Warum bin ich ein unproduktiver Zombie?

von Heiko Gärtner
27.05.2017 20:35 Uhr

05.04.2017

Wir sind heute mal wieder auf einige sehr wichtige und spannende Schlüsselpunkte gestoßen. Vor allem deshalb, weil ich mich wie so oft als erstklassiges Beispiel präsentiert habe, wie man es am besten nicht machen sollte.

Seit einigen Wochen spüre ich, dass mein Zeitmangel immer extremer wird. Ich bin so unproduktiv wie noch nie in meinem Leben, oder besser gesagt: Ich spüre meine Unproduktivität stärker als ich sie je zuvor gespürt habe. Ich fühle mich wie ein Zombie, der komplett apatisch und ziellos durchs Leben spukt und weder einen Bezug zu sich selbst, noch zu sonst irgendjemand anderem mehr hat. Ich kann mich für nichts begeistern, habe keine Ahnung, wer ich bin oder was ich eigentlich will, fühle nichts, nehme nichts wahr und kann auch nichts erschaffen. Oft sitze ich stundenlang vor dem Computer und habe am Ende vielleicht eine halbe Seite zu Papier gebracht. Die letzte Nacht habe ich gerade einmal zweieinhalb Stunden geschlafen, weil ich nachdem Heiko zu Bett gegangen war mit seinem Computer noch ein paar Designentwürfe und Bilder für die Erlebnisgeschenkeseite an unseren Programmierer schicken wollte.

Effektive Arbeitszeit wenn man es richtig angegangen wäre, vielleicht eine gute halbe Stunde. Als flinker Arbeiter denke ich, wäre es in 20 Minuten möglich gewesen. Ich habe jedoch bis um 5:30 Uhr in der Früh daran gesessen und dann aufgehört, ohne alle Daten versendet zu haben. Wenn ihr mich fragt, was ich in den fünfeinhalb Stunden gemacht habe, muss ich sagen: Ich habe keine Ahnung! Ich habe immer wieder etwas gemacht, dann war ich wie auf Standby, habe auf die Uhr geschaut und es waren 20, 30 oder 40 Minuten vergangen, die in meiner Wahrnehmung nicht vorgekommen waren. Die letzten Tage war es teilweise noch schlimmer. Eine eMail, die ich an Quentin in England schreiben wollte und die nicht mehr beinhaltete, als unsere voraussichtliche Ankunft, dauerte eine gute halbe Stunde. Eine andere Nacht habe ich mit der Bearbeitung von Bildern verbracht. Ich war mir sogar sicher, dass ich relativ effektiv war, doch als ich mir mein Werk am Ende einmal angeschaut habe, musste ich feststellen, dass ich gerade einmal 9 Bilder geschafft hatte. 9 Stück. Selbst ich schaffte normalerweise in der gleichen Zeit 60 bis 100.

Ihr könnt euch sicher denken, dass ich damit nicht unbedingt zur guten Stimmung und zur allgemeinen Zufriedenheit beitrage. Weder bei mir noch bei Heiko. Bei mir kommt ein permanentes Gefühl von Überforderung, Verzweiflung, gestresst Sein und Unzufriedenheit auf. Ich merke immer wieder, wie ich mich selbst ankotze und mich über mich ärgere, weil ich einfach permanent auf der Stelle trete. Mit meiner Selbstliebe ist es also gerade wieder einmal nicht allzu weit her. Von Heiko spüre ich, dass er tatsächlich sogar weit mehr Verständnis für mein Rumdümpeln aufbringen kann als ich selbst, wenngleich es ihn natürlich auch annervt. Vor allem, da wir gerade wieder in der heißen Phase eines Projektes sind, also in der Phase in der er sich am meisten auf mich verlassen können muss. Und genau jetzt bin ich wieder dabei und schaffe es, sogar die einfachsten Aufgaben noch zu verbocken. Jedenfalls wenn ich es schaffe, sie überhaupt zu machen.

Heute habe ich es dann noch einmal auf die Spitze getrieben und mich im Telefonat mit einem Bürgermeister wieder einmal wie der letzte Vollidiot verhalten. Wir haben es danach einmal hochgerechnet. Pro Tag spreche ich nun seit über 1000 Tagen im Schnitt mit mindestens vier oder fünf Leuten, denen ich immer wieder den gleichen Sachverhalt erkläre, wobei es immer nur darum geht, herauszufinden, was der andere braucht um uns vertrauen und mit Freude unterstützen zu können. Ich habe meine Ansprache also nun bereits 5500 Mal trainiert und trotzdem mache ich noch immer die gleichen Fehler wie am ersten Tag. Ich vergesse immer wieder den Fokus zu übermitteln, dem anderen aufzuzeigen, warum es eine gute Sache ist, uns gerade jetzt in diesem Moment zu unterstützen. Ich leiere meinen Satz runter wie ein Tonbandgerät, ohne auch nur im geringsten auf den anderen einzugehen oder zu achten. Die Frage ist nur warum?

Hier wurde mir mein Zombie-Zustand noch einmal besonders klar. Ich habe nicht das Gefühl, als wäre ich ein Mensch, der mit einem anderen Menschen spricht. Ich habe in den Gesprächen keinerlei Bezug zu mir oder zum anderen. So wie jeder Mensch für Heiko ein offenes Buch ist, in dem er lesen kann, sind die Menschen für mich Bücher mit sieben Siegeln, die sich mir einfach nicht erschließen wollen. Ich weiß nicht was sie denken, fühlen oder brauchen und ich kann sie in den Gesprächen nicht einmal richtig sehen. Präsent ist nur der Satz den ich gerade sage, wobei ich mich ein bisschen wie bei einem Vortrag fühle, den ich auswendig gelernt habe und nun runterbeten muss. Sobald auch nur die leiseste Irritation kommt funktioniert es nicht mehr. Heute machte mir der Bürgermeister gleich zu Beginn klar, dass er keine Zeit habe um groß mit mir zu telefonieren und dass er nicht verstehe, warum ich ihn überhaupt anrief. Das reichte aus, um mich in Stress zu versetzen, so dass ich nur noch stammelte und alle wichtigen Informationen weg ließ. Meien Botschaft am Ende lautete in etwa: „Wir sind zwei Pilger die keinen Bock auf arbeiten haben und sich deswegen durchs Leben schnorren. Darum brauchen wir einen Platz der nichts kostet und das am Besten sofort!“ Wie hätte er da ja sagen wollen? Tatsächlich war die Situation aber wichtig, um das Thema auf den Tisch zu bringen und um mich dazu zu bringen, mich der ganzen Sache endlich einmal zu stellen.

Die zentrale Frage lautete: „Warum fühle und verhalte ich mich wie ein Zombie? Warum habe ich wieder all meine Gefühle versteckt, so dass ich wieder rein eine Illusionserscheinung bin und nicht im geringsten lebe? Die Antwort war natürlich weitaus naheliegender als ich mir eingestehen wollte. Es sind jetzt noch etwa zwei Wochen bis zu meinem Branding-Ritual in Großbritannien und ich habe so viel Schiss davor, dass ich mit jedes Mal ins Hemd mache, wenn ich nur daran denke. Aber nicht nur das. Ich habe so viel Angst, dass ich mir nicht mal meine Angst eingestehen kann. Ich habe Angst davor, Angst zu haben. Heiko hat es ganz gut beschrieben, als er meinte: „Vom Zehner zu springen ist nicht das Problem. Jeder Depp kann einen Fuß nach vorne setzen und ins Wasser fallen. Das schwierige ist es, den Turm hinaufzuklettern und vom Podest aus nach vorne zu gehen, in dem Wissen, dass man springen wird. Diese Phase bewusst zu erleben ist die Herausforderung.“ Und genau deshalb bin ich gerade wieder wie tot. Mir ist klar, dass es keine Option ist, den Turm nicht hinaufzuklettern und nicht zu springen. Mir ist klar, dass ich nicht einfach umdrehen und weglaufen kann, also nutze ich wie immer meine Strategie des Totstellens. Ich friere ein, töte alles in mir ab und klettere auf den Turm als wäre es jemand anders, dem ich nur dabei zusehe. Wenn ich ohne jedes Gefühl bin, brauche ich mich auch nicht zu fürchten.

Aber die Angst ist da und sie ist berechtigt und wichtig, denn sie ist ja aus einem bestimmten Grund da. Als Heiko mich danach fragte, kamen mir sofort die Tränen und ich musste Schlucken. „Hohe emotionale Regung“ wie er immer so schön sagt. Dieses mal musste er nichts sagen, ich wusste auch so, dass wir hier einen Kernpunkt getroffen hatten. Wovor aber hatte ich nun genau Angst? Zum einen vor dem Schmerz. Zwei Stunden wird das Branding in etwa dauern und in der Zeit wird der Schmerz, den es verursacht laut Tätowierer „Pretty intence“ also sehr intensiv sein. Halte ich das wirklich durch? Werde ich dabei nicht vollkommen austicken? Werde ich die ganze Zeit durch heulen? Ich weiß, was ein paar Brennnesseln für Gefühle in mir ausgelöst haben, weil ich dachte, ich kann es nicht durchstehen. Wie soll es dann erst bei so etwas werden? Aber das ist nur der eine Teil. Der zweite und weitaus größere, ist die Angst davor, kaputt zu gehen. Wenn die Prozedur vorbei ist, habe ich ein Branding auf der Haut, das nie wieder weggehen wird. Es ist ein widerrufbarer Schritt und wie damals beim Haare-Ausreißen fühlt es sich so an, als würde ich dabei sterben. Der Witz ist ja, dass es genau darum geht. Es ist ja ein Ritual, bei dem Tobias in mir sterben soll, damit Franz endlich leben kann. Aber genau das fällt mir schwer. Davor habe ich solche Angst.

Ich habe noch immer das Gefühl, dass ich an mir nichts verändern darf. Früher in der Schule war es schon so, dass ich vor jeder noch so kleinen Veränderung Angst hatte. Neue Schuhe? Was war, wenn es jemand merkte und mich dafür verurteilte oder sich über mich lustig machte? Wenn ich genau überlege, fällt mir auf, dass das Problem nicht war, dass ich nichts Neues wollte, sondern das klar war, dass meine Mutter zu 100 % über mein Aussehen bestimmen konnte. Jedes Kleidungsstück wurde von ihr ausgesucht oder musste zumindest von ihr abgesegnet werden. Wenn irgendetwas für sie nicht passte, kam es nicht infrage. Allein Hosen mit etwas Schlag, die bis über die Schuhe reichten, waren schon zu viel. Sie musste mir nichts davon verbieten, es reichte, wenn sie erwähnte, dass es ihr nicht gefiel. Auf diese Weise hat sie einen braven, höflicher vorzeige Tobias erschaffen, an dem niemand Anstoß nehmen konnte. Jemand, den man als Eltern stolz präsentieren konnte und wo jeder sagt: „Oh, das hast du aber gut hinbekommen!“

Fortsetzung folgt...

Spruch des Tages: Ein Zombie zu sein ist auf Dauer auch keine Lösung...

Höhenmeter: 150 m Tagesetappe: 24 km Gesamtstrecke: 21.844,27 km Wetter: Sonnig und relativ warm Etappenziel: Privates Gästehaus, 62870 Maintenay, Frankreich

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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