Happy Halloween

von Heiko Gärtner
14.11.2016 00:10 Uhr

30.10.2016

Wer hätte gedacht, dass wir gleich so schnell in die Verlegenheit kamen, die Geschichte über den Bruder Leo am eigenen Leib zu erfahren. Unser Tagesetappenziel hätte heute eigentlich Gunzenhausen sein sollen, doch es war schlicht und ergreifend unmöglich, hier einen Platz aufzutreiben. Der einzige, den wir überhaupt erreichen konnten, war der Pfarrer der evangelischen Gemeinde, die direkt am Jakobsweg lag. Doch dieser hatte schlicht und ergreifend einfach keine Lust, Pilger aufzunehmen. Räume hatte er genug, aber er wollte sie nicht öffnen, sondern verwies uns an die Jugendherberge, an seinen Kollegen von der katholischen Gemeinde und an einen Töpfer, der sich hier hin und wieder um Pilger kümmerte. Die Jugendherberge ließ sich nicht auf geldfreie Aktionen ein und die beiden anderen waren unauffindbar. Es dauerte etwa eine Stunde, bis ich einsah, dass in dieser Stadt nichts zu holen war. Dabei musste ich immer wieder an die Geschichte des abgewiesenen Mönchs denken. Das Wetter war herrlich, die Sonne strahlte vom Himmel, die Blätter der Bäume leuchteten in allen Farben und der Himmel strahlte im kräftigsten Blau, das man sich vorstellen konnte.

 

Es sprach also nichts dagegen, noch ein wenig weiter zu wandern, und diesen wunderbaren Herbsttag zu genießen. Trotzdem, als die vollkommene Freude empfand ich die Ablehnung dennoch nicht. Ich konnte sie deutlich gelassener hinnehmen, aber ein Teil von mir ärgerte sich trotzdem. (Ist doch wahr! Wie kann man denn als Pfarrer eine fette Jakobsstatue neben seine Kirche bauen, die sich dann auch noch direkt am Jakobsweg befand, und nicht einmal versuchen, einem Pilger eine Herberge zu gewähren?) Draußen auf dem Weg durch die Herbstwälder und Wiesen verrauchte der Groll aber schnell. Es war wirklich ein Tag, an dem man wandern und nicht in einem Haus sitzen sollte. Das einzige, was unserer Wanderung heute einen leicht fauligen Beigeschmack oder besser Beigeruch gab, war die viele Scheiße, die man hier überall auf den Feldern aufgebracht hatte. Wir liebten es offenbar, all unsere Felder mit Dung zu besprühen und so roch es quasi den ganzen Tag nach Toilette. Als neuer Zielort stellte sich schließlich Gnotzheim zur Verfügung, wo wir im katholischen Pfarramt ein Versammlungszimmer mit Küche und Bad bekamen. Der einzige Nachteil war, dass die Heizung hier nicht funktionierte und wir daher nur kaltes Wasser und auch nur kalte Räume zur Verfügung hatten. Es fühlte sich ein bisschen an wie in Italien. Den Tag über war es warm und sonnig gewesen, so dass es teilweise im T-Shirt fast zu warm war und am Abend froren wir in kalten Räumen. Später kam der Pfarrer noch einmal mit einem schlechten Gewissen zurück und bot uns sogar eine Pension an, aber da hatten wir uns bereits komplett eingerichtet und mit der Kälte abgefunden. Gemütlich war es nicht, aber doch irgendwie vertraut.

 

31.10.2016

Zu Beginn unserer Reise hatten wir bereits eine sehr prägnante Beobachtung gemacht, die jedoch im Laufe der Zeit immer mehr in den Hintergrund gerückt ist. Es war eine Art Faustregel, die in etwa lautete: „Städte sollst du meiden, Dörfer sollst du suchen“. Heute wurden wir noch einmal wieder stark an diesen Grundsatz erinnert. Unsere Erinnerungen an unseren ersten Weg durch Deutschland waren ein wenig wie die an eine lang zurückliegende Beziehung. Irgendwann verblassen die unangenehmen Eindrücke und man beginnt alles zu schönen und zu verklären. Am Ende waren wir sicher gewesen, dass Deutschland ein Paradies war in dem Milch und Honig floss und in dem einem jeder immer und überall weiterhalf. Das war natürlich Blödsinn und wenn es wirklich so gewesen wäre, wären wir wahrscheinlich nicht einmal auf die Idee gekommen, überhaupt los zuwandern. Es hatte ja einen Grund, warum es uns von hier fort getrieben hatte, nur waren wir uns darüber nicht mehr bewusst gewesen. Gut also, dass einem das Leben immer wieder einen Denkzettel schenkt, wenn man sich an solche Dinge erinnern soll.

Der Tag begann mit einer herrlichen Wanderung durch eine kalte aber sonnige Herbstlandschaft. Gleich hinter unserem Pfarrheim stiegen wir einen steilen Berg hinauf und konnten von hier aus über das ganze Tal bis zurück nach Gunzenhausen blicken. Alles, was sich rund 100 Höhenmeter unter uns befand, was in einen dichten Frühnebel gehüllt. Teilweise waren die Wiesen um uns herum sogar noch gefroren. Die Nacht war klirrend kalt gewesen, das hatten wir auch in unserem ungeheizten Pfarrsaal gespürt. Jetzt aber machte sich die Sonne daran, alles wieder aufzutauen und ließ die ganze Welt in den leuchtend bunten Herbstfarben erstrahlen. Unser Etappenziel hätte Oettingen werden sollen, eine historische Kleinstadt, die in ganz Deutschland für ihr Oettinger Bier bekannt ist. Für Pilger wurde hier allerlei geboten. Es gab zwar keine Beschilderung mehr, die einen in die Stadt hinein geführt hätte, dafür aber gab es im Zentrum einen Jakobspilger-Rundweg, der einen an allen sehenswerten Gebäuden vorbeiführte. Man hätte also vermuten können, dass es sich um eine pilgerfreundliche Stadt handelte, doch genau das Gegenteil war der Fall. Der Pilger selbst zählte hier keinen Pfifferling, solange er nicht bereit war, seine Pilgerkasse auf den Kopf zu hauen. Oettingen war nicht nur irgendeine Stadt am Jakobsweg, sie war ein bekannter Start- und Zielpunkt, der für viele einen neuen Streckenabschnitt markierte. Die Stadt wusste dies zu nutzen, in dem sie so viel Kapital aus dem Geschäft mit den Pilgern schlug wie möglich. Aber zu würdigen wusste sie es nicht. Es gab hier ein katholisches und ein evangelisches Pfarramt, ein Schloss mit Veranstaltungsräumen und eine Stadtgemeinde mit Touristenbüro. Doch niemand fühlte sich für Pilger zuständig. Die Sekretärin des Bürgermeisters druckste herum und hatte nicht einmal eine Idee, wo sie nachfragen könnte.

„Wir brauchen nichts großes“, erklärte ich noch einmal, „nur einen einfachen Raum ohne irgendwelche Besonderheiten und nur für eine einzige Nacht. Es gibt doch hier sicher Gemeinderäume, Veranstaltungs- oder Besprechungssäle, Jugendräume, Sportvereine, die ein Vereinshaus haben, ein Rotes Kreuz, Pfadfinder, Sporthallen mit Umkleideräumen oder irgendetwas in der Richtung.“ „Mhhh, da fällt mir jetzt nicht ein, wen ich da fragen könnte!“ war ihre Antwort. Der Bürgermeister aus dem Nebenzimmer rief nur knapp: „Mir fällt auch nichts ein!“ Die Worte über Bruder Leo in Gottes Ohr, aber ich konnte nicht verhindern, dass ich dennoch enttäuscht war, als ich das Rathaus verließ. Konnte es wirklich sein, dass es auch bei uns überhaupt keine Hilfsbereitschaft mehr gab? Da kamen nun zwei Pilger, die bereits 18.000km zurückgelegt hatten und die mit ihrer Reise Spenden für soziale Projekte sammelten in einer Stadt ins Gemeindeamt, die seit Jahren auf unterschiedlichste Weise vom Jakobsweg profitierte und es war einem nicht einmal ein Versuch wert, einen Beitrag zu leisten? Nicht einmal die leiseste Bemühung? Bei den Pfarrämtern war es gleich noch frustrierender. Die katholische Pfarrsekretärin erreichte ich nur telefonisch und noch bevor ich mich auch nur richtig melden konnte, wurde ich bereits angefahren. Offenbar war die Dame aufgrund der Vorbereitungen für den morgigen Feiertag mächtig gestresst. Einen Gemeindesaal könne sie uns nicht anbieten, aber sie hätte eine Nummer, unter der wir es versuchen könnten. Wir dürften aber nicht verraten, dass wir diese Nummer von ihr hatten.

„Wen erreiche ich denn unter der Nummer?“ wollte ich wissen. „Ich sage Ihnen dazu jetzt gar nichts mehr!“ schnauzte sie los, „Wenn Sie anrufen wollen, dann rufen Sie an, wenn nicht, dann eben nicht! Ich habe jetzt keine Zeit mehr für sowas!“ Dann hatte sie einfach aufgelegt. Unter der Nummer erreichte ich eine Dame, die bereits weit in den 80gern war. Anders als die Pfarrsekretärin war sie sehr freundlich. Viele Jahre lang hatte sie regelmäßig Pilger aufgenommen, doch vor einiger Zeit hatte sie sich zurückgezogen. „Es tut mir sehr Leid, dass ich Ihnen hier nicht weiterhelfen kann, aber ich mache das schon seit Jahren nicht mehr. Ich bin zu alt dafür und es gibt genug junge Leute, die das nun machen können.“ Damit hatte sie Recht. Bei unserem ersten Weg nach Santiago hatte es fast in jeder größeren Ortschaft jemanden gegeben, der Jakobspilger beherbergte. Nicht um damit Geld zu verdienen, sondern weil er selbst ein begeisterter Pilger war, und sie auf dem Weg ebenfalls immer über eine freundliche Beherbergung gefreut hatte. Hier schien es so etwas überhaupt nicht mehr zu geben.

kirche rosa

Eine schöne rosane Kirche.

 

Santiago war noch mindestens 3000km entfernt und doch hatten wir bereits hier das Gefühl, dass er Weg schon genauso kommerzialisiert wurde, wie in Spanien. Wenn man mit etwas kein Geld verdienen kann, dann ist es bei uns einfach nichts wert. Eine sehr traurige Bilanz. Am meisten empörte mich aber die Dreistigkeit der Pfarrsekretärin, mir die Nummer einer 83 jährigen Frau zu geben, die bereits vor Jahren erklärt hatte, dass sie keine Pilger mehr aufnehmen wollte, nur damit sie selbst sich nicht darum kümmern musste. Die alte Frau hatte ganz offiziell darum gebeten, dass man ihre Nummer nicht mehr rausgab und doch schob die Sekretärin ihr den schwarzen Peter zu, um selbst besser dazustehen, ohne etwas tun zu müssen. Das war ganz und gar nicht in Ordnung. Ich fand es daher nur fair, auch ihre Bitte geflissentlich zu überhören und der alten Dame ganz genau mitzuteilen, von wem ich die Nummer hatte. So wusste sie nun wenigstens, wem sie auf dem nächsten Treffen der Kirchengemeinde die Ohren langziehen musste.

Bei den Kollegen von der evangelischen Gemeinde sah es ähnlich aus, wenngleich die Pfarrsekretärin selbst hier deutlich bemühter war. Pilger wurden in Oettingen jedoch offenbar grundsätzlich nicht von der Kirche aufgenommen. Es gab ja genug Hotels, in die man gehen konnte. Jugendsäle, Gemeinderäume und dergleichen gab es natürlich, aber die Sekretärin selbst durfte nichts entscheiden und stieß bei ihren Versuchen, einen Verantwortlichen zu erreichen, entweder auf taube Ohren oder auf konsequente Abwesenheit. Am Ende war ihr das Verhalten ihre Vorgesetzten sogar so peinlich, dass sie uns 20€ gab, damit wir uns vielleicht irgendwo ein Hotelzimmer nehmen konnten. Im Nachhinein fragte ich mich, ob es wohl richtig gewesen war, das Geld anzunehmen. Auf der einen Seite war es natürlich eine nette Geste und auch wenn es nicht für ein Hotelzimmer reichte und wir uns ja auch gar keines mieten wollten, war es sicher irgendwann einmal nützlich und konnte gute Dienste bei irgendeinem Projekt leisten. Auf der anderen Seite war es aber auch ein Bestechungsgeld, ein Versuch, sich wieder ein reines Gewissen zu erkaufen und das passte ganz und gar nicht zu meiner Vorstellung von Geben und Nehmen. Vor allem nicht in Bezug auf Geld.

Wieder einmal hatten wir nun mit allen Versuchen und Gesprächen rund eine Stunde verloren und zogen nun in der Spätnachmittagssonne weiter. Der nächste Ort, in den wir kamen hieß Heuberg und er war auch nicht viel größer, als sein Name vermuten ließ. Es gab weder einen Pfarrer noch ein Rathaus und insgesamt wohnten nicht einmal 200 Menschen hier. Auf dem Friedhof vor der kleinen Ortskapelle trafen wir eine silberhaarige Dame, die wir um Rat fragten.

„Na dann übernachtet ihr am besten im Ortsgemeindehaus. Da gibt es eine Küche, eine Tilette und außerdem ist es da warm. Kommt am besten gleich mal mit!“ sagte sie gut gelaunt und führte uns einmal quer durch ihren Ort bis zu einer Nachbarin. „Ich habe hier zwei junge Männer, die heute gerne im Gemeindehaus übernachten würden!“ erklärte sie ihrer Freundin. Diese holte einen Schlüssel aus dem Haus und meinte: „Wenn ich morgen nicht da bin, schmeißt ihn einfach in den Briefkasten!“ Wir erzählten natürlich, wie und warum wir unterwegs waren, aber für keine der beiden Damen spielte dies eine Rolle. Wir waren zwei Menschen, die einen warmen Platz für die Nacht brauchten. Mehr mussten sie nicht wissen. Wir verstanden die Welt nicht mehr. Eine knappe Stunde zuvor hatten wir eine halbe Powerpointrpäsentation abgeliefert und damit vier offizielle Stellen abgeklappert, die unzählige Mittel und Möglichkeiten hatten, ohne dass es etwas gebracht hat. Und nun reichte unsere bloße Anwesenheit aus, dass man uns weiter half. Nicht nur, dass wir einen Platz bekamen, die silberhaarige Frau versorgte uns auch gleich noch mit Kartoffeln, Eiern, Wurst und Äpfeln, so dass wir für den Abend vollkommen versorgt waren. Auch an den beiden vorherigen Tagen waren es die kleinen Ortschaften gewesen, in denen wir ohne ein einziges Problem durchgekommen waren. Und Oettingen war nach Gunzenhausen schon die zweite Stadt, die sich als vollkommener Reinfall erwiesen hatte. Langsam zeichnete sich also ein Muster ab und wir erinnerten uns daran, dass wir auch vor drei Jahren sehr ähnliche Erfahrungen gemacht hatten. Es war an der Zeit, sich wieder darauf einzustellen. Am Abend waren wir dann noch einmal doppelt froh, dass wir hier einen warmen Schlafplatz gefunden hatten. Zum einen klirrte schon wieder die Kälte ums Haus. Zum anderen spukte es draußen vor Hexen, Geistern, Zombies und anderen zwielichtigen Gestalten, die in der Halloween-Nacht ihr Unwesen trieben.

Spruch des Tages: Happy Halloween!

Höhenmeter: 170 m Tagesetappe: 22 km Gesamtstrecke: 19.113,27 km Wetter: Bewölkt, 0-2°C, hin und wieder leichter Schneefall Etappenziel: Künstlerumkleide im Katholischen Gemeindehaus, 88339 Bad Waldsee, Deutschland

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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