Unser täglich Gift aus dem Supermarkt

von Heiko Gärtner
19.04.2017 22:23 Uhr

Fortsetzung von Tag 1166:

Weitaus spannender war aber unsere Shoppingtour selbst. Wie so oft in Frankreich hieß ein Großsupermarkt auch hier, dass man so ziemlich alles kaufen konnte, was es zu kaufen gab. Und damit meine ich in diesem Fall tatsächlich alles. Wir entdeckten sogar Angelruten und Jagdbedarf, ein Komplettpaket um Korken in Weinflaschen oder Kronkorken auf Bierflaschen zu stecken, einen Ganzkörper-Vollschutzanzug mit Atemmaske zum Auftragen von Giftmitteln auf die Felder, sowie die passenden Pumpcontainer für die Pestizide und Düngemittel.

Wo wir gerade bei Giftstoffen sind: Nach einer halben Stunde im Laden hatten wir noch immer keine Lebensmittel gefunden, dafür aber ein halbes Dutzend Regale, die vollgefüllt waren mit Giftstoffen aller Art. Eine kompletter Gang war mit Deodorantien gefüllt, die alle nahezu identisch aussahen, alle das gleiche boten und alle in etwa gleich schädlich für den Körper waren, da sie alle die gleichen Aluminiumpartikel enthielten. Dann folgten die Parfums, Duschgels, Shampoos, Schminkutensilien, Waschmittel, Spülmittel und so weiter. Von allen ging ein intensiver, chemischer Geruch aus, der einem sofort ein unangenehmes Gefühl bereitete. Wir hatten nun bereits den halben Laden durchquert, als wir an das erste Regal kamen, in dem sich so etwas wie Lebensmittel befanden. Und wie nicht anders zu erwarten, handelte es sich dabei um Süßwaren. Wenn man genau sein will, also schon wieder um Giftstoffe.

Das erste Regal war voll von Keksen, Kuchen, Süßgebäck, Schokolade und Bonbons. Das zweite auch. Im dritten wurde es dann gleich noch besser. Ein drittel des Regals beinhaltete Marmelade, ein weiteres Sirup, Honig und Nutella und das dritte blanken, reinen Zucker. Man sollte ja eigentlich meinen, dass Zucker, Zucker ist und dass man nun nicht unbedingt eine Auswahl auf vier Quadratmetern braucht. Vor allem, wo er ja bereits in nahezu jedem anderen Produkt in diesem Laden enthalten ist. Doch die Franzosen sahen das anders. Es gab Zucker als Pulver, in Stückchen, in Würfeln, im Tetrakack (wie immer man den auch nutzen wollte) im Glas, in der Papptüte, in der Pappschachtel in der Dose, in der praktischen Plastikbox, als Zucker für den Kuchen, Zucker für den Tee, Zucker für den Kaffee, Zucker für zwischendurch, Zucker fürs Büro, Zucker fürs Wohnzimmer, Zucker für die Küche und sogar Zucker für den Garten. Unter all diesen Variationen des immer gleichen Suchtmittels war es aber vor allem eine Packung, die dem Fass den Boden ausschlug. Es war eine Pappschachtel mit Zuckerwürfeln, auf der vorne ein großes Bild von einem Stevia-Blatt abgebildet war, in dem groß und dick „Stevia“ stand. Für diejenigen, die es nicht kennen, Stevia ist eine Heilpflanze mit einem Süßungsgrad, der den von Zucker um ein vielfaches übersteigt. Theoretisch wäre es also der optimale Zuckerersatz, da man damit süßen könnte, ohne die üblichen Nebenwirkungen von Zucker wie Abhängigkeit, Stimmungsschwankungen, Energielöcher, Karies und chronische Entzündungen zu bekommen. Tatsächlich würde man damit sogar gesünder werden. Praktisch wird die Pflanze aber bis heute kaum verwendet und war lange Zeit nicht einmal als Lebensmittel anerkannt.

Wer Stevia nun kennt, würde anhand der Verpackung vermuten, dass er sich mit diesem Produkt etwas gutes tut, da er nun keinen Zucker sondern ein natürliches, gesundes Süßungsmittel kauft. Schaut man jedoch genauer hin, sieht man einen kleinen Schriftzug, der übersetzt etwa so viel bedeutet wie: „Zucker mit Stevia-Aroma“. Die Liste der Zutaten gibt dann endgültig Aufschluss darüber, was man hier in den Händen hält: „Zucker (99,89%), Stevia-Aroma aus Stevia-Extrakt“ Es war also ganz normaler, weißer Zucker, der mit Stevia nicht mehr zu tun hatte, als mit der Mondlandung.

Die nächste Abteilung, in die wir kamen, war tatsächlich die Frischeabteilung in der es frisches Obst und Gemüse, sowie eine Käsetheke und eine Wursttheke gab. Leider waren wir hier so schnell durch, dass wir kaum merkten, dass wir überhaupt je drin waren. Die komplette Abteilung hatte nicht einmal die Größe eines einzelnen Süßwarengangs. Und doch gab es auch hier einige Besonderheiten, die einen vom Glauben an ein sinnvolles Geschäftssystem abfallen lassen. So gab es zum beispiel einen 10kg-Sack Kartoffeln für 3,50€. Gleich daneben lag ein 2,5kg Sack mit den gleichen Kartoffeln aber einem anderen Logo auf dem Schild für 3,90€. Anders herum wäre es schon eine Farce gewesen, aber man zahlte hier für den kleinen Sack wirklich mehr. Insgesamt fiel uns auf, dass man in diesem Laden durch die abstrackten Preis-Leistungs-Verhältnisse komplett bei seinem Einkauf gesteuert wurde. Riesige Tüten mit Tiefkülpommes oder 2,5l Flaschen mit Softdrinks gab es für ein paar Cent. Dafür kostete ein kleines Glas Oliven, wie wir es in Spanien für 40 Cent gekauft hatten hier 2,50€. Da kann man doch nicht mehr sagen, dass wir mit unserem Konsumverhalten über Angebot und Produktion bestimmen. Unser Konsumverhalten wird komplett durch die Marktgestaltung bestimmt, nichts weiter.

Spannend war, dass gleich nebenan ein großer Regalgang mit Kösespezialitäten aufgebaut war. Die besondere Käsetradition des Landes wurde also am Leben gehalten, nur kaufte man ihn nun nicht mehr frisch vom Markt, sondern genau wie jeder andere auch auch der Plastikverpackung. Wenngleich einer hübsch designten. Der Rest des Ladens bestand, ratet mal – genau: Aus Dosenfutter! Es gab Dosen in allen Größen, Varianten und Ausführungen, von der 30g Dose mit Thunfischpaste bis hin zur 5kg Dose mit Fertigfleisch für die Mikrowelle. Als wir den Laden verließen, hatten wir ein Glas Senf, ein großes, wenngleich etwas trockenes Baguette, eine Packung Tomatensauße und eine Tüte Chips für insgesamt 1,75€ dabei. Für die Möglichkeiten, die es gegeben hatte war das ein guter Fang, aber verglichen mit der üblichen Nahrungsrunde kein echter Zugewinn. Wir hatten nicht weniger Zeit gebraucht und hatten keine bessere Nahrung erhalten. Auch wenn es uns noch immer schwer fiel, das zu akzeptieren, aber wir bekamen auch in Frankreich von den Menschen nicht irgendeinen Rotz, den sie selbst nicht mehr wollten, sondern einen Querschnitt dessen, was sie tatsächlich selbst verwendeten. Im Balkan war dies Schweinespeck, Schafskäse und Gemüse aus dem Garten gewesen. Hier waren es Dosen, Süßwaren und Teigprodukte. Die Fähigkeit zu Kochen war in den letzten Jahren offenbar fast vollständig verloren gegangen, denn man bekam ja nicht einmal mehr die Zutaten, um sich eine eigene Sauce von Grund auf herzustellen. Es war ein Laden mit mehr als 400qm Grundfläche und man konnte darin nichts kaufen, mit dem man wirklich kochen konnte. Dafür bekam man aber ein Flaschenverkorkungs-Set. Das ist doch Wahnsinn!

Dass dieses System nicht ohne Wirkung bleibt stellten wir ebenfalls schnell fest. Zum einen führte es dazu, dass sich die Menschen wirklich arm fühlten, obwohl sie Geld hatten. Ein älteres Pärchen mit einem beeindruckend großen Haus spendierte uns später eine einzelne Scheibe Baguette mit Butter und einen von einer Schokoladentafel abgebrochenen Barren Schokolade. Mehr könnten sie leider nicht geben, da sie selbst nur wenig hätten. Die Nachbarin gab mir ein paar Kartoffeln, gemeinsam mit einer ausführlichen Erklärung darüber, wie man sie zubereitete. Sie konnte es sich nicht mehr vorstellen, dass ein Mensch in meinem Alter wusste, dass man Kartoffeln nicht einfach roh in den Mund steckte, sondern weiche machen musste, in dem man sie mit Wasser auf einen Herd stellt und zum Kochen bringt.

Spruch des Tages: Man verhungert hier vor dem vollen Einkaufsregal

Höhenmeter: 120 m Tagesetappe: 14 km Gesamtstrecke: 21.385,27 km Wetter: sonnig und frühlingshaft, teilweise mit kaltem Wind Etappenziel: Kleiner Meerzwecksaal, 37130 Les Essards, Frankreich

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare