Den Medizinkörper annehmen

von Heiko Gärtner
28.05.2017 21:12 Uhr

07.04.2017

Wir haben in den letzten Wochen ja immer mal wieder erwähnt, dass die Franzosen irgendeinen Wahn in Bezug auf Lüftungsanlagen haben. Vor drei Jahren ist uns das noch nicht aufgefallen, aber heute gibt es so gut wie keinen Raum mehr, in dem nicht ein Lüfter in die Decke integriert wurde, der permanent rauscht und surrt und außerdem dafür sorgt, dass der Raum kalt wird. Teilweise haben wir diese Teile mit Toilettenpapier ausgestopft, teilweise haben wir die Sicherungen ausgedreht und teilweise mussten wir einfach akzeptieren, dass es nicht ohne ein permanentes Hintergrundrauschen geht. Warum diese Lüfter verbaut werden ist uns noch immer ein Rätsel. Sie hängen in jedem Raum, nicht nur in Toiletten oder Räumen ohne Fenster. Sogar in der kleinen Urlaubspension, in der wir vor ein paar Tagen übernachten durften gab es einen solchen Lüfter. Da zahlte man wirklich als normaler Tourist 50 bis 120 Euro pro Nacht, um dann einen Raum zu bekommen, der permanent brummt und rauscht, so dass man niemals zur Ruhe kommen kann. Ist das nicht absurd? Es gibt fast nie einen Grund, warum man nicht einfach lüften sollte und in Anbetracht der Lautstärker dieser Ventilatoren scheidet Straßenlärm als Begründung wohl aus.

Inzwischen ist uns auch aufgefallen, dass die Lüfter keinen Luftaustausch verursachen, wie wir erst angenommen haben, sondern einen Sog. Sie sorgen einfach dafür, dass die Luft im Raum nach draußen gesogen wird. Auf diese Weise macht das ganze System für mich gleich noch weniger Sinn. Selbst wenn die Belüftung in einem Raum nun schlecht ist, sorgt das doch nur dazu, dass man den Sauerstoff, der vielleicht in zu geringen Mengen vorhanden ist, noch etwas schneller entfernt. Dabei saugt man die warme Luft aus den Heizungen gleich mit weg und sorgt gleichzeitig dafür, dass ein Kamin-Effekt entsteht, falls irgendwo ein Feuer ausbrechen sollte. Ich muss ganz ehrlich sagen, die Vorteile erschließen sich mir jetzt noch nicht so ganz. Von allen Lüftungsanlagen dieser Art haben wir heute jedoch mit Abstand das großartigste gesehen. Wir bekamen eine Unterkunft in einem Aufenthalts- und Veranstaltungssaal neben dem Sportplatz, der für Einrichtungen dieser Art erstaunlich gepflegt und sauber war. Nur hinter dem Herd sammelte sich eine dicke Schicht aus Staub, Fett und Essensresten an, aber das man hier sauber machte konnte ja auch keiner verlangen.

Zu dem Saal gehörte auch eine Toilette, die sich jedoch in einem Außenbereich befand. Sie war zwar im Gebäude, aber in einer Art Vorraum, den man nur mit einem Stahlgitter verschließen konnte. Er war also in etwa so verschlossen wie eine handelsübliche Bushaltestelle und trotzdem gab es hier einen Lüfter. Er sog die Luft der Außenwelt durch das Gitter nach oben, um es dann gleich wieder nach draußen zu pusten. Das war mal effizientes Arbeiten.

Bis wir unser Station erreichten wanderten wir genau wie die letzten Tage durch ein ewig weites Hügelland, das fast nur aus Feldern bestand. Sehenswertes gibt es hier kaum noch, wenngleich uns hin und wieder Kaninchen oder kleine Küken über den Weg laufen. Dennoch sind es im Moment wieder vor allem die inneren Themen, die präsent sind. Mit jedem Schritt, den wir uns der Küste und damit der Fähre nähern, nähern wir uns auch meinem Ritual-Termin in Worthing. Ich selbst merke, wie ich diesem Thema immer wieder gerne aus dem weg gehe, weil noch immer einiges an Angst in mir ist, die ich gerne verdrängen möchte. Zum Glück ist Heiko kein Freund davon, Dinge unter den Tisch fallen zu lassen und wenn er merkt, dass ich ausweiche oder mich bewusst mit allem anderen außer diesem auseinander setze, dann hakt er mit ganz besonderem Elan nach. Zunächst war es mir auch heute wieder unangenehm, aber nach einem kurzen Moment wurde mir klar, wie wichtig es ist, dass ich hier mit einer echten Präsenz, mit einem Fokus und auch mit einer ganzen Entscheidung drauf zu gehe, die ich aus voller Überzeugung treffe und nicht aus der Idee, etwas altes loswerden zu wollen.

Auf der einen Seite ist da natürlich die Angst in mir, die das Ritual am liebsten bis in alle Ewigkeit nach hinten verdrängen will. Auf der anderen Seite gibt es aber auch die Hoffnung, dass ich damit all die Dinge loslassen und ablegen kann, die ich an mir selbst nicht mag und die mir in den letzten Monaten immer präsenter geworden sind. Doch gerade diese Hoffnung ist gefährlich, da sie ein reines „Dagegen“ ist. Es ist ein Hinfiebern darauf, etwas zu besiegen oder zu vernichten, das ich als negativ empfinde und das kann niemals gut gehen. Einen Erfolg kann es nur dann bringen, wenn ich mit Freude dabei bin anstatt mit Hass und Ablehnung, wenn ich auf etwas Neues zustrebe und den Fokus auf das wachsen und auf das Geschenk lege, das in dem Ritual enthalten ist. Die Kraftsymbole und das Medizinrad, das in Form der Narben auf meiner Brust entstehen und so einen der schwächsten Punkte meines Körpers schützen wird, ist ein Teil meines Medizin-Ichs, das ich immer stärker annehme und von dem ich immer mehr entdecke und freilege. Darin liegt seine Kraft. Nicht darin, voller Hass und Selbstverurteilung alles alte aus mir verbannen zu wollen.

Wieder kam die Frage auf, wovor ich im Zusammenhang mit dem Branding eigentlich Angst habe? Warum jagt es mir eine Gänsehaut über den Rücken und warum versuche ich, irgendwie davor wegzulaufen? Die präsenteste Angst war die, dass ich mit den rituellen Narben auf de Brust nicht mehr zur Gesellschaft dazu gehören kann. Ich würde komisch angesehen und letztlich ausgestoßen werden, weil ich nicht mehr der Norm entspreche. Dies ist ja immer meine größte Angst: Nicht mehr gemocht zu werden, weil die Leute mich komisch finden. Jetzt, wo ich die Angst zuließ und mich mit ihr auseinander setzte wurde mir jedoch bewusst, dass sie vollkommen unbegründet war. Nicht weil es nicht genau so kommen konnte, sondern weil es schon längst genauso war. Ich war wie ein Kind, das angst hatte hinzufallen, obwohl es längst am Boden saß. Ich bin ein heimatloser Wanderer in einer grauen Mönchsrobe, der mit einem vollbepackten Pilgerwagen durch die Lande zieht, der jeden Kontakt zu Familie und früheren Freunden abgebrochen hat und der komische Ansichten über die Surrealität des Lebens und des Universums vertritt. Wie sollte ich also noch weiter aus der Gesellschaft fallen? Ein Branding auf der Brust, das zu 98% der Zeit von meiner Robe verdeckt wird, wird da kaum einen Unterschied machen. Vor allem, wo es in den restlichen 2% fast ausschließlich Heiko und Shania sein werden, die mich sehen und bei ihnen brauche ich keine Angst vor der Reaktion haben.

Es ging also weniger um die reale Reaktion von Außen, als viel mehr darum, dass mir nun bewusst wurde, dass meine Lieblingsstrategie des Anpassens und Verbiegens immer schlechter funktionierte. Ich hasste es zwar, dass ich dies immer wieder tat, aber es gab mir auch eine gewisse Sicherheit, stets darauf zurückgreifen zu können. Wenn ich nicht weiter weiß, dann muss ich mich nur verbiegen und verdrehen, um so zu sein, wie andere mich haben wollen und schon kann ich gefallen und dazugehören, wodurch ich erst einmal wieder versorgt bin. Diese Strategie funktioniert nun nicht mehr. Ich bin wer ich bin und muss dazu stehen, selbst wenn es mir schwer fällt. Auch dann, wenn andere mich schrecklich finden, hassen oder verachten. Dies bedeutet, dass ich nun auch beginnen muss, meinen Selbstwert aus mir heraus zu bemessen und ihn nicht mehr von der Reaktion anderer ableiten kann. Meine aktuelle Idee zu diesem Thema ist: „Wenn mich jemand mag, bin ich richtig, wenn jemand sauer auf mich ist, mich hasst oder ablehnt, habe ich etwas falsch gemacht!“ Das mag funktionieren, solange man ein Lemming-Leben führt, aber um das eigene Selbst zu finden ist es ganz und gar nicht hilfreich. Genau darin liegt ja auch die Kraft, die das Branding für mich hat. Es schubst mich in einen Bereich, der wichtig für mich ist, in den ich aber alleine nicht gehen würde. Dass dies mit Angst verbunden ist zeigt ja nur, wie wichtig dieser Schritt ist. „Wäre es leichter für dich, zu dem Branding und zu deinem Medizinkörper zu stehen, wenn du in einem Naturvolk leben würdest und nicht in unserer Gesellschaft?“ fragte Heiko.

Ich überlegte einen Moment und spürte, dass es tatsächlich genau so war. Es wäre um einiges leichter. Warum? Weil es dort normal wäre, seinem Medizinkörper Ausdruck zu verleihen und verschiedene Rituale zu durchlaufen um die eigene Kraft zu entfalten. In einer Kultur, in der beispielsweise ein Sonnentanz zum Erwachsenwerden dazu gehört, wird man kaum dafür verurteilt werden, seinen Körper mit Schutzsymbolen zu verzieren, die einem vom eigenen, höheren Selbst vorgegeben werden. Jeder weiß, dass diese Dinge eine Bedeutung haben und dass sie zum eigenen Entwicklungsprozess dazu gehören, also gibt es auch keine Verurteilungen. Warum also mache ich mir solche Gedanken darüber, was die Menschen in unserem Kulturkreis denken? Geht es vielleicht darum, dass auch ein Teil von mir noch immer der gleichen Ansicht war? Ein Teil, der weit mehr in der Zivilisation als in der Natur verankert war? Ein Teil, der mich dafür ablehnte, diesen Schritt gehen zu wollen und der mir einredete, mich damit selbst zu entstellen?

Ja, diesen Teil gab es natürlich und er flackerte immer wieder mit voller Kraft in mir auf. Auf der anderen Seite entstand aber auch immer öfter das Bild eines Medizinmannes in mir, eines Magiers, der mit den Energien des Universums arbeiten und in allen Welten leben konnte. Irgendwo unter allen Ängsten spürte ich immer mehr, dass das ich bin. Das Branding anzunehmen und als Geschenk zu empfinden bedeutete also, zu erkennen, dass es mein Prachtkleid ist, ähnlich wie das Prachtkleid eines Vogels. Es ist mein Medizinkörper, der so zu 100% zu mir gehört und einfach sein darf. Es muss nicht gut aussehen oder irgendemandem gefallen. Er muss Ich sein.

Noch einmal wurde mir bewusst, dass ich bislang fast mein ganzes Leben nur unbewusst gelebt und erlebt hatte. Ohne Präsenz. Ohne Aufmerksamkeit. Es war stets eine Matrix gewesen, ein Film den ich an mir hatte vorbeilaufen sehen. Aus der Matrix auszubrechen, sich also die Verbindungsschläuche aus der Haut zu reißen und aus dem Nährbehälter ins echte Leben zu springen, hinterlässt Narben. Mein Branding ist also auch das Symbol für die Narben, die mein verbiegen und mein Nicht-ich-Sein hinterlassen haben. Es ist meine Eintrittskarte in die Freiheit und ins echte Leben und gleichzeitig die Erinnerung daran, wo ich her komme. Und darin besteht eine weitere Angst. Man kann einen Matrix-Stecker nicht halb herausziehen. Entweder man reißt ihn raus und kappt die Verbindung oder eben nicht. Ich habe aber keine Ahnung, ob ich außerhalb überhaupt überleben würde und ob es mir dort auch wirklich gefällt. Wie damals Paulina möchte ich mir deshalb nur zu gerne eine Rückkehr-Option freihalten, eine Art Reißleine oder Notoption, die mich immer wieder ins sichere Matrix-Leben zurückführen kann. Mit dem Rausreißen des Steckes geht dies nicht mehr. Es ist ein Ja mit allen Konsequenzen. Dies nicht einzugehen ist einer der Hauptpunkte, warum ich bislang immer wieder auf der Stelle trete. Also muss der Schritt getan werden um voran zu kommen. Und ja, das macht wirklich Angst. Eine Herde in Form von Heiko und Shania bei mir zu haben macht es etwas leichter, aber ich muss mir dabei auch stets bewusst sein, dass ich diese Entscheidung für mich alleine treffe. Selbst wenn wir uns trennen und nie wieder zusammenfinden muss diese Entscheidung für mich passen und passend bleiben. Ich fühle, dass es so ist, aber es macht eben auch Angst.

Spruch des Tages: Normal ist nur der Norm entsprechend und hat nichts mit natürlich, kraftvoll oder heilsam zu tun.

Höhenmeter: 370 m Tagesetappe: 23 km Gesamtstrecke: 21.882,27 km Wetter: Sonnig und relativ warm Etappenziel: Aufentaltsraum neben dem Sportplatz, 62650 Zoteux, Frankreich

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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