Langzeitmeditation

von Heiko Gärtner
14.11.2016 00:16 Uhr

01.11.2016

Seit wir den Jakobsweg von Nürnberg zum Bodensee eingeschlagen hatten, hatte uns unser Weg nahezu immer über Hügel und kleine Berge geführt. Teilweise hatten wir sogar das Gefühl, dass es hier anstrengender war, als in Montenegro. Heute hingegen war die Etappe das erste Mal einigermaßen Eben. Was uns zuvor nicht bekannt war ist, dass wir uns hier in einem alten Meteoritenkrater befanden. Die komplette Gegend verdankt ihr heutiges Erscheinungsbild einer Naturkatastrophe, die vor mehreren Millionen Jahren stattgefunden hatte. Jedenfalls, wenn man den Angaben der Geologen glaubte. Durch den Einschlag hatte sich ein Krater gebildet, der dann durch die aufgewirbelten Gesteinsmassen wieder gefüllt wurde. Rings herum wurde die Erde jedoch aufgetürmt und bildete so eine Reihe von Hügeln und Felsformationen. Soweit die Theorie. Was damals wirklich geschah weiß natürlich niemand so genau. Was man aber weiß ist, dass die Gegend um Oettingen und Nördlingen auf dem Satellitenbild wie eine Pizza mit einem schönen, dicken und knusprigen Rand aussieht.

Nach unseren Erfahrungen in Gunzenhausen und Oettingen waren die Erwartungen, die wir an Nördlingen hatten eher gering. Dieses Mal wollten wir es besser machen und uns einfach entspannt die Stadt anschauen. Wenn es etwas leckeres zum Essen gab, dann fragten wir nach und falls wir zufällig über eine Möglichkeit zum Schlafen stolperten nutzten wir auch diese. Aber wir würden uns deswegen keinen Stress machen und uns auch nicht lange aufhalten lassen. Diese Einstellung wirkte Wunder. Der Dekan der evangelischen Kirchengemeinde war zwar ein wenig im Stress und daher recht kurz angebunden, öffnete uns aber dennoch die Tür zum Gemeindezentrum. Dies hatte nicht nur den Vorteil, dass wir bereits früh einen warmen Schlafplatz hatten, sondern auch, dass wir uns Nördlingen noch etwas genauer anschauen konnten.

Vollkommen unberechtigter Weise ist die Stadt nahezu unbekannt, obwohl sie von der Schönheit ihrer Altstadt her durchaus mit Rothenburg ob der Tauber und anderen historischen Städten mithalten kann. Der Kern der Stadt ist bis heute vollständig von einer Stadtmauer umgeben und nur durch die alten, teilweise rekonstruierten Stadttore erreichbar. In ihrem inneren gibt es unzählige kleine, verwinkelte Gassen mit farbenprächtigen, gut erhaltenen Fachwerkhäusern, prunkvollen Kirchen und vielem mehr. Einige der alten Häuser sind bereits so schief, dass man ein bisschen Sorge hat, sie könnten auf die Seite kippen, wenn man sie zu lange anschaut. Der Dekan erklärte uns jedoch, dass man die Fußböden im Inneren zum größten Teil wieder geebnet und ausgeglichen hatte.

 

Auch kulinarisch hatte die Nördlingen einiges zu bieten. Wir selbst profitierten vor allem vom asiatischen Restaurant am Rathaus, von den Bäckereien und vom Kochlöffel gegenüber der Kirche. Ja, der klingt jetzt nicht gerade nach Feinkost, sondern ist natürlich eine Fastfood-Kette, aber er macht ein hervorragendes Hähnchen.

 

Seit wir das letzte Mal meine Herzensverstöße ausgetestet hatten, waren nun bereits mehrere Wochen vergangen. Dementsprechend hoch fiel auch das Ergebnis aus. Es waren mehr als 6 Millionen. Bei Heidi waren es in der gleichen Zeit gerade einmal 46. Irgendetwas passte also noch immer in meinem Grundkonzept nicht. Ich habe noch immer keine Ahnung, was genau der Kernschlüssel dahinter ist, aber irgendwie ist es, als schlägt mein Herz permanent neben dem Takt. Ich versuche schneller und oft auch einfach anders zu sein als ich bin, lasse mich immer wieder verunsichern, möchte Dinge gelassen nehmen, die mich aber innerlich aufwühlen wie ein Orkan und drehe mich immer wieder im Kreis. Gleichzeitig merke ich auch, dass sich bereits vieles löst, dass ich immer häufiger meine Gefühle zulassen kann und dass viele, wenn auch oft kleine Entwicklungsschritte da sind. Aber es geht eben sehr langsam und meine starke innere Unsicherheit macht vieles auch wieder kaputt.

 

Für´s erste ging es nun jedoch darum, einen Ausgleich zu finden, mit dem ich mich selbst wieder in ein Gleichgewicht bringen konnte. Meine Herzenssanktion für die Verstöße bestand heute darin, über 7 Stunden und 40 Minuten eine Ohm-Meditation zu machen. Meditiert hatte ich früher oft, jedoch immer in Stille und maximal für eine Stunde. Mehr als siebeneinhalb Stunden kamen mir daher nun unendlich lang vor und doch hatte ich das Gefühl, dass es eine Übung war, die mich weiterbringen konnte.

Um Heiko mit einem siebenstundenvierziglangen „Ohhhhmmmm“ nicht auf die Nerven zu gehen, suchte ich mir einen abseits gelegenen Raum im Obergeschoss des Gemeindezentrums und richtete mich hier für meine Meditation ein. Ich legte mir Decken, ein Glas Wasser und für den Fall der Fälle auch einen Uri-Bag zurecht, zog die Vorhänge zu und dimmte das Licht auf eine angenehme Helligkeit. Dann streckte ich mich zehn Mal beim Einatmen mit beiden Händen zum Himmel und ließ mich beim Ausatmen mit dem Oberkörper in Richtung Boden fallen. Dabei versuchte ich mich jedes Mal mit der Energie des Kosmos, bzw. von Mutter Erde zu verbinden. Schließlich schüttelte ich meinen ganzen Körper 157 mal aus. Warum gerade 157 mal weiß ich nicht, aber aus irgendeinem Grund soll dies besonders Kraftvoll sein.

 

Für die Meditation selbst setzte ich mich auf die Decken in den Schneidersitz, formte mit Daumen und Zeigefinger beider Hände einen Kreis und legte die Hände auf die Knie, so wie man es auch von vielen Buddhastatuen kennt. Dann begann ich zu Tönen. Ommmmmmmmmmm Oooooooooooommmmm Huuuuummmmmmmmmm

Die ersten Male fühlte es sich seltsam an. Dann wurde der Klang immer Kraftvoller und schließlich hatte ich sogar das Gefühl, als wäre es nicht mehr meine eigene Stimme, die da aus meinem Hals kam, sondern etwas viel tieferes, kraftvolleres. So, als wäre ich nur ein Kanal, für eine höhere Macht. Das klingt jetzt vielleicht ein wenig hochtrabend und esoterisch, aber es war ein ziemlich cooles Gefühl. Die Vibrationen teilweise sogar in meinen Händen spürbar. Auffällig war jedoch, dass in diesem kraftvollen Ton immer auch eine Art Hüpfer oder Fehlklänge waren. Es klang ein bisschen so, wie wenn eine Vitrine zu Nahe an einer Bassbox steht und bei bestimmten Tonfrequenzen in Resonanz geht und mitschwingt. Es war eine Art Klirren oder Zittern in meiner Stimme, gegen das ich nichts machen konnte. Ich vermutete, dass dies vielleicht ein Hinweis auf die Blockaden war, die ich auch auf stimmlicher Ebene in mir trug, aber genau sagen kann ich es nicht. Spannend war jedoch, durch das Tönen zum ersten Mal für eine längere Zeit Ruhe in meinen Gedankenstrom im Kopf einkehrte. Solange ich beim Ausatmen das Ohmmm ausstieß, existierte nur dies und wenn ich einatmete, war es sogar ganz still. Abgesehen vom Regen, der draußen an die Fenster prasselte.

 

Irgendwann jedoch spürte ich, wie die Kraft aus meiner Stimme wieder verloren ging. Plötzlich vibrierte überhaupt nichts mehr und mein „Ooohhhhhmmmm“ klang nur noch wie ein rostiges Krächzen. Ich hatte die Verbindung wieder verloren. Egal ob es nun die Verbindung zu etwas höheren oder einfach zu meiner eigenen Kraft war, jetzt war es jedenfalls weg. Ich versuchte ein wenig mit der Tonhöhe zu spielen, variierte meinen Töngesang zwischen Ooooo und Mhhhhhhhh und versuchte es mal lauter und mal leiser. Aber nichts wollte funktionieren. Es war einfach weg. Sofort spürte ich, wie ich traurig wurde und wie eine Hoffnungslosigkeit und eine Verzweiflung in mir aufkam. Alles drei waren keine Gefühle, die auftauchten, weil ich gerade meine Stimme nicht fand. Sie saßen tiefer und durch das Tönen wurden sie nun an die Oberfläche geholt. Ich wollte weinen, konnte es aber nicht und verkrampfte dabei nur mein Gesicht, so als hätte ich Verstopfungen. Einen Moment lang konnte ich die Trauer unterdrücken, dann kam sie wieder durch und erneut machte ich ein Gesicht wie beim Kacken, ohne dass die Tränen fließen konnten. „Verdammte Scheiße nochmal!“ schnauzte ich mich innerlich an, „es kann doch wohl nicht so schwer sein, einfach mal loszuheulen, wenn die danach ist! Du kannst doch nicht sogar dann noch deine Gefühle unterdrücken, wenn du mit dir alleine in einem Raum bist!“

 

Die Wut über meine eigene Gefühlskälte flammte auf und loderte nun immer stärker, bis sie in Hass umschlug. Wie damals in Bujor schlug ich auf mich ein und prügelte mit meinen Fäusten gegen meinen Kopf und meine Brust. Es half. Plötzlich liefen mir die Tränen in Strömen vom Gesicht und Heulte und Schluchzte los. Es war viel Einsamkeitsgefühl dabei, viel Trauer über die vielen losgelassenen Beziehungen und das Gefühl, dass diese nie wirklich existiert hatten. Enttäuschung, Zorn, Wut und Ärger spielten mit hinein, teilweise auch Verzweiflung, vor allem aber Trauer. Ich heulte wie ein Schlosshund, bis mir der Rotz literweise aus der Nase lief. Ungünstigerweise hatte ich bei meiner Vorbereitung auf die Meditation nicht daran gedacht, mir Taschentücher hinzulegen und so brachte mich das Problem der laufenden Nase nun doch schon wieder aus dem Fühlen ins Denken.

 

„Verdammt! Du kannst hier nicht alles voll sabbern! Du brauchst irgendetwas zum hinein rotzen! Schnell, such dir was!“ rief mir meine Vernunft-Stimme zu. Mein erster Impuls war mein Halstuch, aber dann dachte ich daran, wie schwer es werden würde, es hinterher mit der Hand wieder sauber zu waschen. Ein absolut zielführender Gedanke in so einem Moment! Ich schaute mich im Raum um und entdeckte schließlich in einem Regal ein paar Servierten. Topp! Das dürfte helfen!

 

Als ich mich wieder hinsetzte, war meine Nase frei, meine Gefühlswelt aber auch. Alles war wie weggeblasen. Eine Weile was das Ohm noch kläglich, dann wurde es wieder kraftvoller und schließlich erreichte es wieder die ursprüngliche Intensität. Ich begann ein wenig herum zu experimentieren und stellte fest, dass es mit dem Stimmvolumen recht ähnlich war, wie mit dem Muskeltest. Es funktionierte nicht so präzise und eindeutig, aber die Grundtendenz war die gleiche. Dachte ich an etwas, das mir Kraft raubte, mich unangenehm beschäftigte oder mich schwächte, versagte meine Stimme kurz darauf. Dachte ich an etwas positives, angenehmes, wurde sie hingegen kräftiger. Auch die Stimme wird durch Muskeln hervorgerufen und auch hier funktioniert das muskuläre Gedächtnis offenbar genauso.

 

Während dieser Gedankenexperimente blieb ich schließlich bei einem Thema hängen, das mich wieder in Wut versetzte, dieses Mal jedoch nicht auf mich selbst, sondern nach außen. Gerade in den letzten Tagen hatte ich viele Mails und Kommentare mit verschiedensten Beleidigungen und Angriffen bekommen. Keine konstruktive Kritik, sondern einfach plumpe Beleidigungen, die keinen anderen Zweck hatten, als verletzen zu wollen. Mein Ego sagte mir stets, dass ich darüber stehen sollte und dass mir solche Dinge nichts anhaben konnten. Aber das stimmte natürlich nicht. Innerlich regte es mich tierisch auf und nun wo ich hier in der Meditation saß, verfasste ich im Kopf eine Hassmail nach der nächsten um diesen feigen, namenlosen Angreifern ordentlich meine Meinung zu sagen. Gleichzeitig merkte ich aber auch, dass ich dabei vor allem gegen mich selbst kämpfte.

 

Die Welt ist und bleibt ein Spiegel unserer eigenen Überzeugungen, das wurde durch nichts deutlicher als durch diese Beleidigungsmails. Niemand konnte mir etwas schreiben, das ich mir zuvor nicht auch selbst schon an den Kopf geworfen hatte und nun wo ich im Geiste die Schläge nach außen verteilte, verteilte ich sie doch nur wieder an mich. Genau deshalb trafen mich die Angriffe natürlich auch wie eine Zielscheibe. Ich ging mit ihnen in Resonanz, weil es genau die Punkte waren, für die ich mich selbst verurteilte. Das Gefühl, nicht gut genug, ein Trottel und ein Depp zu sein, immer wieder alles falsch zu machen, nicht das geben und beitragen zu können, was ich wollte und so weiter. In gewisser Weise durchlebte ich nun auf medialem Wege noch einmal die Zeit in der Schule, in der ich mich selbst zum Mobbing-Opfer gemacht hatte. Ich hatte dieses Zeit immer so gut wie möglich verdrängt, weil es weh tat, sie sich anzusehen und zu erkennen, dass nicht die anderen die bösen waren, sondern dass ich jede Reaktion selbst provoziert hatte.

 

Vielleicht war es nun an der Zeit, auch dieses Kapitel meines Lebens noch einmal genauer zu beleuchten. All dies passierte in der ersten Stunde. Danach schaltete ich mehr oder weniger zurück in den Funktionieren-Modus. Immer wieder nickte ich ein oder fiel in einen Sekundenschlaf, aus dem ich dann wieder aufschreckte. Die Zeit wurde endlos und so arbeitete ich schließlich mit Tricks, damit sie doch irgendwie vorbei ging. Ich fand heraus, dass ich ein einzelnes Ohhhhhmmm etwa 30 Sekunden halten konnte und begann von nun an meine Atemzüge zu zählen. Bei 120 wusste ich, dass nun etwa eine Stunde um war. Mit der Zeit taten mir sämtliche Knochen im Körper weh und ich wurde immer hibbeliger und unruhiger. Nun war auch die Stille in meinem Kopf nicht mehr spürbar und selbst während dem Tönen kamen die Gedankenschleifen zurück. Ohm-Meditationen dauern, wenn man sie richtig macht, teilweise bis zu sieben Tagen an. Mit meinen gut 7 Stunden war ich auf jeden Fall schon einmal gut bedient. Auch die Ruhe auszuhalten braucht eine Menge Übung und da stehe ich definitiv noch am Anfang.

Spruch des Tages: Ooommmhhh!

Höhenmeter: 290 m Tagesetappe: 21 km Gesamtstrecke: 19.134,27 km Wetter: Bewölkt, 0-2°C, hin und wieder leichter Schneefall Etappenziel: Private Wohnung, 88250 Weingarten, Deutschland

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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