Gedankengefängnis: Warum viele Menschen nicht reisen

von Franz Bujor
17.01.2014 00:47 Uhr

Allem Anschein nach fühlte sich die Sonne gestern von uns nicht richtig wertgeschätzt, denn heute schmollte sie den ganzen Tag und versteckte sich wieder einmal hinter den Wolken. Trotzdem begegnen uns ständig Frühlingsboten. Kurz nach unserem Aufbruch haben wir sogar die ersten Schneeglöckchen dieses Jahres gesehen. Am 16. Januar ist das eigentlich noch etwas zu früh. Aber die Natur hat anscheinend andere Pläne als sich an die menschengemachten Vorstellungen von Frühling, Sommer, Herbst und Winter zu halten.

bachlauf

Uriger Bachlauf

 

Den ganzen Tag über schien es, als gäbe es entlang des Jakobsweges eine Art Contest darüber, wer den meisten Lärm verursacht. Unter den Top Five waren ganz vorne mit dabei:

  1. Der Vorgartenkiller, der sämtliche seiner Bäumchen mit der Motorsäge niedermetzelte.
  2. Der Straßenreiniger, der uns auf einer Strecke von ca. 500 m mit einem motorisierten Straßenkehrfahrzeug verfolgte. Die Straße vor ihm war dabei ebenso sauber wie hinter ihm, aber sein Gerät brachte es auf stolze 120 Dezibel.
  3. Der Güterverkehr, der mit so präzise berechneten Abständen an uns vorbeirauschte, dass wir unsere Uhr danach hätten stellen können.
  4. Die Autobahn, die das ganze Ensemble mit einem stetig monotonen Hintergrundrauschen untermalte.
pilgern

Pilgern an der Autobahn

 

Und last but not least:

  1. Das Industriegebiet mit einem ganzen Orchester an unterschiedlich nervigen Störgeräuschen, die einzeln aufgeführt den Rahmen dieses Tagesberichts sprengen würden.
schwan HDR

Schwäne mit Ehekrise

 

Die Ruhe und Besinnung, die uns in den letzten Tagen so gutgetan hatte, wollte dabei heute aus irgendeinem Grund nicht so ganz aufkommen.

Jakobsmuschel

Folgt der Jakobsmuschel

Aber der Lärm war nicht das einzige, was unseren gewohnten Pilgerrhythmus heute durcheinanderbrachte. Kurz hinter Babstadt führte uns der Jakobsweg in einen Wald hinein. Zumindest theoretisch, den praktisch war er mit einem Flatterband und dem Warnhinweis: „Achtung! Treibjagd! Lebensgefahr! Durchgang streng verboten!“ versperrt. Einen Hinweis, welchen Weg man als Pilger, Fernwanderer oder Radfahrer stattdessen nehmen sollte, hielt die örtliche Jägerschaft aber augenscheinlich für überflüssig. Wieso konnte man als Jägerschaft überhaupt einen internationalen Wanderweg einfach so sperren? Gab es nicht ein öffentliches Waldbegehungsrecht? Der Wanderweg war ja schließlich nicht das einzige Hindernis, dass innerhalb der Hetzjagdgrenzen lag. Es gab dort zum Beispiel auch noch die besagte Zugstrecke und der Güterverkehr wurde schließlich auch nicht angehalten und zur Umkehr gezwungen.

Wir fragten einen Mitarbeiter des nahegelegenen Wertstoffhofs, wie wir nun nach Grombach, unserem nächsten Zwischenziel kommen sollten. Er erklärte uns, dass er sich hier zwar auch überhaupt nicht auskenne, dass Grombach aber in ungefähr dieser Richtung liegen müsste. Dabei deutete er auf die Richtung, in die auch der versperrte Weg führte. Wir könnten die Hauptstraße auf der anderen Seite des Feldes nehmen. Die müsse auch in diese Richtung führen. Seine Angaben wirkten zwar nicht übermäßig vertrauenerweckend, aber da es ansonsten keine Alternative gab, nahmen wir sie dankbar an. Die Straße, der wir dann folgten, gab uns ein weiteres Mysterium auf. Irgendjemand hatte haufenweise pinkfarbene Sektdosen am Straßenrand verteilt. Der Täter war vermutlich weiblich und neigte zum Alkoholkonsum während der Autofahrt. Und er bzw. sie war immer an etwa der gleichen Stelle mit dem Trinken fertig. Es war beeindruckend und gleichzeitig erschreckend, wie viel Müll eine einzelne Person in der Natur zurücklassen konnte.

treibjagd

Achtung Treibjagd

Kurze Zeit später kamen wir an zwei Jägerjeeps vorbei, an denen zwei Jäger lehnten. Sie wirkten überhaupt nicht gehetzt, sondern recht entspannt und tranken Kaffee aus einer Thermoskanne. Wir fragten sie nach dem Weg und sie wirkten recht überrascht, dass es tatsächlich Wanderer in dieser Gegend gab. Dass sie mit dem Versuch ein paar Wildschweine zu erhaschen unseren kompletten Tagesablauf durcheinandergebracht hatten, war ihnen nicht im Geringsten bewusst. Es beeindruckte sie aber auch nicht, als ich sie darauf hinwies. Zum Abschied gaben sie uns noch den Rat uns möglichst auffällig zu verhalten und immer wieder mit den Armen zu fuchteln. Wir würden nämlich so sehr mit der Umwelt verschmelzen und da könne es sonst schon mal passieren, dass man uns für ein Wildschwein halte. Selbst, wenn wir uns an die Hauptstraßen hielten.

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Versinken im Schlamm

Moment mal! Ich hatte eine violette Jacke mit orangen Applikationen darauf an und zog einen riesigen Karren mit leuchtend roten Packsäcken darauf hinter mir her. Heiko trug eine knallblaue Jacke und sein Wagen glänzte silbrig. Und in diesem Auszug verschmolzen wir so mit der Umwelt, dass man uns für Wildschweine halten konnte? Das erklärte natürlich einiges! Wenn die Jäger uns als unauffällig ansahen, war es kein Wunder, dass sie die wirklich unauffälligen Waldbewohner überhaupt nicht ansahen und folglich auch nicht schießen konnten. Wenn man bedenkt, dass der Wildscheinbestand etwa 5-mal so groß ist, wie er sein sollte, war eine solche Hetzjagd wahrscheinlich wirklich die einzige Chance, den cleveren Tieren beizukommen. Doch wirklich erfolgreich war die Jagd nach dem, was wir wahrnehmen konnten nicht. Der Hetzjagdbereich erstreckte  sich über eine Fläche von ca. 15 x 15 Kilometern. Wir kamen also fast den ganzen Tag nicht aus ihm heraus. Dennoch hörten wir insgesamt nur 6 Schüsse. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass wir die Hälfte überhört haben (man hört einen Schuss etwa 5km weit) und dass jeder Schuss ein Treffer war, dann wurden heute nicht mehr als 12 Wildschweine erlegt. Für einen derartigen Großeinsatz mit weit über 50 Menschen ist das ein eher mageres Ergebnis. Wir allerdings begegneten auf unserem Weg einigen Wildschweinen und Rehen, die sich offenbar recht gern in unserer Nähe aufhielten.

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Heiko fühlt sich wie ein Sulki

In Grombach trafen wir vor einer Fleischerei auf zwei ältere Damen, die uns über unsere Reise befragten. „Ja ja,“ sagte die eine, „so etwas kann man nur machen, wenn man alleine ist. Mit Familie und Mann ist das nicht mehr möglich.“

„Warum das?“, wollten wir wissen, „ist dein Mann kein Freund vom Reisen?“

„Doch, doch“, antwortete sie, „er würde schon mitkommen. Aber es wäre nicht dasselbe!“

Daraufhin erzählte die andere von einer Freundin, die von ihrem Mann sitzen gelassen wurde und daraufhin lospilgerte. „Oh ja“, sagte die erste sehnsüchtig, „das würde ich auch als Anlass nehmen!“

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Ein weiterer Wegweiser

 

Das Gespräch war wirklich amüsant, hinterließ aber auch ein paar Fragen. Warum verwirklichten so viele Menschen ihre Träume erst dann, wenn sie durch einen Schicksalsschlag oder ein negatives Ereignis dazu gezwungen wurden? Wäre es nicht viel schöner, das schon davor zu tun? Oder mochte diese Frau ihren Mann wirklich so wenig, dass sie sich nicht vorstellen konnte, ihn bei ihrer Reise dabei zu haben? Und wenn ja, warum trennte sie sich dann nicht selbst, sondern hoffte darauf, dass er es tat?

heiko und tobias

Heiko und Tobias in Gedanken

 

Als wir den Jakobsweg schließlich wiedergefunden hatten, belohnte er uns mit einer der schwierigsten Etappen überhaupt. Die Wege waren so verschlammt und aufgeweicht, dass wir nur mit größter Kraftanstrengung hindurchkamen. Zu allem Überfluss hatten die Forstarbeiter, beim letzten Baumbeschnitt auch noch sämtliche Äste und Stämme auf dem Weg liegen gelassen. Zu sagen, unser Weg war holprig, wäre also eine leichte Untertreibung.

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Eine Stockente

 

Schließlich gelangten wir dann aber doch noch nach Sinsheim, unserem heutigen Etappenziel. Das berühmte Automuseum ließen wir müde hinter uns und machten uns auf die Suche nach der Pfarrei. Wie sich herausstellte, hatte Sinsheim zwei Gemeinden. Die erste wurde gerade renoviert, also wurden wir zur zweiten weitergeleitet. Hier war der Pfarrer gerade im Urlaub. Die junge Diakonie-Leitung setzte jedoch alles daran, uns einen guten Schlafplatz zu vermitteln und gab mir schließlich die Adresse von Familie Meuret, die immer wieder Jakobspilger beherbergte. Zum Abschied gab sie mir sogar noch zwanzig Euro für eine Pizza oder ähnliches!

jakobsweg schloss

Ein Schloss am Jakobsweg.

 

Familie Meuret wohnte, wie sollte es anders sein – auf dem Gipfel einer Anhöhe. Völlig durchgeschwitzt und ausgelaugt, kamen wir bei ihnen an. Die Dusche und das leckere Abendessen mit denen sie uns empfingen, waren der reinste Segen. Als sich Wolfgang Meuret vorstellte, staunten wir beide nicht schlecht, denn wir kannten uns bereits. Wolfgang hatte gestern in Bad Rappenau den Konfirmandenunterricht geleitet, den ich gestört hatte, um nach dem Pfarrer zu fragen. Wie klein die Welt manchmal ist!

heiko und tobias1

Heiko und Tobias: Erschöpft vom Anstieg.

 

Spruch des Tages: Auch ein blinder Jäger schießt mal ein Schwein

Tagesetappe: 23,5 km

Gesamtstrecke: 314,37 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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