen auswich und sich nur noch mit Kühen und Schafen auf den Feldern umgab, wurde es tatsächlich bedeutend schöner. Die überschwängliche Begeisterung für dieses Land konnten wir noch immer nicht teilen, aber es war nun zumindest so, dass wir nicht mehr das Gefühl hatten, sofort fließen zu müssen. Außerdem konnten wir uns nun langsam vorstellen, warum einem Irland gefiel, wenn man es sich nur flüchtig und oberflächlich anschaute. Durch die vielen Hügel wirkte es mit seinen vielen Wiesen und Feldern wirklich wie ein wildes, grünes und freies Naturparadies. Erst auf den zweiten Blick merkte man, dass dies eine Illusion war, und dass es weder Freiheit noch Natur gab, sondern nur kleine abgesperrte Privatfelder, die so viel mit Wildnis zu tun hatten, wie ein Vorgarten.

See inmitten der Wiesen

Bei genauer Betrachtung ist jedoch alles eingezäunt

 

Im Laufe des Tages erlebten wir eine ganze Reihe an Kuriositäten, die alle auf ihre Weise bezeichnend für dieses Land waren. Da waren die vielen halb verfallenen Häuser, mit den Schimmelflecken und dem abgeblätterten Putz, vor denen drei oder vier Sportwagen im Wert von insgesamt eine guten Million Euro standen. Oder das luxuriöse Einfamilienhaus im Grünen, neben dem man ein kleines Windrad aufgestellt hatte, das bei jeder Umdrehung quietschte wie ein verrostetes Gartentor, um das sich aber niemand kümmerte. Dann gab es den Vater und den Sohn, der während eines heftigen Platzregen mit voller Montur und vorbereiteter Ausrüstung in der Garage standen um sofort nach draußen rennen und mit dem Rasenmähen beginnen zu können, sobald es auch nur eine Minute zu regnen aufhörte. Tatsächlich waren dies die einzigen Momente, in denen wir Menschen im Freien sehen konnten. In ganz Irland waren uns drei Jogger und zwei Spaziergänger begegnet, wobei wir vermuteten, dass die letzten beiden wahrscheinlich nur zu Fuß unterwegs waren, weil sie zuvor eine Autopanne hatten. Alle anderen, die nicht in einem Haus, einem Auto oder einem Laden oder auf direktem Weg zu einem dieser Orte waren, mähten Rasen. Wir sahen Gärten, in denen es sogar Fußballfelder für Kinder und Enkelkinder gab, deren perfekt gepflegtes Grün aber bewies, dass hier niemals gespielt wurde. Kinder konnte man ohnehin so gut wie nie sehen, außer durch die Scheiben von Autos oder Zimmerfenstern. Man hätte aber auch nicht gewusst, warum sie nach draußen gehen sollten, denn es gab wirklich nahezu nichts, das man hier als Kind hätte tun können. So etwas wie Ballspielen war grundsätzlich durch eine regelrechte Schilderflut verboten. Wir sahen sogar Privatgärten in denen Schilder mit der Aufschrift „Ballspielen verboten!“ standen.

Teilweise werden sogar die Straßen mit Kameras videoüberwacht

Teilweise werden sogar die Straßen mit Kameras videoüberwacht

Dass diese generelle Unfreiheit die Menschen nicht glücklich machte, sah man an der Länge der Gesichter, die einen von überall her anstarrten. Im Balkan hatten wir oft das Gefühl gehabt, dass die Menschen sehr aufdringlich sind und keine persönliche Distanzgrenze kennen. Hier war es noch bedeutend stärker. Dass Autos teilweise für mehrere hundert Meter direkt hinter einem fuhren, obwohl sie ausreichend Platz zum Überholen hatten, nur um einen anzustarren, war uns in anderen Ländern noch nicht passiert. Auch die Häufigkeit, mit der wir hier aus dem Auto heraus bei laufendem Motor ohne eine Begrüßung, einen erkennbaren Grund oder eine ernst gemeinte Frage von der Seite angequatscht wurden, übertraf alle bisherigen Erfahrungen. Dabei empfanden wir die Menschen aber selten als freundlich. Gar nicht so sehr von ihrer aktuellen Tagesform her, oder ihrer Art uns gegenüber, sondern viel mehr von ihrer allgemeinen Grundhaltung. Man hatte das Gefühl, dass die Ihren zumindest hier im Norden ein Grund skeptisches und Grund ablehnendes Volk waren. Allein schon durch die Art und Weise, wie sie ihre Häuser und Grundstücke präsentierten. Wenn man irgendwo auf der Welt an einem Restaurant vorbei kam, dann sah man dort Schilder mit Aufschriften wie „Herzliche Willkommen im Restaurant zum tanzenden Wildschwein!“ oder „Unser heutiges Tages-Menü: …..“. Hier hingegen hingen zehn Schilder auf denen „Parken streng verboten“ stand. Auf einem Behindertenparklatz stand nicht „reserviert für Menschen mit Behinderungen“, sondern „Parken Verboten! Ausgenommen Menschen mit Behinderung“. Selbst auf öffentlichen Parkplätzen wie von Supermärkten oder Schnellrestaurants ist es ähnlich. Es heißt nicht „Kundenparkplatz von Kentucky Fried Chicken“, sondern „Jeder, der hier Parkt ohne das Restaurant zu besuchen wird kostenpflichtig abgeschleppt oder bekommt eine Reifenkralle!“ Versteht ihr, was ich meine? Es sind Kleinigkeiten, aber sie machen den Unterschied aus, ob man einem Menschen erst einmal vor den Kopf stößt, oder ob man ihm das Gefühl gibt, willkommen zu sein. Wie zum Beispiel auch bei kleinen Nebenstraßen, an denen häufig Schilder mit „Privatstraße – Durchfahrt verboten!“ stehen. Nicht etwa: „Reserviert für Anlieger, Fußgänger und Radfahrer“ sondern „generell Verboten!“ Das stimmt ja nicht, denn diejenigen, denen die Straßen gehört, müssen ja auch auf ihr Fahren um zum Haus zu kommen.

 

Spruch des Tages: Ein Junger Mann ging zu einem weisen Meister und fragte: „Wie kann ich mich nur von all den Dingen befreien, die mich davon abhalten wirklich frei zu Leben?“ Da sprang der Weise auf, lief zu einem Baum, krallte sich mit beiden Händen daran fest, so stark er nur konnte und rief mit gespielter Verzweiflung: „Wie kann ich mich nur von diesem grausamen Baum befreien, der mir die Freiheit raubt?“

Höhenmeter. 30 m

Tagesetappe: 19 km

Gesamtstrecke: 24.991,27 km

Wetter: sonnig, warm

Etappenziel: Multifunktionsraum der Kirche, Pont Herbert, Frankreich

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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