Pizza bis zum Abwinken

von Heiko Gärtner
21.12.2015 03:36 Uhr

Von unserem Schlafplatz aus schlängelten wir uns über möglichst kleine Wege aus der Stadt hinaus und landeten dann inmitten von endlosen Olivenfeldern. Es war angenehm flacht, so dass wir nach den letzten Monaten der Dauersteigungen nun ein bisschen unsere Beine entspannen konnten. Das Mückenproblem, das uns in Griechenland verfolgt hatte, gab es jedoch auch hier. Vor allem am frühen Vormittag, wo wir lange Zeit neben einem Wassergraben herlaufen mussten.

Das Bild, das Italien uns heute präsentierte, änderte sich in den nächsten Tagen kaum noch. Wir kamen durch Felder, die hauptsächlich mit Olivenbäumen bepflanzt waren und in denen man fast vollständig für sich alleine war. Es gab genug Straßen zur Auswahl, also konnten wir die Route so legen, dass wir fast nie einem Auto begegneten. Jedenfalls nicht so lange, bis wir die Städte oder Dörfer erreichten. Zwischen Städten und Dörfern gab es hier eigentlich keinen Unterschied. Es gab immer einen Platz in der Mitte, an dem sich meist die Kirche befand. Um diesen Platz herum gab es eine kleine Altstadt und von hier aus führten dann sternförmig Straßen in alle Richtungen ab, an denen immer die gleichen Häuser standen. Wenn es ein Dorf war, dann war der Häuserkranz etwas kleiner als in einer Stadt. Aber sobald man sich darin befand, merkte man keinen Unterschied mehr. Hier wurde es plötzlich wieder laut und fast immer ungemütlich. Auf irgendeinem Grund fuhr jeder mit dem Auto, auch wenn er nur drei Häuser weiter wollte. Die engen Straßenschluchten und der schlechte Bodenbelag steigerten die Lautstärker der ohnehin schon knatternden Motoren noch einmal bedeutend und man freute sich eigentlich immer, wenn man irgendwo in ein Gebäude hinein oder gänzlich aus der Stadt wieder hinaus konnte. Als wir an diesem Tag unser Zieldorf erreichten war gerade die Sonntagsmesse vorbei. Damit war wohl der Höhepunkt des Tumultes in dieser Ortschaft erreicht, denn die komplette Innenstadt war voller kreischender Menschen, die umherliefen oder in ihren Autos davon fuhren. Nach der ruhigen Wanderung durch die Olivenhaine war dies eindeutig zu viel für Heikos Ohren, die dem äußeren Lärm ein inneres Pfeifen entgegen setzten. Während ich mich in das Getümmel stürzte, um darin den Pfarrer ausfindig zu machen, versuchte er vor der Lautstärke zu fließen. Ich weiß nicht, was letztlich die größere Herausforderung war.

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Irgendwann löste sich die dichte Traube an Menschen jedoch auf und ließ den Pfarrer, den sie umringt hatte wieder frei. Er war neu in dieser Gemeinde und war sich zunächst unsicher, ob er dazu befugt war, Pilger aufzunehmen. Deswegen rief er einen Rat zusammen, der aus beliebigen Gemeindemitgliedern bestand, die zufällig in der Nähe waren. Dieser beschloss, dass es kein Problem war und entschied sich dafür, dass wir einen Raum in einem kleinen Oratorio am Stadtrand bekommen sollten. Dort breiteten wir erst einmal alles zum Trocknen aus, was wir besaßen, angefangen bei unserem Zelt und der Plane, bis hin zu Socken und Unterhosen. Wir flickten die Reifen, wuschen so ziemlich alles, was wir finden konnten und schafften es so, wieder auf einen einigermaßen zivilisierten Stand zu kommen.

Der Kirchenhelfer, der uns in den Raum führte, brachte uns auch etwas Milch, Brot, Kekse und eine Melone. Alles waren Spenden, die die Kirche an dieser Messe bekommen hatte. Es war ein guter Anfang, doch für ein komplettes Abendessen war es noch etwas dürftig und so zog ich noch einmal los, um unseren Vorrat aufzubessern. Insgesamt war ich damit recht erfolgreich und bekam letztlich in relativ kurzer Zeit alles, was wir brauchten. Doch es war ein vollkommen anderes Gefühl als im Balkan. Dort war es selten vorgekommen, dass mir jemand gar nichts gegeben hatte. Hier jedoch wiesen mich mehr als die Hälfte der Menschen ab und das meist mit der Begründung, dass sie zu arm seien und selbst nicht genug zum Essen hatten, obwohl sie in riesigen Villen wohnten und teilweise zwei oder mehr teure Autos im Hof stehen hatten. Im kompletten Balkan hatten wir Armut als Begründung dafür, nicht helfen zu wollen oder zu können, vielleicht vier oder fünf Mal gehört. Heute hörte ich sie sechs oder sieben Mal.

Bevor ich umkehrte fragte ich noch bei einer kleinen Pizzeria nahe der Kirche. Hier empfing man mich nun wieder vollkommen anders und nach eine kurzen Plausch über unsere Reise bekam ich sämtliche Reststücke, die an diesem Tag produziert worden waren. Sie waren natürlich nicht mehr warm, aber es war Pizza und es war eine Portion, die alleine ausreichte, um uns nicht nur satt zu machen, sondern fast zum Platzen zu bringen. Das war Italien, wie man es sich vorstellte.

Am folgenden Tag kamen zu den Olivenfeldern auch noch einige Solarfelder hinzu. Ansonsten änderte sich nichts. Auch die Stadt sah aus wie die letzte, abgesehen davon, dass heute keine Messe stattfand. Der Pfarrer sagte uns zu, dass wir einen Platz bekommen konnten, allerdings erst am 15:00 Uhr. Bis dahin durften wir uns in einem Nonnenkloster aufhalten um schon mal ein bisschen arbeiten zu können. Als wir dort eintrafen, wollte uns die Nonne, die mir den Platz erst zugesichert hatte, jedoch schon wieder absagen. Ihre Mutterobere hatte ihr verboten, Männer ins Haus zu lassen, nicht für die Nacht, aber auch nicht nur für ein paar Stunden. Der armen Nonne war dies jedoch so peinlich, dass sie uns doch hereinließ und in einem Nebenzimmer versteckte. Als Entschuldigung brachte sie uns sogar noch ein paar belegte Brötchen.

Eine besondere Eigenart an Italien ist, dass die Gebäude hier fast immer nur einfach verglaste Fenster haben, die zum größten Teil auch noch offen stehen. Dies mag daher kommen, dass es hier normalerweise sehr heiß ist, um man sich immer über etwas frische Luft freut. Es führt aber auch dazu, dass es in den Häusern fast immer genauso laut ist, wie auf der Straße. Und die Straßen sind hier, wie bereits erwähnt, nicht gerade angenehm. Warum man es sich in den Häusern dann nicht gemütlicher macht, sondern immer mit einer Akustik lebt, die einen Obdachlosen unter einer Autobahnbrücke abschrecken würde, blieb uns bis heute ein Rätsel.

Um 15:00 Uhr trafen wir uns vor der Kirche mit zwei jungen Männern, die uns den Weg zu unserem Schlafplatz zeigten. Es war wieder ein Oratorio, als ein kleiner Sportplatz etwas außerhalb der Stadt. Unser Nachtquartier wurde die Umkleide für die Sportler und wir durften uns aus einem Lager sogar noch mit Chips und Erdnüssen versorgen.

Der Sportplatz selbst wurde fast nicht mehr verwendet und war bereits an vielen Stellen so ungepflegt und verfallen, dass man ihn auch gar nicht mehr richtig nutzen konnte. Verglichen mit dem, was wir im Balkan gesehen hatten, kam er uns noch immer vor, als wäre er in einem top Zustand. Deswegen fiel es uns im ersten Moment auch kaum auf. Verglich man ihn jedoch mit ähnlichen Einrichtungen in Nordeuropa, dann war sein Zustand katastrophal. Gab es da wirklich einen Zusammenhang, zwischen der Verwahrlosungsmentalität und der Nähe zum Äquator? Ein bisschen kam es uns so vor. Je weiter wir auf unserer Reise in den Süden gekommen waren, desto stärker hatten wir das Gefühl, dass viele Dinge nicht mehr ernst genommen wurden. Obwohl es hier durch das schöne Wetter, die subtropischen Pflanzen, die Meernähe und die schönen Berge so leicht war, sich hier ein Paradies aufzubauen, setzten die Menschen doch stets alles daran, um genau dies zu verhindern. Vieles war verfallen oder wurde nur notdürftig geflickt. Generell schien man im Süden deutlich weniger Wert auf Solidität, Sorgfalt, Ästhetik und Genauigkeit gelegt zu werden, als im Norden. Wie kam das? Lag es einfach an der Mentalität? Oder lag es an der Hitze, die die Menschen träge machte, so dass man eine entspanntere, aber auch nachlässigere Haltung allem gegenüber bekam? Ich erinnerte mich daran, dass mein Onkel, der nach Australien ausgewandert war, einmal etwas ähnliches über die Menschen dort gesagt hatte. Es war praktisch unmöglich, sie auf jemanden zu verlassen, wenn man etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt erledigt haben wollte. Es kam nicht selten vor, dass Bauarbeiter von der Baustelle wegblieben, Geschäfte schlossen oder Restaurants dicht machten, weil die Betreffenden mehr Lust auf Angeln als auch Arbeiten hatten. „Gone Fischig!" ist keine ungewöhnliche Entschuldigung dafür, dass etwas gerade nicht geöffnet hatte, obwohl es eigentlich offen haben sollte. Doch die Australier waren ja in der Mehrheit Einwanderer aus anderen Ländern und kamen von überall auf der Welt. Würde also ein Mensch, der von seiner Mentalität her eher nordisch korrekt eingestellt war, auch zu einem lasleyfairen Stil finden, wenn er in ein südliches Gefilde zieht und dort für eine lange Zeit wohnen bleibt?

Wir beschlossen, uns nicht länger mit der Frage zu beschäftigen, sondern erst einmal eine Runde Boule zu spielen. Wie oft hatte man schon die Gelegenheit auf so einer Reise und bekam nicht nur die Kugeln, sondern auch eine Boule-Bahn zur Verfügung gestellt? Leider war die Bahn recht schief, was uns dann doch wieder zur Frage mit der Genauigkeit zurückbrachte.

Am Abend kam der Vorsteher des Sportplatzes um nach uns zu schauen. Er brachte Essen mit und wir erzählten über unsere Reise. Vor allem Geschichten aus dem Balkan standen auf der Tagesordnung. Irgendwie wirkte es bereits, als wäre es eine Ewigkeit her, seit wir diese Geschichten erlebt hatten.

Spruch des Tages: Wenn schon ungesundes Essen, dann wenigstens leckeres!

Höhenmeter: 60 m

Tagesetappe: 13 km

Gesamtstrecke: 12.768,27 km

Wetter: bedeckt

Etappenziel: Cappucciner-Kloster, 89029 Taurianova, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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