In Deutschland würd's das nicht geben!

von Heiko Gärtner
04.11.2016 18:22 Uhr

09.10.2016

"In Deutschland würd's das nicht geben!" Ich weiß nicht wie oft, wir diesen Sat auf unserer Reise in den unterschiedlichsten Situationen schon voller überzeugung gesagt haben. Und je länger wir unser Heimatland nicht gesehen haben, umso stärker wurde diese Überzeugung. Porröser, aufgerauter Asphalt, auf dem jedes Auto doppelt so laut wurde, wie bei einem Straßenbelag, der den Schall schluckte oder der zumindest weniger Rollwiderstand bot. In Italien gab es so etwas, in der Ukraine oder in Polen, aber nicht in Deutschland. Da würde sich jeder Anwohner beschweren und sofort eine Überarbeitung der Straße verlangen. Aggressive, kleffende Hunde ohne jede Erziehung, nein in Deutschland konnte sich so etwas niemand erlauben! Die Nachbarn würden ihm sofort auf´s Dach springen und verlangen, dass er seinen Hund richtig erzieht. Türen ohne Dichtung, die bei jedem Schließen ins Schloss knallen müssen. In der Tschechei und in Kroatien gang und gebe, aber in Deutschland?

Niemals. Klobürsten, die man nicht aus der Halterung nehmen kann, weil sie zu groß sind und sich verklemmen? In Deutschland? Nein, absolut unmöglich! Hier wird immer darauf geachtet, dass alles funktional ist! Türen, oder gar Türklinken die Quietschen? Nicht in deutschen Haushalten! Hier dauert es keine zehn Minuten, bis sie jemand geölt hat! Einkaufsstraßen und Altstädte, durch die eine Haupt- oder Bundesstraße mitten hindurchläuft, so dass der Verkehr im Abstand von 10 Sekunden direkt an den Passanten vorbeischießt? Quatsch! In Deutschland ist das undenkbar! Landmaschinen in der Größe von Schlachtschiffen, die mit 150db durch kleine Ortschaften rauschen und die die halbe Nacht hindurch auf den Feldern herumfuhrwerken, direkt vor den Ohren der Anwohner, die dadurch kein Auge zubekommen. Auf gar keinen Fall! Die Leute würden ja im Karree springen und auf die Barrikaden gehen!

Je länger wir unterwegs waren, desto mehr fielen uns all die abstrakten Kleinigkeiten auf, mit denen wir Menschen uns das Leben schwer machen. Früher waren uns diese Dinge nicht aufgefallen und das konnte nur eine Sache bedeuten: In Deutschland gab es das alles nicht! Wir waren eine der wenigen Nationen, die nicht vollkommen verschroben und verdreht war. Vielleicht waren wir sogar die einzig Normalen in einer vollkommen verqueren Welt! Oder etwa nicht?

 

Je mehr wir uns Deutschland wieder genähert haben, desto stärker wurden zwei unterschiedliche Gefühle in uns, die konträrer kaum hätten sein können. Auf der einen Seite freuten wir uns riesig darauf, die Heimat wieder zu sehen und wieder einmal mit "normalen" Menschen in Kontakt zu kommen, endlich wieder unseren Luxus zu genießen und wieder einmal vollkommen zur Ruhe finden zu können. Auf der anderen Seite hatten wir aber auch Angst, das genau dies nicht einteten würde. Dass unser Bild von Deutschland vielleicht nur eine Illusion war, die wir uns selbst eingeredet hatten, weil uns im Ausland so vieles fremd vorgekommen ist. Jetzt, wo wir schon wieder ein paar Tage im Land sind, können wir ohne schlechtes Gewissen sagen: "Jap! Das war mal ne schöne Einbildung!"

Alles, aber auch wirklich allesm von dem wir uns absolut sicher waren, dass dies in Deutschland niemals vorkommen würde und dass es definitiv eine Eigenheit einer bestimmten Kultur irgendwo in Europa ist, die mit uns mal so gar nichts zu tun hat, ist uns in den letzten drei Tagen hier begegnet. Es ist fast als wollte uns das Universum einen Denkzettel verpassen und sagen: "Seht ihr, ihr Narren! Nicht die Welt ist komisch geworden, ihr seit es!" Dass der Verkehr in Italien, Polen und der Ukraine so viel schlimmer war als wir es von Deutschland in Erinnerung hatten, lag nicht an der Verkehrssituation, sondern daran, dass wir früher nie so bewusst darauf geachtet hatten. Die Sinne, und seien sie in meinem Fall noch so unausgeprägt, haben sich im Laufe der Reise gewandelt und sind sensibler geworden. Das erklärte auch, warum wir die neuen Straßenhöllen, die wir hin und wieder durchqueren mussten, stets lauter waren, als die Vorherigen. Nicht das außen wurde heftiger, sondern wir selbst nahmen es intensiver war.

Das jetzt festzustellen war zunächst erstmal ein harter Brocken, den man schlucken musste. Die Option, zurückzukehren und irgendwann wieder ein sesshaftes Leben in Deutschland zu beginnen, stand auch in den letzten Jahren nie wirklich im Raum. Doch jetzt wo wir plötzlich wieder hier waren, merkten wir, dass es sich nicht mehr im Geringsten nach zuhause anfühlte. Es war ein Land, das wir durchwanderten, nicht mehr und nicht weniger. Genau wie Italien und jedes andere Land auch, hatte es gewisse Vorzüge und gewisse Nachteile. Es gab Ecken, die traumhaft schön waren, wie beispielsweise der Abschnitt zwischen Vilshofen und Osterhofen entlag der Donau, den wir kurz vor Sonnenuntergang entlangwanderten. Die letzten Sonnenstrahlen spielgelten sich im Wasser der Donau, brachten die goldgelben Felder zum leuchten und ließen die ersten roten Herbstbäume aussehen, als würden sie von innen heraus glühen. Der Himmel hatte sich rotorange verfärbt und in den Sträuchern saß ein Singvogelschwarm, der ruhig und sanft sein Abendlied trällerte. Eine junge Katze huschte auf dem Weg vor uns her und versteckte sich dann in einer Kuhle am Wegesrand, in der festen Überzeugung, dass wir sie noch nicht entdeckt hatten. In diesen Momenten fühlten wir uns geborgen und heimisch. Wenig zuvor jedoch hatte uns der Weg über viele Kilometer an der B8 und zuvor an einer anderen Bundesstraße entlang geführt. Das einzige Gefühl, das dort aufgekommen war, war es, so schnell wie möglich aus diesem Bereich verschwinden zu wollen.

 

Es war das gleiche Gefühl, dass wir auf Sizilien, in Andorra und auch in der Ukraine gehabt hatten. Und auch die Kleinstädte, die wir durchquerten fühlten sich für uns nicht heimischer oder angenehmer an, als die meisten italienischen Städte. Auch hier war es laut, hektisch und ungemütlich und auch hier fragten wir uns, wie man so leben konnte. Der Unterschied bestand nur darin, dass wir die Menschen fragen konnten, was sie selbst davon hielten. Auf diese Weise erfuhren wir, dass eigentlich niemand mit der Situation zufrieden war. Die Antwort: "Was? Die Bundesstraße ist doch der Knaller! Es gibt nichts geileres, das man sich in direkter Nähe vor seinem Fenster vorstellen kann. Wenn ich nach hause komme, dann reiße ich als erstes das Fenster auf, damit ich den Sound auch so richtig genießen kann. Ich habe mir sogar schon eine CD mit dem Straßensound von zuhause aufgenommen, die ich mir immer anhöre, wenn ich in den Urlaub fahre, weil ich das Hintergrundrauschen der Autos sonst so sehr vermisse!" bekamen wir überraschender Weise tatsächlich eher selten. Die meisten fanden den Verkehr schrecklich, hatten aber auch Angst davor, dass ihr Ort vielleicht aussterben könnte, wenn eine Umgehung gebaut wurde, da dann den Geschäften in der Innenstadt vielleicht die Kundschaft verloren ging.

Als ich vor vielen Jahren in der Uni mein Auslandspraktikum für Guatemala vorbereitete, sagte mir eine Professorin, die für die Betreuung der Auslandsstudenten zuständig war, dass ich sehr vorsichtig sein solle, was die Dauer meiner Auszeit anbelangte. Sie selbst hatte die Erfahrung gemacht, dass zwei Jahre eine absolut magische Grenze waren. Wer nach zwei Jahren Auslandsaufenthalt zuzück in seine Heimat kam, hatte es zunächst etwas schwer, gliederte sich dann jedoch recht gut wieder ein. Blieb jemand für eine längere Zeit, war es ihm stets fast unmöglich, dass er sich im Anschluss wieder im alten System zurecht fand.

Diejenigen, die sie es hatte versuchen sehen, waren entweder daran zerbrochen und in eine tiefe Depression gefallen, aus der sich kaum jemand hatte erholen können, oder aber sie waren bereits nach kurzer Zeit wieder aufgebrochen und hatten sich ein neues Leben an einem anderen Ort aufgebaut. Damals hatte ich ihre Worte nicht allzu ernst genommen, doch jetzt verstand ich sie immer mehr. Heimat war für uns schon lange nicht mehr an ein Land oder an einen Ort gebunden.

 

Es war viel mehr ein Gefühl, dass man im Herzen trug, und das dort spürbar wurde, wo man sich wohlfühlte, egal wo man gerade war. Und es war ein Gefühl, dass man mit bestimmten Personen verband, mit jenen Menschen oder Wesen, die einem wirklich etwas bedeuteten und zu denen eine echte, tiefe Verbindung herrschte. Früher, bei unseren Survivalkursen, war oft das Gefühl aufgekommen, zuhause zu sein, wenn man irgendwo in einem schönen Wald ein Lagerfeuer entzündet hatte. Die Bäume sorgten für den Schutz und das Feuer für die Gemütlichkeit und so war der engste Kreis um das Feuer herum stets wie ein Wohnzimmer für uns gewesen. Dieses Gefühl wurde nun wieder stärker. In der Ferne kam oft die Idee auf, dass so ein kleines Häuschen oder eine Wohnung irgendwo in Deutschland doch etwas sehr verlockendes und heimeliges hatte. Vor allem natürlich an Tagen, an denen es ungemütlich oder anstrengend war und an denen vieles nicht so lief, wie wir es uns gewünscht hätten. Doch jetzt, wo wir diese Option wieder dicht vor unseren Augen hatten, spürten wir deutlich, dass es keine Option mehr für uns war. Es war sicher für viele Menschen die richtige Entscheidung, doch es war nicht unsers.

 

Von Passau aus wanderten wir zunächst nach Vilshofen. Heiko kannte die Kleinstadt noch von früher, da seine Schwester nur wenige Kilometer entfernt wohnt. In seiner erinnerung handelte es sich dabei um einen winzigen Ort, ein kleines Dorf mit nicht mehr als zehn Häusern und einer Kirche. Jetzt wo wir die Gemeinde erreichten, zeigte sich jedoch, dass auch diese Erinnerung trügte und er einen ganz anderen Ort im Kopf hatte. Tatsächlich war Vilshofen nicht übermäßig groß, aber auch alles andere als klein. Als wir eintrafen stand die ganze Stadt zudem Kopf, weil gerade das alljährliche Altstadtfest herrschte. Überall in der Innenstadt waren Stände und Bühnen aufgebaut und alle 30m boten Straßenkünstler ihre Shows da. Auch dies war etwas, an dem wir früher sicher mit Begeisterung teilgenommen hätten, doch heute konnten wir nichts mehr damit anfangen. Es war laut und hektisch und passte so gar nicht zu unserem Wunsch, einen ruhigen entspannten Platz für den Nachmittag zu finden. Noch einmal merkten wir, dass wir in unserer eigenen Kultur tatsächlich fremd geworden waren.

 

Eine 87 jährige Dame, die lange Zeit die Vorsitzende der Caritas gewesen war, versuchte uns dabei zu helfen, irgendwo im Getümmel einen Verantwortlichen von der Kirche ausfindig zu machen. Sie entdeckte schließlich den Informationsstand der Caritas und übergab uns der Verantwortung ihrer jüngeren Kollegen. Einen Schlafplatz bekamen wir nicht, dafür aber eine warme Waffel am Stiel, was ja auch schonmal nicht schlecht war. Im Nachhinein betrachtet waren wir auch nicht böse darüber, dass wir noch ein wenig weiterwandern durften, denn es war ein herrlicher Nachmittag und wahrscheinlich einer der letzten sonnig warmen, die wir in diesem Jahr noch erhaschen konnten.

 

Gute drei Stunden später erreichten wir Osterhofen, den Heimatort von Heikos Schwester und ihrer Famile. Knapp drei Jahre war es nun her, dass sich die Familie das letzte Mal wirklich gesehen hatte und ihr könnt euch sicher vorstellen, was es für ein Hallo gab, als wir nun relativ überraschend und unerwartet vor der Tür standen.

Spruch des Tages: In Deutschland würd's das nicht geben!

Höhenmeter: 30 m Tagesetappe: 10 km Gesamtstrecke: 18.807,27 km Wetter: grau und regnerisch Etappenziel: Haus von Heikos Eltern, 92353 Postbauer-Heng, Deutschland

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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