Tag 311: Paradoxe Nahrungssituation

von Heiko Gärtner
08.11.2014 20:51 Uhr

Wir hatten Glück! Die Hofherrin ließ uns noch eine ordentliche Weile in der Kälte stehen, ohne dass wir eine Antwort auf unsere Fragen bekamen. Dann aber bot sie uns an, gemeinsam eine Gemüsesuppe zu kochen. Das hörte sich in unseren Ohren großartig an und so trafen wir uns wenige Minuten später in ihrem Wohnzimmer. Mit ihr und ihrem Sohn warm zu werden war noch etwas schwieriger, als in unserem Wohnwagen warme Füße zu bekommen. Es war nicht unangenehm und es war auch nicht so, dass wir keinen Gesprächsstoff fanden, doch es blieb den ganzen Abend über sonderbar steif. So als hätten die beiden eine gläserne Wand um sich gezogen, die sie unantastbar machte. Auch der leichte Hauch des unheimlichen wollte nicht verschwinden. Im Gegenteil, je länger wir uns mit ihnen unterhielten, desto mehr bekamen wir das Gefühl, Gäste auf dem Schloss von Dracula zu sein.

Der Sohn, nennen wir ihn einmal Jakob, erzählte uns, dass er vor hatte, mit dem Rad ans Nordkapp zu fahren, wobei er sich die Reise mit Akkordeonspielen finanzieren. Das Akkordeon hatte er vor etwa vier Jahren für sich entdeckt. Damals hatte er in der Schule eine Schwindelattacke bekommen, die durch eine Störung seines Gleichgewichtssinns ausgelöst wurde. Ein Jahr lang konnte er die Schule deshalb nicht besuchen und in dieser Zeit lernte er das Akkordeon. Nachdem die Störung auskuriert war, kehrte er zur Schule zurück, doch es reichte ein einziger Sturz auf eine Weichbodenmatte im Sportunterricht, um ihn wieder außer Gefecht zu setzen. Er wurde ein weiteres Jahr krankgeschrieben und schließlich sogar ein drittes. Auf diese Weise wurde er ein guter Akkordeonspieler, der nun versucht, seinen Lebensunterhalt mit der Musik zu verdienen. Doch die Frage, wie es zu der Gleichgewichtsstörung kam, ist bis heute offen. Erstmalig wurde sie möglicherweise durch einen Unfall ausgelöst. Doch dieser fand bereits ein knappes Jahr vor dem Gleichgewichtsverlust statt. Wieso also zu diesem Zeitpunkt? Im Laufe des Abends fanden wir heraus, dass zu der Familie noch zwei weitere Kinder und ein Vater gehörten. Doch über sie wurde nicht geredet. Hier seien eben manchmal mehr und manchmal weniger Menschen. Das musste uns als Antwort genügen. Wieder schmeckte alles ein bisschen nach verscharrten Leichen im Keller und wir fragten nicht weiter nach. Auffällig war jedoch, wie naiv und weltfremd der Junge war. Nach dem Essen versuchte er einen Tee zu kochen, war dabei jedoch so unsicher, dass er mir fast leid tat. Er schien komplett in seiner eigenen Welt gefangen zu sein, die durch die Autorität seiner dominanten Mutter bestimmt wurde. "Schwindel" meinte Heiko später, "hat meist auf der psychologischen Ebene mit Schwindeln, also mit einer Scheinaufrichtigkeit zu tun. Ich hatte das Gefühl, dass unter der Oberfläche der heilen Biobauernhof-Welt viel im Argen liegt. Warum beispielsweise war es ihr immer wieder so wichtig, zu betonen, dass sie weltweit nahezu die einzigen waren, die so gesund anbauen? Dann aber bauen sie wiederum Wein und Getreide an, ohne dass sie selbst Wein trinken oder Nudeln essen. Und warum klagt sie die Erfindung der Wassertoiletten so arg an und hebt ihr Kompostklo in die Höhe, wenn sie dann selbst auch wieder nur das normale Klo im Haus benutzen. Das passt doch alles nicht zusammen. Die Ideen sind ja super, aber irgendetwas passt mit der Umsetzung nicht."

Auf seine Art setzte mir der Junge damit wieder einmal einen glasklaren Spiegel vor die Nase. Waren wir nicht gerade aufgrund meiner Naivität auf diesem Hof gelandet? Und hatte ich mich nicht deshalb für den Weg hierher entschieden, weil ich die Verantwortung komplett an Heiko abgegeben hatte? Mir war ja klar gewesen, dass er sich durch den Schmerz kaum konzentrieren konnte, und doch hatte ich geglaubt, dass die Entscheidung wohl gut sein würde, wenn er nicht protestierte. Ich machte sie von seiner Meinung abhängig anstatt mir eine eigene zu bilden.

'Kommt dir dieses Muster aus deinem Alltag irgendwie bekannt vor?' Fragte ich mich selbst.

Ja, kam es! Und zwar immer und immer wieder. Man kann es vielleicht geistige Faulheit nennen oder Naivität oder oft auch Dummheit. Irgendwie gelingt es mir immer wieder, in eine Art Marionettenbewusstsein zu rutschen und nach einem bestimmten Schema F zu funktionieren, ohne es zu hinterfragen. Was komisch ist, da ich sonst eigentlich alles hinterfrage, nur eben nicht meine eigenen Verhaltensweisen. So kam es beispielsweise, dass mein Wagen in den letzten Wochen immer zu eng gepackt war, so dass der Reißverschluss spannte. Dadurch kam es immer wieder vor, dass er beim Schließen herausrutschte, so dass die Tasche offen war, obwohl sie eigentlich hätte zu sein sollen. Die logische Reaktion wäre es gewesen, die Tasche umzupacken, dass sie nicht mehr spannt. Doch meine Reaktion war es, es immer wieder neu zu versuchen, ohne etwas zu ändern. Wenn es 100x nicht geklappt hatte, dann klappte es vielleicht beim 101. mal.

Doch was ich damit hauptsächlich erreichte war, den Reißverschluss immer empfindlicher zu machen, so dass er bei jedem mal noch leichter aus der Bahn rutschte. Wieso weigere ich mich im Moment nur so sehr dagegen, aus Fehlern zu lernen? Oder besser gesagt, warum weigere ich mich dagegen vorher nachzudenken, so dass ich die vermeidbaren Fehler gar nicht erst machen muss?

Am Morgen sahen wir den Hof dann noch einmal in einem anderen Licht. Bei Sonnenaufgang leuchtete er in bunten Herbstfarben. Beim Verlassen des Wohnwagens wurden wir bereits von den Hühnern, Pfauen und Gänsen begrüßt, die uns um die Füße wuselten.

Die Verabschiedung war kurz. Weder sie noch wir waren traurig, dass sich unsere Wege nun wieder trennten. Wir kehrten nun zurück nach Hombs, wo wir in einem Café auf eine lustige Rentnertruppe stießen, die uns zu einem Frühstückstee einlud. Es waren alte Freunde, die überall in Frankreich verstreut lebten. Einmal im Jahr trafen sie sich dann irgendwo im Land und verbrachten ein Wochenende zusammen. Dieses Mal hatten sie wirklich Glück, denn es war ein ehrlicher Herbsttag. Und wir hatten ebenfalls Glück, denn die fröhliche Runde unterstützte und mit insgesamt 30€ für die Reise.

Das einzige Problem war nur, dass es in dieser Gegend so gut wie keine Einkaufsmöglichkeiten gab. Also selbst wenn wir das Geld für Essen ausgeben wollten, dann hatten wir keine Möglichkeit dafür. Sechs Monate lang haben wir in Spanien und Portugal vom französischen Essen geträumt. Jetzt wo wir hier waren, mussten wir feststellen, dass Essen zu unserem größten Problem wurde. Einladungen, wie bei unserem ersten Besuch des Landes gab es nahezu keine. Und wenn dann stammten sie ironischer Weise meist nicht von Franzosen sondern von Österreichern, Schweizern oder Neuseeländern. Das beste Essen hatten wir bei Tom, dem neuseeländischen Pfarrer bekommen. Heute kamen wir dann wieder in einem kleinen Dorf an, in dem es nur einen Tante-Emma-Laden gab, der jedoch nur am Vormittag geöffnet hatte. Die einzige Möglichkeit an Nahrung zu kommen, bestand also darin, die Privathäuser abzuklappern. In Spanien war es uns dabei oft so gegangen, dass wir viele Absagen bekommen hatten, dann aber jemanden fanden, der uns gleich mit Lebensmitteln für ein ganzes Bataillon versorgte. Hier war es jedoch etwas anders. Viele Häuser standen leer, andere wurden nicht geöffnet. Einige Male fragte man mich durch die Tür, wer ich denn sei und als sie feststellten, dass ich niemand war, den sie kannten, verschwanden sie wieder ohne zu öffnen. Wieder andere öffneten, schlugen die Tür jedoch bereits bei den Worten "Guten Tag, ich möchte Sie etwas fragen..." wieder zu.

Wirklich spannend wurde es jedoch erst bei denen, die bereit waren, uns etwas zu geben. Würden wir uns noch immer von Zucker und Süßgebäck ernähren, so könnten wir wahrscheinlich nun kaum mehr laufen. Sobald wir jedoch sagten, dass wir keinen Zucker, keine Milch und keine Weizenprodukte aßen, sah es schlecht aus. Obst und Gemüse hatte kaum jemand. Allenfalls vielleicht einmal ein paar Äpfel. Auch in den Restaurants sah es ähnlich aus. Wenn man etwas ungesundes haben wollte, so war das kein Problem. Sobald man nach etwas gesundem fragte jedoch, standen die Menschen ratlos da und sagten schließlich komplett nein.

"Milch, Kaffee oder Süßigkeiten kann ich euch anbieten." Sagte eine Café-Betreiberin, "etwas anderes gibt es hier nicht!"

Wie konnte es passieren, dass es in einem Land, das für seine Gourmet-Küche bekannt war, niemand etwas gesundes zum Essen hatte. Es war auch nicht so, dass die Menschen kein Verständnis dafür hatten oder dass sie uns bewusst etwas verweigern wollten. Sie besaßen nur einfach nichts, das dem Körper nicht auf Dauer schadete. So verbrachte ich über 2 Stunden damit, ein Mittag- und Abendessen für uns zusammenzutragen. Für ein Mittagessen reichte es dann gerade. Für das Abendessen müssen wir auf die Hilfe der Spanierin bauen, dir uns zu sich eingeladen hat, damit wir ihren Internetzugang nutzen dürfen. Schon wieder schreit es vor Ironie, dass es nach allem was wir in Spanien erlebt haben ausgerechnet eine Spanierin ist, die uns den Abend rettet.

Für die Zukunft brauchen wir jedenfalls noch einmal eine andere Lösung. Je mehr wir uns mit dem Thema Ernährung beschäftigen, desto geringer wird die Zivilisationsnahrung, die wir essen wollen. Und gleichzeitig wird die Suche danach immer schwerer. Greifen wir also demnächst doch wieder auf Wildmischsalate zurück? Unsere inneren Gesundheitsapostel sind begeistert von dieser Idee, denn nichts ist heilsamer als Wildnahrung. Doch unsere inneren Gourmets können sich mit dieser Art der Ernährung noch gar nicht anfreunden. Für die Leber sind Bitterstoffe super, doch für den Gaumen sind sie mehr als nur gewöhnungsbedürftig.

Spruch des Tages:

Der Mensch hat drei Wege, klug zu handeln:

Erstens durch Nachdenken: das ist der edelste.

Zweitens durch Nachahmen: das ist der leichteste.

Drittens durch Erfahrung: das ist der bitterste.

(Konfuzius)

 

 

Höhenmeter: 10m

Tagesetappe: 11 km

Gesamtstrecke: 5999,37 km

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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