Tag 1227: Leben wir in einer Mehrklassengesellschaft?

von Heiko Gärtner
19.08.2017 05:58 Uhr

13.05.2017 

Man kann durchaus sagen, dass England nicht zu den gemütlichsten Ländern Europas gehört. Bislang hatten wir was das Wetter anbelangt ja wirklich Glück, aber langsam zeigt sich auch hin und wieder eine andere Seite. Nur ganz vorsichtig, so als wolle sie sagen: „Schaut mal, ich könnte auch anders! Fühlt euch also nicht zu sicher!“ Dabei zeigte uns das Wetter dann auch gleich seine volle Palette an Möglichkeiten, von eisig windiger Nasskälte bis zu tropisch warmer Schwüle, bei der man nach wenigen Metern zu zerfließen begann. Langsam verstanden wir auch, warum sich die Mücken hier so unglaublich wohl fühlten. Bei diesen Bedingungen musst ihre Population geradezu explodieren.

Die alte Mehrklassengesellschaft ist noch immer spürbar

Am frühen Nachmittag erreichten wir unseren Zielort, kurz vor der Grenze von Wales. Die Kirchenverwalterin war zunächst etwas vorsichtig und wollte sich erst noch zwei Mal absichern, bevor sie uns zusagte. Spannend in diesem Land ist, dass es hier wirklich eine Mehrklassengesellschaft gibt, die sich noch immer in den gehobenen, den mittleren und den niederen Stand einteilt. Je nachdem, zu welchem Stand ein Kirchenverwalter gehört, ist es entweder   ein riesiger Act, einen Platz in der Kirche zu bekommen oder nicht einmal eine Frage wert. Die ältere Dame von gestern, die von einer Nachbarin über unsere Anwesenheit informiert wurde fragte lediglich „Brauchen die Jungs noch etwas? Soll ich irgendetwas vorbei bringen?“ Sie stammte aus der mittleren Schicht, war also eine ganz normale Bürgerin mit einem kleinen Haus in einem kleinen Dorf. Heute hingegen gelangten wir wieder in eine noblere Gegend und die Kirchenverwalterin gehörte der Oberschicht an. Ob diese Schichten hier wirklich per Geburtsrecht verteil werden, ober ob sich jeder einfach willkürlich einer zugehörig fühlt und sich dann entsprechend verhält weiß ich nicht. Aber entscheidend ist die Frage: „Wozu fühlt sich eine Person zugehörig?“

Zwischen Offenheit und Misstrauen

Die gleiche Frage wie gestern löste hier erst einmal Misstrauen aus und zog einen langen Fragenkatalog nach sich. Heiko erzählte von seiner Arbeit als Notfallmediziner und Therapeut, was immer sehr beruhigend auf die Menschen wirkt. Ein Arzt, ob nun studiert oder nicht, gehört automatisch zur Oberschicht, was bedeutet, er ist einer von uns und man kann ihm trauen. Als wir vor einem knappen Jahr unsere Projekt-Präsentationsmappe entwickelt haben, hatten wir gedacht, dass sie uns dabei hilft, Plätze in Hotels, Pensionen und Gästehäusern zu bekommen. Nun findet sie tatsächlich vollen Einsatz, aber nicht um unseren Luxus zu erhöhen, sondern um einen Platz auf dem Boden von ungeheizten Kirchen ohne sanitäre Anlagen, Wasserhähne oder andere besondere Fähigkeiten zu bekommen. Zumindest in der Regel, denn heute haben wir hier den Jackpot bekommen und können tatsächlich wieder einmal eine Toilette und einen Wasserkocher unser eigen nennen.

Nach dem ersten Vorgespräch hätte die Verwalterin eigentlich am Abend noch einmal wieder kommen und unsere Ausweise kopieren wollen, um ganz sicher zu gehen. Wir sahen sie aber nie wieder. Stattdessen kamen einige andere Leute vorbei. Zwei Männer wollten die Kirchturmuhr reparieren, die eine Gruppe heute morgen mit der Kirchenglocke zerstört hatte und eine Frau kam um die Blumen am Altar auszuwechseln.

Gespräche über Krebsbefund

Letztere kam etwas tiefer mit uns ins Gespräch und da sie bereits gehört hatte, dass wir in Sachen Medizin unterwegs waren, erzählte sie uns auch von ihrer kürzlich erhaltenen Brustkrebsdiagnose, woraus ein langes und tiefes Gespräch entstand. Vor allem die Art und Weise, wie in unserer Gesellschaft mit der Übermittlung der Krebsdiagnose umgegangen wird, machte uns dabei große Bedenken. Das Gespräch gab Anlass, sich noch einmal tiefer mit dem Thema zu befassen und die Ergebnisse könnt ihr im Artikel: „Krebsdiagnose – eine selbsterfüllende Todesprophezeiung“ nachlesen.

 

Spruch des Tages: Von einer Chancengleichheit innerhalb der Gesellschaft sind wir noch weit entfernt.

Höhenmeter: 90 m

Tagesetappe: 15 km

Gesamtstrecke: 22.485,27 km

Wetter: bewölkt, dann Regen, teilweise etwas Sonne

Etappenziel: Kirche, Almeley, England

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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