Tag 1237: Eingesperrt wie Tiere im Zoo

von Heiko Gärtner
12.09.2017 04:01 Uhr

24.05.2017

„Es ist schwer, sich in einem Land wie diesem frei zu fühlen!“ hatte vor zwei Tagen der Barmann gesagt, der uns auf eines unserer besten Frühstücks unserer Reise eingeladen hat. „Wohin man auch sieht, gibt es gier Grenzen und Zäune. Alles ist parzelliert und eingesperrt. Alles geordnet und bestimmt.“

Ein Land mit mehr Zäunen als Bäumen

Der Mann hatte Recht! Genau dies war uns auch schon seit einigen Tagen im Kopf herumgegangen. Als wir England erreichten, hatten wir zunächst das Gefühl, in einem wilden, unberührten und sehr naturbelassenen Land zu sein. Überall gab es alte, knorrige Bäume, saftig grüne Wiesen und weite Waldflächen. Doch je länger wir uns nun bereits hier aufhalten, desto mehr wird klar, dass der Schein dahinter trügt. Es gibt in ganz England und Wales offenbar keinen Quadratzentimeter, der nicht irgendjemandem gehört und der nicht von einer Hecke oder einem Zaun umgeben ist. Das, was auf den ersten Blick wie eine weite, freie Wildnis aussieht, ist in Wirklichkeit eine Aneinanderreihung von privaten Kleingärten, die sich alle gegeneinander abgrenzen. Das Land ist also im wahrsten Sinne des Wortes kleinkariert, da man es tatsächlich in lauter kleine Karos eingeteilt hat. Gestern haben wir sogar einen Mann gesehen, der auf seinem Feld (nicht in seinem Garten) fein säuberlich mit einem Spatelmesser alle Disteln ausgegraben hat. Ihr könnt euch sicher vorstellen, wie dann die Gärten aussehen! Spannend ist dabei, dass mit dieser Lösung eigentlich niemand zufrieden ist, da sich jeder eingesperrt und unfrei damit fühlt.

Nur die kleinen Tiere sind frei

Die einzigen, die hier wirklich noch frei leben können, sind jene Tiere, die entweder fliegen können, oder die zu klein sind, um sich von Zäunen aufhalten zu lassen. Und diese Wesen zu beobachten ist mit das schönste, was man hier tun kann. Vor allem die Milane bei ihren Flugkunststücken zu verfolgen, wie sie mühelos über den Himmel gleiten und mit dem Wind spielen, wie Künstler mit ihren Farben. Und die Eichhörnchen. Über diese kleinen quirligen Wesen freut man sich immer wieder. Es ist einfach faszinierend zu sehen, dass wir im Normalfall nicht einmal eine Idee davon haben, wie ausgefeilt die Charakterzüge unserer vierbeinigen Zeitgenossen sind. Wir glauben immer, dass Tiere einfach instinktgesteuerte Kreaturen ohne Gefühle, Persönlichkeit und Individualität sind. Aber falscher könnte man gar nicht liegen. In den letzten Wochen haben wir bei Schafen, Eichhörnchen, Kaninchen, Rabenkrähen und Milanen mehr unterschiedliche Charaktere angetroffen, als bei Menschen. Und heute war ein ganz besonderes Exemplar dabei. Ein kleines, graues Eichhörnchen hatte es sich auf einem Zaun bequem gemacht um die ersten echten Sonnentage zu genießen. Dabei hatte es sich allen Ernstes, mit dem Bauch auch die Zaunplanke gelegt und ließ Arme und Beine auf beiden Seiten nach unten baumeln. Den Kopf hatte es etwas seitlich gelegt und der Schwanz ruhte auf der Zaunplanke. Leider sprang er sofort auf, als er unsere Anwesenheit bemerkte, so dass wir kein Foto machen konnten.

Die Angst vor Fremden ist permanent spürbar

Nach dem Bombenattantat im 100km entfernten Manchester waren die Menschen hier noch etwas verschlossener, als sie es ohnehin schon waren. Wir hatten Wales nun wieder verlassen und waren aus den Bergen zurück in die Flachebene gelangt. Sofort änderte sich wieder alles. Die Freundlichkeit sank ins Bodenlose, die sagenumwobene Spießigkeit wurde präsentiert wie nie zuvor und alles wurde plötzlich ein Problem. Um in einer kalten, verfallenen Steinkirche schlafen zu dürfen müsste hier erst einmal ein kompletter Rat des Kirchenvorstandes einberufen werden. Und selbst dann würde am Ende wohl ein „Nein“ herauskommen. Mit der Begründung: „Das haben wir doch noch nie gemacht?“

Letztlich kamen wir dann für heute in einem Nonnenkloster unter, in dem es keine einzige englische Nonne gab. Vier Damen kamen von den Philippinen, zwei stammten aus Irland. Wenn man freundliche Menschen von so weit weg einführen muss, damit man sie hier finden kann, sollten wir schnellstens aus dieser Region verschwinden. Doch uns war ja auch klar gewesen, dass wir hier der größten Herausforderung gegenüber stehen würden. Vor uns lag das dichtbesiedelste Gebiet Großbritanniens außerhalb von London. Und wir mussten irgendwie hindurch.

 

 

Spruch des Tages: Es ist schwer, sich in einem Land frei zu fühlen, in dem man permanent von Zäunen umgeben ist! (Spruch eines Barmanns)

Höhenmeter: 540 m

Tagesetappe: 14 km

Gesamtstrecke: 22.641,27 km

Wetter: warm und sonnig

Etappenziel: Gemeinderaum der Kirche, SY10 9DJ Trefonen, England

  Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!
Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare