Tag 231: Hate-Dating

von Heiko Gärtner
21.08.2014 01:01 Uhr

Den Nachmittag füllten wir mit ein paar weiteren Übungen für Paulina und wo wir schon einmal dabei waren, machte ich bei einem Teil davon gleich mit. Zunächst sollte sie sich selbst zeichnen, so wie sie sich gerade in diesem Moment sieht. Dann sollte sie sich noch einmal zeichnen, so wie sie sich sieht, wenn sie voll in ihrer Kraft und ihrer Weiblichkeit steht. „Wie sehe ich aus, wenn ich ganz ich bin und alle Blockaden abgelegt habe? Wenn mein Körper wieder kuriert ist und er sich nicht länger verschränken muss, um die inneren Themen abzubilden?“ Dies war die Frage, mit der sie das Zeichnen beginnen sollte. Die Übung diente dazu, ein geistiges Bild vom eigenen Idealzustand zu erzeugen. Wie will man etwas erreichen, das man sich nicht einmal vorstellen kann. Je plastischer und lebendiger wir unsere Ziele und Visionen visualisieren können, desto mehr können wir sie auch in unser Leben ziehen.

Anschließend ging es an die ersten Schritte, die Vision auch in die Tat umzusetzen. Aufmerksamkeit, Flexibilität, Durchtrainiertheit, körperliche Fitness, Vitalität, ... das alles sind Dinge, die nicht einfach so von alleine kommen. Sie wollen trainiert werden. Wie oft hatte ich mir schon vorgenommen, ein regelmäßiges Trainingsprogramm zum Muskelaufbau durchzuziehen und wie oft ist dieser gute Vorsatz im Alltag wieder verloren gegangen. Selbst hier auf der Reise komme ich ständig wieder darüber hinweg. Vom Wandern natürlich einmal abgesehen.

Das erste Mal wirklich trainiert habe ich vor längerer Zeit in der Türkei, wo ich mit Heiko an unserem neuen Buch gearbeitet habe. Jeden Abend habe ich dann ein individuelles Trainingsprogramm bekommen. Es war hart, erbarmungslos und effektiv.Man merkte deutlich, das Heiko früher Judogruppen trainiert und dass er seine Übungen von damals nicht vergessen hatte. Liegestütze waren, wie ich nun merkte, nicht gleich Liegestütze. Wenn man nicht aufpasste konnte man sich durch die Position der Arme so ausrichten, dass man nur die Muskeln beanspruchte, die eh schon Kraft hatten, während man jene, die man eigentlich Trainieren wollte, nahezu unbeansprucht ließ. Ich erfuhr in dieser Zeit auch, dass es neben den Armen, Beinen, der Brust und dem Bauch auch noch viele weitere Muskelbereiche gab, die es zu trainieren galt. Den Hals zum Beispiel oder die Schultern. Oft sackte ich nach den Übungen erschöpft zusammen und schwor mir, mich nie wieder zu bewegen. Doch es fühlte sich immer auch sehr gut an. Es war eine positive, kräftigende Art der Erschöpfung. Und ich merkte bereits nach wenigen Tagen leichte Fortschritte. Nichts großes, ich wurde nicht stark und man konnte als außenstehender auch keine Veränderungen erkennen. Aber ich spürte, dass es leicht besser wurde. Ich fühlte mich täglich etwas weniger schwach und das war ein wirklich gutes Gefühl.

Nach der Rückkehr aus der Türkei dauerte es genau drei Tage, bis ich diese Routinen wieder verloren hatte. Der Alltag kam zurück und mit ihm gingen die guten Vorsätze. Das nächste Mal, dass ich etwas für meinen Körper tat, war dann in Ungarn, wo wir ebenfalls einen Buch-Schreibe-Urlaub machten. Dort war genügend Zeit um regelmäßig in die Sauna zu gehen, täglich zu joggen und auch den Oberkörper zu trainieren. Diesmal trainierten Heiko und ich jedoch gemeinsam und er machte die Übungen auch für sich mit. Zwei Tage nach der Rückkehr war dann wieder alles vorbei.

Ab Oktober wurden wir dann vom Fitnesstudio Zeitlos in Neumarkt gesponsort und durften dort mehrmals wöchentlich trainieren und saunieren. Das saunieren haben wir sehr gut durchgezogen, doch mit dem Training wurden wir nach kurzer Zeit bereits wieder nachlässig. Seit beginn der Reise gehört ein Unterkörpertraining mit der täglichen Wanderung fest zu meinem Leben und ich muss sagen, dass ich auf das Ergebnis schon recht stolz bin. Nur der Oberkörper bekommt leider nichts ab und ist noch immer genauso undefiniert wie früher. So kommt es, dass ich mich noch immer nicht attraktiv und fit fühle und es ja auch wirklich nicht bin. Das nun auch Paulina herausgefunden hat, dass sie einen vitaleren und muskulöseren Körper braucht, um ihrer inneren Stärke damit Ausdruck zu verleihen und um sich ganz gesund und kraftvoll zu fühlen, waren wir nun schon zu zweit und damit auch in der Lage uns gegenseitig zu motivieren. Mit Heiko als Drill-Sergant, der kein Pardon kannte, konnte da also nichts mehr schief gehen. Am spannendsten war eine Übung aus dem Shaolin, bei der man sich mit dem Unterkörper auf einen Tisch legt, während der Oberkörper frei in der Luft schwebt. Auf dem Rücken liegend war die Übung die Hölle. Wenn Paulina mich nicht gespottet hätte, wäre ich einfach vom Tisch gefallen. Meine Bauchmuskeln konnten meinen Oberkörper einfach nicht halten. Paulina ging es da ähnlich, was mein Ego wieder etwas aufatmen ließ. Auf dem Bauch war es weniger ein Problem. Die Rückenmuskulatur ist anscheinend deutlich besser. Auch das war bei Paulina gleich.

„Fragt euch mal, woran das liegt!“ sagte Heiko später, „Der Rücken ist ja psychosomatisch mit der Vergangenheit verbunden, während die Körpervorderseite mit der Gegenwart und der Zukunft einher geht. Ich glaube, dass da auch ein wichtiger Schlüssel drin steckt!“

Das zweite spannende an der Shaolin-Übung war, dass man dabei die perfekte Ballance zwischen dem Ober- und dem Unterkörper halten muss. Ein echter Shaolin kann dies ohne fremde Hilfe. Bei mir musste Heiko meine Füße festhalten, damit ich nicht nach unten fiel. Doch für einen Sekundenbruchteil hatte ich das Gefühl, wirklich ausbalanciert zu sein und mich selbst halten zu können. Das krasse dabei ist, dass die Balance nicht vom Körper her kommt, sondern vom Geist. In dem Moment wo es mir gelang, mir vorzustellen, dass meine Füße schwerer sind als mein Oberkörper, konnte ich die Balance halten. Beim ersten Zweifel, war alles wieder weg. Ich habe noch immer Muskelkater, aber ich bin auch total angetickt und freu mich schon darauf, heute weitere Übungen zu machen.

Beim Essen selbst folgte dann wieder eine Übung für den Geist. Es war ebenfalls eine sehr intensive und sehr harte Übung, die wir oft in unseren Seminaren mit den Teilnehmern gemacht hatten. Es ist ein sogenanntes Hate-Dating. Dabei geht es darum, den Gegenüber auf alle Schwächen, Schattenseiten und negativen Eigenschaften aufmerksam zu machen, die einem aufgefallen sind. Kurz: Man sagt dem Gegenüber alles direkt und klar ins Gesicht, was man an ihm scheiße findet. Doch es gibt dabei einen entscheidenden Unterschied zum Dissen oder Verurteilen. Denn bei der Übung geht es nicht darum, den anderen fertig zu machen oder runter zu ziehen, sondern darum ihm die Möglichkeit zum Wachsen und zur Entwicklung zu geben. Es ist eine der schwersten und härtesten Aufgaben eines Mentors, denn er riskiert dabei, dass ihn sein Schüler dafür hasst und vielleicht nie wieder etwas mit ihm zu tun haben will. Gleichzeitig ist es für den Schüler unglaublich wichtig, all die negativen Seiten seiner Selbst kennenzulernen um sie dann auch auflösen zu können. Seine Aufgabe ist es, empathisch zuzuhören, ohne auf die Aussagen einzugehen. Dabei prüft er für sich selbst, was von den Worten des anderen sein Thema ist und was nicht. Denn natürlich offenbart der Mentor keine unumstößlichen Wahrheiten über den anderen. Er teilt ihm lediglich die eigene Wahrnehmung und damit auch die eigene, persönliche Wahrheit des Augenblicks mit. Es kann sein, das er dabei viele Dinge anspricht, die nur zum Teil mit dem anderen und zu einem ebenso großen Teil mit sich selbst zu tun haben. Daher ist es wichtig für den Schüler in sich hineinzuspüren und zu fühlen, welche Aussagen bei ihm eine Resonanz auslösen und welche nicht. Gerade die Dinge, in denen man einen sofortigen Protest spürt und bei denen einem der Gedanke kommt, der andere spinnt komplett, haben dabei oft eine zentrale Bedeutung. Denn es sind die Punkte, die man am stärksten ablehnt und am wenigsten wahr haben will. Wenn es einen wirklich nicht betrifft, dann lässt es einen hingegen kalt.

Ich habe hier jetzt immer von Schüler und Mentor gesprochen, um die beiden Rollen deutlich zu machen, aber die Übung hat nichts damit zu tun, dass sie einseitig von einer Person ausgehen muss, die auf ihrem Weg weiter ist als der andere. In unseren Seminaren hat jeder Seminarteilnehmer jedem anderen gesagt, was ihm negativ an ihm auffällt. Normalerweise sollte die Übung eigentlich komplett überflüssig sein. Denn wenn wir wirklich ehrlich zu einander wären, dann würden wir all diese Beobachtungen immer sofort aussprechen, so dass sie sich nicht aufstauen können. Dies wäre das Grundprinzip von Art of Truthspeaking: „Sage das, was du denkst und fühlst in dem Augenblick in dem du es denkst und fühlst und benutze deine gefühlvollsten Worte dafür.“

Die Realität sieht leider anders aus. Wir schlucken alle negativen Gedanken herunter oder stauen sie auf, weil wir denken es wäre unhöflich oder verletzend, sie auszusprechen. Dadurch stauen wir sie ewig an, wie einen riesigen Berg ungewaschener Wäsche und nehmen unseren Mitmenschen so die Chance zum Wachsen. Gleichzeitig belasten wir unsere Beziehungen und irgendwann kommt es zu jenem Gefühl das wir im allgemeinen mit den Worten: „wir haben uns auseinandergelebt“ beschreiben.

Auf unserer Reise und auch in der Zeit, die wir in Neumarkt zusammen gewohnt und gearbeitet haben, haben Heiko und ich den Packt geschlossen, dass wir unsere Gedanken und Gefühle jederzeit offen aussprechen. Natürlich hat das nicht immer geklappt und vor allem für mich als alten Harmoniesüchtling ist es noch immer eine enorme Herausforderung. Doch die Hate-Datings fanden oft statt und so konnten die angestauten Gefühle immer wieder ausgesprochen und abgebaut werden, ohne dass es zu viele wurden. Ihr erinnert euch wahrscheinlich an viele Berichte in denen ich über unsere Hate-Dating-Gespräche geschrieben habe und oft hatte ich ordentlich daran zu knabbern. Oft habe ich erst eine Zeit gebraucht um die Worte zu verstehen und annehmen zu können, denn mein Ego zappelte und strampelte um sich gegen die Selbsteinsicht zu wehren. Doch im Nachhinein waren es immer diese Gespräche, die wichtige Schritte überhaupt erst möglich gemacht haben. Jetzt, wo ich selbst noch einmal in der anderen Position saß und ebenso harte Worte an Paulina richtete, wie Heiko zuvor an mich, jetzt verstand ich auch, was es für eine Überwindung und ein Vertrauen kostete. Jemandem das zu sagen, was er hören will, ist einfach und hat nichts mit Freundschaft oder Liebe zu tun, auch wenn wir oft genau das glauben. Bedingungslose Liebe und bedingungslose Freundschaft ist es jedoch, wenn einem das Wohl und die Entwicklung des anderen wichtiger sind, als die Beziehung an sich. Wenn man riskiert, den anderen so zu verärgern, dass er nie wieder mit einem spricht und man die Dinge, die gesagt werden müssen trotzdem ausspricht, dann ist man wirklich in Liebe.

Doch Paulina nahm unsere Worte dankbar an und auch wenn sie ebenso oft schlucken musste wie ich in diesen Gesprächen und wenn es ihr oft ebenso schwer fiel, die Worte anzunehmen, merkte man doch, dass sich etwas veränderte und dass sie mehr Klarheit gewann. Und heute zeigte ihr Körper wieder durch deutliche Signale, dass sie einen weiteren Schritt gemacht hatte.

Ich möchte hier wieder nicht zu sehr auf die Geschichte von Paulina eingehen, aber ich möchte eine Geschichte aus einem unserer Seminare erzählen, die die Wirkung des Hate-Datings deutlich macht. Es war ein Kurs mit 16 Teilnehmern und jeder Teilnehmer hatte 5 Minuten Zeit um einem Gegenüber seine Beobachtungen mitzuteilen. Dann wurde gewechselt, bis jeder von jedem alles gehört hatte.

Einer der Teilnehmer, nennen wir ihn Hugo, hatte dabei von 15 Seminarteilnehmern immer wieder das gleiche gehört: „Hugo, du bist wahrscheinlich ein toller Mensch, aber ich habe keine Ahnung wer du bist. Du zeigst nur eine Maske. Du hast noch kein einziges Mal ein Gefühl gezeigt. Wenn du redest und von dir erzählst, dann weiß ich nie warum du es erzählst, denn es klingt immer als würdest du nicht von dir sprechen. In deiner Unsicherheit bist du oft nervig und kommst unsympathisch rüber, weil du dich hinter der Maske eines coolen Alleskönner versteckst, der du einfach nicht bist.“

Ich war damals der letzte, der mit ihm sprach. Als ich mich ihm gegenüber setzte lächelte er mich traurig an und schaute wie ein getretener Hund.

„Muss ich noch etwas sagen, oder weißt du es bereits?“ fragte ich und lächelte ebenfalls.

„Nein, ich glaube ich habe es verstanden!“ antwortete er.

In der Reflexionsrunde, die wir im Anschluss an die Übung abhielten, konnte er zum ersten Mal von sich erzählen. Er weinte viele Tränen, die schon längst hätten geweint werden sollen und erzählte uns, dass er in einem Kinderheim aufgewachsen war, in dem das Zeigen von Gefühlen ein Todesurteil gewesen wäre. Wer Schwäche zeigt verliert und ist sofort raus! Damals hat er sich einen eisenharten Schutzpanzer aufgebaut, der bis heute bestehen blieb. Unter Tränen berichtete er, dass er nicht einmal seiner Frau zeigen konnte, wie sehr er sich freute, als diese ihre neugeborenen Kinder zum ersten mal in ihren Armen hielt. Es war für ihn, als hätte er zum ersten Mal in seinem Leben den Schutzpanzer um sein Herz aufgesprengt und als würde er sich zum ersten Mal frei und leicht fühlen.

„Wisst ihr!“ sagte er, „es ist ja nicht so, als hätte ich vorher nicht gewusst, dass ich diese Masken trage. Ich habe nur immer geglaubt, sie wären gut! Aber dass eh jeder weiß, dass ich mich verstelle, das war mir nicht bewusst und jetzt wo ich es weiß, fühlt es sich wirklich befreiend an!“

Das spannende an diesem Tag war, dass er von 14 Menschen gespiegelt wurde, die ihn seit langer Zeit und durch intensive Übungen gut kannten. Eine Teilnehmerin war jedoch ganz neu im Kurs und hatte ihn an diesem Tag zum ersten Mal gesehen. Trotzdem sagte sie genau das gleiche, wie jeder andere Teilnehmer.

Am kommenden Seminarwochenende hatten wir Klettern im Programm und Hugo entdeckte, dass er dafür eine wirkliche Leidenschaft entwickelte. Zum ersten Mal konnte er sich wirklich über etwas freuen. Nach dem Kurs fragte er uns, ob wir nicht eine Idee hätten, wie er Klettern in seinen Arbeitsalltag einbringen könnte. Heiko schlug ihm vor, eine Ausbildung zum Industriekletterer zu machen und Hugo war hell auf begeistert. Beim nächsten Treffen hatte er sich bereits bei der Ausbildung eingeschrieben und war angenommen worden. Heute hat er den Job als Truckerfahrer aufgegeben und verdient sein Geld nun damit, auf Windrädern oder Hochhäusern herum zu klettern. Im Nachhinein gestand er uns, dass er seinen alten Beruf immer gehasst hatte, dass er es jedoch nie zugeben konnte, weil er glaubte stark sein zu müssen. Der neue Job ist noch immer nicht perfekt, aber er macht ihm deutlich mehr Spaß und das Gefühl der Freiheit in der Höhe tickt begeistert ihn noch immer.

Die Wanderung heute war nicht viel anders als sonst auch. Spannend waren vor allem die vielen Kaninchen, die hier leben und die eher eine Plage zu sein scheinen, als eine gesunde Population. Natürliche Feinde scheinen sie hier kaum noch zu haben.

In einem kleinen Dörfchen machten wir eine Melonen- und Mittagspause vor der Kirche. Paulina erzählte, das heute der erste Tag in ihrer Zeit bei uns war, an dem ihr Zeit überhaupt bewusst wurde. Damit kam automatisch auch der Gedanke an den Abschied und die Frage, was wohl danach passieren würde.

„Hast du Angst vor der Rückreise?“ fragte ich sie.

„Nein! Ja! Doch!“ antwortete Paulina und begann zu erklären. Sie hatte Angst, dass sie nach der Rückkehr wieder in die alten Muster zurückfallen würde. Dass ihre Erkenntnisse und ihre Überzeugungen wieder verloren gehen würden, dass der Alltag sie wieder einholte und sie sich darin wieder verlieren würde.

Die Angst war durchaus berechtigt, denn es passierte fast immer nach einem solchen Ausbruch. Wie oft hatten Heiko und ich kurz davor gestanden unser Leben von Grund auf zu verändern und wie oft waren wir dann wieder in den alten Alltag zurückgekehrt um alles wieder zu vergessen? Wie viele Seminarteilnehmer haben nach Ende der Ausbildung ihre Koffer gepackt und sind in ihr altes Leben zurück, um von nun an in Erinnerungen zu schwelgen, während sie die Aufgaben, die ihnen gestellt wurden, wieder verdrängen und vergessen? Selbst Menschen, die über Jahre hinweg im kanadischen Busch gelebt haben und die dort all ihre Zivilisationskrankheiten abgelegt haben, verfallen oft in ihre alten Muster zurück, wenn sie in ihren Alltag zurückkehren. Ich erinnere mich noch gut an meine erste Ausbildung im Bereich Erlebnispädagogik. Damals habe ich in einem 8-wöchigen Kurs zum ersten Mal seit der Einschreibung in der Uni das Gefühl gehabt, wirklich etwas gelernt zu haben. Plötzlich hatte ich eine Vision und eine Vorstellung davon, in welche Richtung ich weiter gehen wollte. Nach 3 Jahren Stadt- und Kulturleben wurde mir wieder klar, dass es mich raus in die Natur zog, dass ich lernen wollte, wie man draußen einheimisch wird und dass ich anderen das Gefühl der Freiheit, des Abenteuers und der Magie dieser Welt vermitteln wollte. Ich wusste, dass dies mein Weg war und gleichzeitig spürte ich eine unglaubliche Angst in mir. Mir ich spürte, dass ich alles wieder vergessen würde, wenn ich nach hause zurückkehrte. Ich liebte meine Familie und meine Freunde und ich war gerne mit ihnen zusammen, aber ich wusste auch, dass ich mich nicht entwickeln konnte, wenn ich bei ihnen blieb. Meine Angst oder meine Gewissheit diesbezüglich war so groß, dass ich mich um ein zweimonatiges Praktikum bei dem Ausbilder bewarb, nur um nicht nach Hause gehen zu müssen. Das Praktikum war sinnlos und bestand vor allem daraus, das ich in einer kleinen Kammer hauste und das Treppenhaus des Seminargebäude strich. Doch ich war von lauter Menschen umgeben, die ähnliche Träume und Visionen hatten wie ich. Später entschied ich mich dann, mich als Erlebnispädagoge selbstständig zu machen und zu diesem Zweck zog ich wieder bei meinen Eltern ein. Wie sich herausstellte, waren die Ängste berechtigt gewesen, denn schon bald wurde meine Vision vom Arbeitsalltag eingeholt und überrannt. Ich Arbeitete mit Kindern und Schulklassen um ihnen das Abenteuer des Lebens zu vermitteln, doch ich selbst wusste schon längst nicht mehr, worin es bestand. Als ich dann auf Heiko traf und bei ihm die erste Ausbildung machte, kam es wieder zu einer ähnlichen Situation. Wieder hatte ich das Gefühl, in einem Monat mehr gelernt zu haben, als zuvor in meinem ganzen Leben und wieder kehrte danach der Arbeitsalltag zurück. Diesmal zog ich zwar nicht zurück zu meinen Eltern sondern blieb als Dauer-Couchsurver bei Heiko, um in Neumarkt unsere eigene Wildnisschule aufzubauen, aber auch dieses Mal gingen die Ideale im täglichen Arbeitschaos unter. Die Idee war es gewesen, im Einklang mit der Natur zu leben und zu arbeiten und mit der Verwirklichung dieser Träume das Geld zu verdienen. Doch im Endeffekt verbrachten wir mehr Zeit im Büro und am Computer als je zuvor. Und wenn wir im Wald unterwegs waren, dann waren wir nicht für uns, sondern für andere da. Das soll nicht heißen, dass alles in dieser Zeit schlecht war. Ganz im Gegenteil, es war definitiv eine coole Zeit. Aber es war auch eine Zeit in der wir unsere Körper ausgebeutet haben und in der wir uns mit dem Versuch, unsere Träume zu verwirklichen, selbst krank machten. Bis jetzt ist unser Medicine-Walk noch immer eine Erholungsreise von diesen Zeiten, in denen wir unsere wahren Lebensmissionen aus den Augen verloren haben. Und auch jetzt gibt es noch immer viele Phasen, in denen wir den Fokus wieder verlieren und uns in Bereiche verzetteln, die uns nicht voranbringen.

„Ich geh kurz in der Bar dort auf Toilette, brauchen wir noch irgendetwas, wonach ich fragen soll?“ erklärte Paulina, als wir unser Mittagessen beendet hatten.

„Vielleicht ein Wasser!“ antwortete Heiko.

Paulina verschwand und kam kurz darauf wieder zurück. „Was haltet ihr von einer spanischen Tortilla?“ fragte sie grinsend.

Gegen einen zweiten Snack hatten wir nichts einzuwenden und so folgten wir ihr in die Bar. Der Chef saß an einem Tisch und half seiner 14jährigen Enkelin bei den Hausaufgaben. Nach und nach bekamen wir erst eine Flasche Wasser, dann eine spansiche Tortilla, dann einen Teller mit Oliven, dann einen Tomatensalat, dann eine Suppe mit weißen Bohnen und schließlich jeder zwei saftige Stücke Honigmelone. Zwischendurch bot uns der Chef sogar noch Bier und Cola an, was wir aber dankend ablehnten. Heiko und ich waren baff und wir wussten nicht recht, ob wir begeistert oder beleidigt sein sollten. Es war auf jeden Fall der absolute Knaller, so königlich bedient zu werden, doch wir spürten auch deutlich diese große Ungerechtigkeit zwischen Männern und Frauen. Ich hatte mir über acht Monate hinweg aufwändige Tricks angeeignet, hatte versucht die Gesichter der Menschen zu lesen um herauszufinden, was sie brauchten um uns helfen zu können, hatte mir Geschichten und verschiedenen Ausdrücken experimentiert und hatte meine Methoden immer weiter ausgefeilt, um in der Lage zu sein, in nahezu allen Situationen eine positive Stimmung aufzubauen, durch die uns die Menschen gerne unterstützen. Paulina murmelte einige Worte in gebrochenem Spanisch, ohne dass sie irgendetwas dazu erklären konnte und schon legte man ihr die Welt zu Füßen. Nur allein deshalb, weil sie eine Frau war. Der Chef der Bar unterstützte uns vor allem deshalb, weil er bei jeder Frage, ob wir mehr wollten, einen Blick auf die junge Frau werfen konnte. Je mehr wir aßen, desto länger blieben wir sitzen und desto länger konnte er gucken. Wie primitiv sind wir Männer eigentlich? Uns selbst wäre es in einer ähnlichen Situation ja nicht anders gegangen. Mehr noch! Wie viele Situationen kannten wir selbst, in denen wir Dinge nur deshalb mitgemacht haben, weil eine hübsche Frau dabei war und wir uns erhofften, dass vielleicht mehr dabei herumkommen könnte? Die Ungerechtigkeit lag jedoch nicht in erster Linie darin, dass es Frauen so viel leichter hatten, ohne Geld durchzukommen. Der Kernpunkt war, dass es ihnen aus dem gleichen Grund fast unmöglich gemacht wurde, ein solches Leben zu führen. Zumindest, wenn sie alleine waren. Als Dreiergespann war es natürlich der Knaller. Auch später am Nachmittag brauchten wir nur Minuten um ein Dreibettzimmer im Hostal Concepción, dem einzigen Hotel von La Mata zu ergattern und bekamen dort sogar noch ein verdammt leckeres Abendessen. Doch stellt euch einmal vor, wie gefährlich es war, auf diese Art alleine zu reisen! Nehmen wir als Beispiel nur einmal das Trampen. Als Mann gibt es fast nur zwei Möglichkeiten, die eintreten können. Entweder man trifft auf nette Leute, die einen Mitnehmen und die ein wirkliches Interesse daran haben, einen zu unterstützen, oder man steht sich die Beine in den Bauch und wartet bis in alle Ewigkeit. Wenn ich gemeinsam mit meiner damaligen Freundin oder mit anderen Freundinnen trampte, verkürzte sich die Wartezeit an den Rastplätzen oder Auffahrten meist um mindestens zwei Drittel. Nicht selten kam es vor, da hatte ich meinen Rucksack noch nicht ganz abgestellt und musste ihn schon wieder aufsetzen, weil bereits das erste Auto hielt. Alleine hatte ich an der gleichen Stelle zuvor oft mehrere Stunden warten müssen.

Doch mit diesem Vorteil kam auch eine neue, dritte Option hinzu, die alles wieder versaute. Als Frau konnte es einem genauso passieren, dass man mitgenommen wurde, weil sich der Fahrer davon ein schnelles Nümmerchen erhoffte. Es musste dabei nicht einmal zu Übergriffen oder etwas ähnlichem kommen, aber allein das Gefühl, dass man als Frau vor allem deshalb im Auto saß, weil man am Abend in der Erinnerung als Wichsvorlage diente, macht die Atmosphäre komisch. Beim Reisen ohne Geld ist das gleiche Prinzip natürlich noch einmal stärker. Wie viel Prozent der Einladungen auf ein Essen, ein Getränk oder einen Schlafplatz waren wohl rein sexuell motiviert? Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber wenn ich mir vorstelle, ich wäre eine Frau, dann würde ich mich damit nicht wohl fühlen. Vor allem, weil immer die Gefahr besteht, dass es bei irgendeinem Gönner doch nicht nur bei der Phantasie bleibt und er sich auch in der Realität austoben will. Es muss ja nicht einmal eine Vergewaltigung sein. Vielleicht ist es ja sogar ein hübscher Kerl, auf den man sich gerne einlässt. Aber bleibt nicht trotzdem das Gefühl, sich für einen Schlafplatz oder ein Mittagessen verkauft zu haben?

„Anders ist es natürlich, wenn man wirklich in seiner Kraft steht!“ sagte Heiko, als wir am Abend noch einmal darüber sprachen. „Wenn ich noch einmal an meine Diskozeit zurückdenke, dann gab es dort immer ein klares Muster. Es gab mittelhübsche bis rechthübsche Frauen, die von nahezu jedem Mann angequatscht wurden. Warum? Weil sie eine wenig selbstbewusste Ausstrahlung hatten und von jedem sofort als leichte Beute erkannt wurden. Dann gab es aber immer auch ein paar wirklich attraktive und gutaussehende Frauen, die selbst bewusst auf den Boxen tanzten und eine echte Show hinlegten. Was glaubt ihr, wie oft die angesprochen wurden?“

„Deutlich seltener,“ sagte Paulina.

„Überhaupt nicht!“ antwortete Heiko, „Ich habe damals ja auch in den Shows getanzt, habe Feuershows gemacht und habe damit mein Geld zum Feiern verdient. Anschließend haben wir uns dann an der Bar etwas zu trinken geholt und keiner von uns, weder die Mädels noch die Jungs wurden je angesprochen. Warum? Weil jeder sofort spürte, dass man keinem von uns dumm kommen musste. Kein Mann, oder besser gesagt keiner der Jungs im ganzen Club hätte sich getraut, eine der Frauen anzusprechen, weil er sicher war, eine knallharte Abfuhr zu bekommen. Die einzigen, die auf eine der Frauen zukamen waren die, die einen echten Magnetismus verspürt haben. Die, die wirklich am Menschen interessiert waren und selbst wussten was sie wollten. Versteht ihr was ich meine? Wenn ich eine Opferhaltung aussende, dann hilft das natürlich bei allen, die ein Helfersyndrom haben und mich unterstützen wollen. Aber ich ziehe damit natürlich auch alle Arschgeigen dieser Erde an. Und das muss einem bewusst sein. Wichtig ist es zu lernen, wirklich aufmerksam zu sein und zu erkennen, welche Situation welche ist. Es spricht ja nichts dagegen, in die Rolle des mitleidserweckenden Schäfchens zu schlüpfen, wenn das gerade hilfreich ist, aber trotzdem muss man erkennen, welche Situationen man vermeiden muss. Man darf nicht naiv sein und sich dadurch in Gefahr bringen.“

Am Abend machten Paulina und ich dann noch eine weitere Runde durch den Ort, um noch etwas Gemüse, Obst und Wasser aufzutreiben. Wasser bekamen wir unter anderem in der Bar Maribel. Als wir durch die Straßen gingen und die Menschen beobachteten, die vor ihren Häusern auf den Gartenstühlen sahen, meinte Paulina: „Das ist ja wirklich krass, wie kaputt die Menschen hier sind! Du hattest das ja schon mal geschrieben und ich muss zugeben, ich habe es nicht so wirklich glauben können. Ich kannte Spanien ja nur aus dem Urlaub und vom Camino her. Klar, da hab ich auch ein bisschen was mitbekommen, aber jetzt fällt es mir zum ersten Mal wirklich auf. Wie viele Menschen hier keine Zähne mehr haben, wie viele nicht mehr laufen, sehen oder sich irgendwie bewegen können, wie viele Hörgeräte tragen. Das ist echt unglaublich!“

„Ich sags ja!“ antwortete ich, „es glaubt immer keiner und die Leute sagen, wir übertreiben. Aber Spanien ist einfach wirklich kaputt. Das sagen ja nicht nur wir, sondern auch die Einheimischen und man merkt es auch wirklich am Gesundheitszustand der Menschen.“

Besonders berührt waren wir von einem alten tattrigen Pärchen, dass nebeneinander saß und die Wand ihres Hauses anstarrte. Nur Gott weiß, wann sie sich das letzte Mal etwas zu sagen hatten. Als wir sie nach etwas Obst fragten, schauten sie uns erstaunt an. Verbittert schüttelte der Mann mit dem Kopf, doch seine Frau lächelte sacht und meinte, dass sie uns eine Melone bringen könne. Langsam und zittrig erhob sie sich aus ihrem Stuhl und schleifte sich mühsam zur Tür herüber. Fast schon hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass wir die Frau zu diesem mühseligen Akt der Bewegung überredet hatten, doch wahrscheinlich tat es ihr nicht schlecht. Minuten später kam sie zur Tür zurück und hielt uns eine Tüte mit einer Melone, zwei Äpfeln und zwei Birnen hin. Wir bedankten uns herzlich und verabschiedeten uns. Als wir kurz darauf noch einmal an ihrem Haus vorüber kamen, lächelte uns die Frau zu und wünschte uns eine gute Reise. Es war ein ehrliches Lächeln und vielleicht das erste seit Wochen, Monaten oder Jahren.

Dies war es, was wir den Menschen als Ausgleich für ihre Unterstützung geben wollten. Es gelang nicht immer, aber manchmal gelang es.

Spruch des Tages: Man reist nicht, um sein zuhause mit in die Ferne zu nehmen. Man reist um etwas Neues zu erleben. (Mann aus der Bar)

Höhenmeter: 90 m

Tagesetappe: 18,5 km

Gesamtstrecke: 4553,47 km

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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