Tag 433: Grenzen setzen

von Heiko Gärtner
11.03.2015 20:18 Uhr

 Noch 2 Tage bis zu Heikos 2. Weltreisegeburtstag!

Die Pilgerherberge war eine kleine Holzhütte, in der unser Gastgeber früher einmal sein Bot aufbewahrt hatte. Er selbst war begeisterte Jakobspilger und hatte sie hier eine Art heiligen Pilgerschrein aufgebaut. Es war ein kleines Sommerhäuschen in dem vor uns erst zwei Mal Pilger bernachtet hatten. Als wir eintrafen war unser Gastgeber in Begleitung von zwei weiteren Personen, einem Mann und einer Frau. Der Mann war relativ ruhig, doch die Frau plapperte gleich auf uns ein. An sich hätten wir uns nach dem Tag an der lauten Straße nun einen ruhigen Abend gewünscht, doch zunächst mussten wir unseren Schlafplatz wohl noch einmal mit einem ausführlichen Gespräch bezahlen.

Nachdem wir unsere Hütte bezogen hatten, machte ich mich auf die Nahrungssuche und Heiko bereitete die Schlafplätze und begann mit dem Arbeiten. Als ich zurück kam, fand ich ihn mit seinem Laptop auf dem Schoß auf dem Sofa sitzend, während unser Gastgeber mit einer neuen Frau am Tisch saß und einen Kaffee trank. An Arbeiten war nicht zu denken, denn Heiko wurde nach Strich und Faden ausgequetscht. Das war in diesem Moment auch noch nicht weiter ungewöhnlich. Der Mann hatte uns immerhin zu sich eingeladen und da war es nur verständlich, dass er auch etwas über uns wissen wollte. Dennoch war es auch zu diesem Zeitpunkt bereits so, dass sich Heiko mit der Situation nicht mehr wohl fühlte. Seine Ohren verlangten nach Ruhe und nicht danach, den Alleinunterhalter zu spielen. Ich nutzte die Zeit, die das Gespräch andauerte um schon einmal unser Abendessen vorzubereiten. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Situation für mich noch vollkommen in Ordnung. Dann begann es jedoch komisch zu werden. Die Frau, die sich als Anna vorstellte rief eine Freundin an und lud sie auch noch zu uns in unsere kleine Hütte ein. Dazu muss man sagen, dass sie etwa 25 Quadratmeter groß war, von denen 5qm allein durch das Badezimmer ausgefüllt wurden. Der Rest wurde zwischen einer Treppe, die zu einem Hochbett über dem Klo führte, einem großen Doppelbett-Schlafsofa das mitten im Raum stand, einer Küchenzeile, einem Esstisch, unseren beiden Pilgerwagen und natürlich den vier bereits anwesenden Personen aufgeteilt. Unsere Wagen standen mitten im Raum, so dass man sich nicht mehr bewegen konnte, ohne sich an ihnen vorbei zu quetschen. Der einzige Platz für Menschen war also direkt am Tisch. Mit der weiteren Frau wurde es dann so voll, dass es in der kleinen Hütte unerträglich wurde. Als schließlich unser Gastgeber auch noch über meinen Wagen stolperte und dabei fast auf die Deichseln stürzte, war ich kurz davor zu explodieren. Heiko hatte sich bereits in den hintersten Teil des Raumes zurückgezogen um vor dem Kamin die Bilder des Tages zu bearbeiten. Der Hinweis, dass wir Arbeiten müssten und dass wir von unserer Wanderung bereits sehr erschöpft waren, prallte an der Ignoranz der Damen ab. Vor allem Anna hatte sich vorgenommen, Heiko ein Ohr abzukauen und drängte sich zu ihm hindurch um sich neben ihn auf den Sessel zu quetschen. Dann löcherte sie ihn weiter mit Fragen. Ich hatte mehr Glück, denn in der Küchenecke war kein Platz für einen zweiten. Die zweite Frau hieß Maria und unterhielt sich nun lautstark mit unserem Gastgeber. Dieser sah sie heute ebenfalls zum ersten Mal und hatte keine Ahnung, wer sie war. Irgendwann wurde es selbst ihm zu bunt und er verabschiedete sich um unauffällig zu verschwinden. Die Frauen hielt das jedoch nicht davon ab, es sich in unserem Wohnraum gemütlich zu machen. Maria schloss sich auf unserer Toilette ein und telefonierte dort mit ihrem Mann. Sie hätte jedoch auch gleich am Tisch bleiben können, denn sie sprach so laut, dass man eh jedes Wort hörte. Anna hatte die Tuchfühlung mit Heiko nun aufgegeben, da er es geschafft hatte, sie so konsequent zu ignorieren, dass sie sich für ein neues Opfer entschieden hatte. Doch auch ich hatte kein großes Interesse an einer Unterhaltung mehr. Äußerlich war Heiko dabei ruhig geblieben, doch innerlich kochte er vor Wut. Die Frau war wie ein tollwütiger Hund, der an seinem Hosenbein riss und ihn mit geiferndem Maul ankläffte, bereit, ihn jede Sekunde anzufallen. Dies wäre nun allerspätestens der Zeitpunkt gewesen, um die beiden Damen hinaus zu bitten, doch dieses einprogrammierte Gefühl, Höflich sein zu müssen, hielt mich davon ab. Heiko versuchte sich auf einen Text zu konzentrieren, scheiterte dabei jedoch an den schrillen Stimmen, der beiden Frauen und versuchte sich nach oben auf das Hochbett zu flüchten. Nun tauchte auch noch die Frau wieder auf, die wir zuvor bereits auf der Straße getroffen hatten. Weiß der Teufel, wie sie hieß und ehrlich gesagt war mir das in diesem Moment auch egal. Die drei Frauen hatten nun beschlossen, dass wir als Gesprächspartner nicht geeignet waren und begannen sich nun untereinander zu unterhalten. Dabei schaukelte sich das Gespräch in sekundenschnelle immer stärker auf und ihre Stimmen wurden zu lauten Klingen, die erbarmungslos in unsere Ohren stachen. Ich spürte, wie in mir die Wut aufkochte. Mein Puls schlug immer schneller. Ich fühlte mich wie ein Wolf, der in die Enge getrieben wurde. Diese Situation musste aufhören! Egal wie! Doch das Problem war, dass mir noch immer meine Höflichkeit im Weg stand. Ich schaffte es nicht einfach laut Stopp zu schreien und die Frauen rauszuwerfen. Ich brauchte einen Grund dafür, so dass alle ihre Gesichter wahren konnten.

In Heiko über mir brodelte es sogar noch stärker. Er spürte, dass er kurz davor war, die Kontrolle zu verlieren. Das Geschrei der Frauen war nun unerträglich laut und der Schmerz war für ihn körperlich spürbar. Es war nicht nur einfach unangenehm, es war verletzend. Die Frauen schadeten unserer Gesundheit und wir ließen es zu, weil wir sie nicht verletzen wollten. Ihr wohl war uns wichtiger als unser eigenes und das konnte nicht richtig sein. Der Selbsterhaltungstrieb in Heiko wurde stärker und stärker und übernahm die Oberhand. Innerlich tauchten bereits die ersten Bilder in ihm auf, wie er die Schreihälse ein für alle Mal zum schweigen brachte. Es waren keine richtigen Mordgedanken. Es ging nicht darum jemanden töten zu wollen. Es war viel mehr der Wunsch, endlich wieder Ruhe und Frieden zu haben, egal um welchen Preis. Und wenn man die Frauen dafür erschlagen musste, dann war auch das in Ordnung. Doch soweit konnte er es nicht kommen lassen.

„Tobi! Verdammt nochmal!“ platzte es aus ihm heraus. „Mach das diese schrecklichen Kreaturen verschwinden, sonst werde ich es machen und das will keiner von uns!“

Ich hatte meine Hände noch immer im Waschbecken, um die letzten Salatblätter zu waschen. Auch in mir rasten Bilder von Szenarien vorbei, wie ich die Ruhe wieder herstellen konnte. Doch meine Harmoniesucht unterdrückte meinen Selbsterhaltungstrieb noch immer und zwang mich dazu, eine harmonische Lösung zu finden. Ich trat vom Waschbecken weg in den Raum und sagte laut und klar: „Entschuldigung!“

Eigentlich wollte ich hinzufügen: „Wir müssen nun wirklich arbeiten und brauchen jetzt unsere Ruhe! Bitte geht nun!“ Doch das war nicht nötig.

Abrupt verstummte das Stimmenwirrwarr und Anna sagte: „Oh, ihr wollt essen! Nagut, dann lassen wir euch also mal in Ruhe!“

Ich war so überrascht, dass mir die Kinnlade herunterfiel. Die ganze Zeit über hatte ich so eine Angst davor gehabt, die Frauen zurechtzuweisen, weil sie störten und dabei hatten sie es selbst bereits gewusst. Es war ihnen vollkommen klar gewesen, dass sie hier nicht mehr erwünscht waren. Es war ihnen auch bewusst gewesen, dass sie mit ihrem Geplapper jeden in die Flucht schlugen. Sie waren nur selbst in ihren eigenen Mustern gefangen gewesen und konnten wie drei Junkies einfach nicht damit aufhören. Auch jetzt dauerte es nicht lange und sie fielen wieder in ihre Sprechsucht zurück. Anna begann mit einer Lobtirade, mit der sie sich von uns verabschiedete und uns auf hundert verschiedene Arten mitteilte, dass wir die wohl tapfersten Männer dieser Erde seien. Doch aus ihrem Mund waren diese Worte nur weitere Messerstiche in unsere Trommelfelle. Höflich aber bestimmt reichte ich ihr die Hand um sie zum Gehen zu bewegen. Die anderen beiden waren leichtere Gegner und verließen das Haus von alleine.

Bumm! Die Tür fiel zu und so schnell es ging, schob ich von innen den Riegel vor. Wir waren alleine! Endlich herrschte Stille! Nicht ganz, denn draußen standen die Frauen nun in unserem Garten und quatschten noch immer. Ihre Stimmen waren nun nicht mehr so unerträglich wie zuvor, doch laut war es noch immer. Darüber hinaus brachten sie durch ihren Kaffeekranz auch noch sämtliche Hunde der Nachbarschaft auf die Palme, die ein wildes Bellkonzert anstimmten. Es dauerte noch über eine Stunde, bis wirklich Ruhe einkehrte.

„Das geht so nicht mehr!“ sagte Heiko, als wir beim Abendessen zusammensaßen. „Wir müssen da klarere Grenzen ziehen. Es kann nicht sein, dass wir uns selbst kaputt machen lassen, weil wir nicht klar und deutlich sagen können, wann uns etwas zu viel wird. Die Situation ist ja sicher nicht ohne Grund genau jetzt aufgetaucht. Vor ein paar Tagen haben wir noch gesagt, dass wir lernen wollen, klarere Grenzen zu ziehen und ich denke, das war nun unsere erste Lektion!“

Das stimmte. Und wenn man es genau nahm, dann hatten wir sie gar nicht so schlecht gemeistert. Klar wäre es besser gewesen, gleich von Anfang an zu sagen: „Sorry, es ist echt lieb, dass ihr uns besuchen wollt, aber es war ein wirklich ansträngender Tag und wir haben noch viel vor. Daher wären wir euch wirklich dankbar, wenn wir einfach den Nachmittag für uns sein könnten!“ Alles, was man nicht in Liebe macht, verursacht Leid. Ein Gespräch zu führen, auf das man keine Lust hat, hilft also weder dem anderen noch einem selbst. Das Problem lag nur darin, dass wir noch immer das Gefühl hatten, es den Menschen schuldig zu sein. Wenn wir irgendwo eingeladen wurden, dann musste man sich mit den Menschen auch unterhalten. Doch musste man das wirklich? Hatten wir das gleiche nicht auch in Bezug auf unsere Nahrung gedacht? Wenn man etwas umsonst haben will, dann kann man keine Ansprüche stellen! Dies war der Glaubenssatz, mit dem wir gestartet sind. Und nun haben wir strengere Nahrungsrichtlinien als je zuvor, nehmen nichts an, was nicht gesund für uns ist und kommen damit besser durch als am Anfang. Das gleiche war mit Schlafplätzen auch möglich. Wenn ein Platz nicht die Ruhe oder die Atmosphäre bot, die uns gut tat, dann mussten wir ihn nicht nehmen. Es würde ein anderer kommen. Es ging dabei nur ums Vertrauen.

Damit stand fest. Ab sofort achten wir mehr auf unsere Bauchstimme und setzen schnellere und klarere Grenzen. Sowohl in Bezug auf Wartezeiten als auch auf Richtungen und vor allem in Bezug auf die Gespräche mit den Menschen.

Da wir einen Kamin im Zimmer hatten beschlossen wir, dass es nun eine gute Gelegenheit war, einmal wieder unsere Hosen zu waschen. Gerade als wir beide in Unterhose im Bad standen und die Hosen im Waschbecken einweichten, klopfte es an der Tür. Es war unser Gastgeber mit seiner Frau und einem Freund, den wir bislang noch nicht gekannt hatten.

„Sorry,“ sagte ich in Bezug auf unsere nackten Beine, „Wir haben nur je eine Hose und die waschen wir gerade!“

„Kein Thema!“ sagte der Mützenmann, „Wir sind alle Pilger, da stört uns das nicht!“

Moment mal! Euch vielleicht nicht, aber habt ihr einmal daran gedacht, dass es uns vielleicht unangenehm sein könnte, wenn wir hier in Unterhosen stehen und gleich eine ganze Bande von Menschen hereinströmt?

Diesmal waren wir aber besser. Die drei waren freundlicher und das Gespräch war angenehmer als das der drei Frauen und so ließen wir uns rund 6 Minuten darauf ein. Dann sagte ich: „So, wir müssen nun unsere Hosen weiter waschen! War schön dass ihr da wart!“

Das akzeptierten sie, wünschen uns eine gute Nacht und verschwanden. Man konnte also direkt und deutlich sein, ohne jemanden zu verärgern. War doch gar nicht so schlimm! Und selbst wenn sie sauer gewesen wären, dann war es doch noch immer besser als uns selbst zu schaden.

Heute verbrachten wir dann die erste halbe Stunde des Wanderns damit, wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehre. Von hier aus folgten wir weiter der Strandpromenade, an der sich immer mehr fleißige Arbeiterbienchen versammelt hatten um alles wieder in Schuss zu bringen. Einige Hotels waren noch immer vollkommene Baracken, wären an anderen bereits die Liegestühle aufgestellt wurden. Ostern stand vor der Tür und damit begann wohl auch die erste Vorsaison der Billigurlauber. Je weiter wir uns von Rimini entfernten, desto weiter waren die Hotels mit ihren Renovierungsarbeiten. Zunächst wunderte ich mich darüber, dass gerade die unbekannten Orte so viel mehr Wert auf ihr Gepflegtsein legten. Doch im Nachhinein betrachtet ist das vollkommen logisch. In Rimini konnten die Hotels das Gleiche Geld in viel kürzerer Zeit machen. Sie brauchten die Vorsaison nicht, konnten sich also auch mit der Renovierung noch Zeit lassen. Dennoch waren sich Heiko und ich einig, dass die kleineren Orte außerhalb der berühmten Urlaubsmetropole bedeutend schöner waren, als Rimini selbst. Hier gab es sogar einige Strandabschnitte mit einer echten Fußgängerpassage durch die keine Autos fahren durften. Spannend war auch, dass die Touristenattraktionen sich am Strand ebenso wiederholten wie die Waren in den Souvenirläden. Die Spielgeräte für die Kinder, die Kletterburgen, die Glücksspielautomaten, die Kartbahnen, alles war absolut identisch. Es spielte also keinerlei Rolle wo man sich an diesem Strand befand, man war gleichgeschaltet.

In Cesenatico wurden wir dann bei einem Mönchskloster aufgenommen, das eine Art Bruderkloster von dem in Rimini war. Es waren ebenfalls Franziskaner und der Superior, der uns unseren Raum zeigte hieß passenderweise sogar noch Bruder Franziskus. Abgesehen von ein paar Bauarbeitern auf dem Dach, die neue Ziegel verlegten waren wir in unserem kleinen Nebengebäude absolut ungestört. Es funktionierte also schon einmal besser als gedacht.

Spruch des Tages: Ich habe Schweigen gelernt von den Gesprächigen, Toleranz von den Intoleranten und Freundlichkeit von den Unfreundlichen; und dennoch seltsam, ich bin diesen Lehrern nicht dankbar. (Khalil Gibran)

 

Höhenmeter: 0 m

Tagesetappe: 12 km

Gesamtstrecke: 7950,77 km

Wetter: sonnig und windig.

Etappenziel: Kloster Fratelli di San Francesco, 47042 Cesenatico, Italien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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