Moderne Sklaverei – Teil 2

von Heiko Gärtner
30.03.2016 18:09 Uhr

Fortsetzung von Tag 802:

Zunächst dachten wir, dass es sich hierbei um eine moderne Art der Sklaverei handelte, also ein Ausnutzen von Arbeitern zu Billiglöhnen und unter schlechten Arbeitsbedingung. Doch je mehr wir durch die Felder wanderten, desto stärker wurde uns bewusst, dass es sich um eine ganz herkömmliche Art der Sklaverei handelte. Die Arbeiter wurden in überfüllten Bussen auf die Felder gefahren, von italienischen Aufsehern überwacht und angetrieben und mussten so viel wie möglich ernten. Dann wurden sie mit den Bussen wieder abgeholt. Was dann jedoch passierte, übertraf alles. Man brachte sie in die verwaisten und verfallenen Gutshöfe, wo sie in den Ruinen hausen mussten, in denen es nicht einmal mehr Fenster oder Strom gab. Wir haben den ganzen Winter in alten, italienischen Häusern gebracht und haben uns viele Male den Hintern abgefroren.

 

Doch wir hatten Fenster, Türen und teilweise sogar Heizstrahler. Wie musste es diesen Menschen dann ergangen sein? Die Kinder spielten zwischen den Ruinen und schauten neugierig zu uns hinüber. Als Wasserversorgung gab es lediglich einen großen Tank, der von den Landwirten in den Hof gestellt wurde. Und trotz alledem waren es die Bulgaren, die uns freundlich zuwinkten, zu uns herüberriefen und uns mehr Lebensfreude entgegenbrachten, als wir es insgesamt von den Italienern gespürt hatten. Die italienischen Großgrundbesitzer mochten die Sklaventreiber sein, aber ob es ihnen wirklich besser ging, ist fraglich. Denn auch wenn sich das Leben der Arbeiter auf dem Feld kaum von dem der afrikanischen Sklaven im geschichtlichen Amerika unterscheiden mochte, gab es doch den Unterschied, dass diese Arbeiter hier bezahlt wurden. Wahrscheinlich schlecht, aber sie bekamen immerhin etwas. Selbst wenn es nur fünf Euro in der Stunde waren, bekamen sie damit doch am Ende eine nicht unerhebliche Summe zusammen. Zehn Stunden Arbeit machten 50 € am Tag, also rund 1500 € im Monat. Wenn sie im Winter vier Monate hier arbeiteten, hatten sie 6000 € zusammen. Wenn Bulgarien ähnlich strukturiert war wie der Balkan, dann konnte man ein ganzes Jahr locker davon leben. Und zwar vollkommen Stressfrei, in Ruhe irgendwo auf dem Land in einem Haus mit eigenem Garten und eigenem Gemüse. Die Italiener hingegen lebten, selbst wenn sie reich waren, das ganze Jahr in einer hässlichen Stadt, in der sie sich dicht an dicht drängten und in der sie deutlich weniger Lebensqualität hatten, als ihre Teilzeitsklaven.

Oder aber sie lebten in kleinen Villen auf ihren Feldern und hatten dabei so eine Angst vor den Sklavenarbeitern, dass sie alles mehrfach vergitterten, sich fünf Wachhunde anschafften und keine Nacht mehr ruhig schlafen konnten. Die Angst ging sogar so weit, dass sie sich Bewegungsmelder an den Eingangstoren anbrachten, die jedes Mal aufheulten wie eine Feuerwehrsirene oder ein Fliegeralarm, wenn jemand in die Nähe kam. Diesen Kriminellen aus Osteuropa war eben einfach nicht zu trauen. Nur weil sie in fensterlosen Baracken lebten, kaum etwas zum Essen hatten, täglich ausgebeutet wurden und jede Nacht froren, waren sie plötzlich nicht mehr gut auf ihre Arbeitgeber zu sprechen. Das war schon eine dumme Sache! Wenn man dann den reichen Italiener sah, wie er mit einer Ferrari-Mütze auf dem Kopf in seinem Garten Rasen mähte, der wie ein Hochsicherheitstrakt abgeriegelt war und in dessen Mitte eine riesige Italien Flagge prangte, dann konnte man sich beim besten Willen nicht vorstellen, warum hier ein frustrierter Arbeiter einen Hass entwickeln und übergriffig werden sollte.

Sicher vergewaltigten diese Barbaren auch unschuldige Frauen, wenn sie die Gelegenheit dazu bekamen! Kein Wunder also, dass die Menschen hier überall Angst hatten, wenn sie einen Fremden sahen. Wenn man einen genaueren Blick auf die Gastarbeiter aus Osteuropa warf, dann konnte man sich das Problem mit den Vergewaltigungen jedoch eher aus einer ganz anderen Perspektive vorstellen. Die meisten Arbeiter lebten hier mit ihrer kompletten Familie, mit Frauen, Kindern, teilweise sogar Großeltern. Die Wahrscheinlichkeit dass es hier hin und wieder zu gewaltsamen, sexuellen Übergriffen auf einheimische Frauen kam bestand zwar, war aber eher gering. Viel wahrscheinlicher war, dass es zu derartigen Übergriffen von italienischen Männern auf die stellenweise sehr attraktiven, jungen Sklavenfrauen kam. Als Arbeitstiere in einem fremden Land waren sie und ihre Familien vom Wohlwollen der Gutsbesitzer abhängig. Es wäre naiv zu glauben, dass diese Macht nicht auch immer wieder ausgenutzt wurde. Fakt ist jedenfalls, dass diese Art des Arbeitsverhältnisses nichts anderes ist, als Menschenhandel. Es ist eine Form, die legalisiert wurde und die wir normalerweise nicht dazu zählen, aber das ändert nichts an dem, was es ist. Es heißt, jeder Mensch in der zivilisierten Welt beschäftigt indirekt 35 Sklaven für sein alltägliches Leben. Wenn man diese noch hinzuzählt, dann kommt man auf eine Summe, die man sich kaum noch auszusprechen traut.

Nach rund 39 km erreichten wir eine Kleinstadt mit rund 700 Einwohnern. Fast alle von ihnen waren Ausländer und die meisten waren wohl ebenfalls als Sklaven hier. Die Häuser in diesem Ort hatten Fenster, aber ansonsten waren es ebenfalls nicht mehr als Baracken. Der Pfadfinderleiter von gestern hatte diesen Ort als Getto bezeichnet und nun verstanden wir, was er damit meinte. Spannenderweise begegneten uns die Menschen hier jedoch bei weitem freundlicher als in den üblichen italienischen Städten. Sogar die kleinen Gangster-Kinder, die möglichst cool und gefährlich erscheinen wollten, während sie durch die verdreckten Straßen liefen, grüßten höflich und respektvoll. Die einzigen, die uns ohne diesen Respekt und die Freundlichkeit begegneten, waren die Einheimischen, auf dessen Hilfe wir angewiesen waren. Sie ließen uns nur kalt abschmettern und meinten, dass wir in diesem Ort ohnehin nicht übernachten wollen würden. Noch einmal mussten wir also aufbrechen und uns in den nächsten Ort aufmachen.

Kaum hatten wir den Ort verlassen, mussten wir durch eine dicke Giftwolke wandern. Ein Bauer besprühte sein Feld mit Pestiziden, die er jedoch schön hoch in den Himmel verteilte. Sein Traktor hatte keine Fenster und einer seiner Helfer stand auf dem Feld herum, um sich die Arbeit aus der Nähe anzuschauen. Entweder die beiden waren immun gegen die Chemiegifte, oder aber sie waren sich der Gefährlichkeit nicht bewusst. Oder es war ihnen egal, was hierzulande auch eine wahrscheinliche Option war. Uns hingegen brannten die Gifte bereits aus 50 m Entfernung in der Lunge. Wir hielten uns die Halstücher vors Gesicht, in der Hoffnung, damit etwas herausfiltern zu können, doch ich fürchte, der Effekt war vor allem psychologischer Natur. Sofort spürte man einen süßlichen Geschmack auf der Zunge, dann ein Brennen und eine leichte Taubheit. Was immer das war, gesund war es nicht. Wirklich nicht! Der Beweis dafür ließ nicht lange auf sich warten. Vor uns flatterte ein Schmetterling, der leicht benommen wirkte und auf einem Blatt am Straßenrand landete. Heiko schaute ihn an, um zu erkennen, um was für einen Schmetterling es sich handelte. Doch in diesem Moment kippte er einfach vom Blatt und fiel zu Boden. Er war tot. Wenige Meter weiter sahen wir noch andere Schmetterlinge, die vom Himmel gefallen waren. Sie lagen mit gespreizten Flügeln auf dem Boden und rührten sich nicht. Wenn diese Giftwolke Schmetterlinge in so kurzer Zeit töten konnte, dann war es sicher auch für uns Menschen nicht gesund, sie einzuatmen. Oder später gemeinsam mit dem Gemüse zu essen.

Angeblich sollte es in 6 km ein Santuario geben, doch wir mussten weitere 16 km wandern bis wir es erreichten. Unsere Füße waren platt, unsere Beine lahm und unsere Bäuche leer. Mehr schleppend als wandernd erreichten wir das Heiligtum. Es war angeblich wieder eines der wichtigsten und ältesten Europas, auch wenn noch niemand jemals von ihm gehört hat. Im Grunde war es wieder die alte "Maria erscheint Hirte, Hirte baut kleine Kapelle, Kapelle wird zu riesen Touristen-Zentrum"-Geschichte. Nichts besonderes also. Doch für unsere Zwecke reichte es aus. Wir bekamen einen Schlafplatz vom Direktor und einen Rüffler von einem unsympathischen Pfarrer, für den sich sogar sein Kollege schämte. Essen bekamen wir allerdings nicht. Es wurde daher ein mauer Abend mit einer relativ gewöhnungsbedürftigen Reis-Öl-Kiwi-Pfanne, einem Stück kalter Pizza und einem labbrigen, trockenen Brötchen. Aber man kann ja auch nicht alles von einem Tag erwarten wenn man schon 55 km wandern darf, dann ist ein Abendessen vielleicht etwas viel verlangt.

 

Spruch des Tages: Die Strecke war definitiv zu lang!

Höhenmeter: 30 m Tagesetappe: 31 km Gesamtstrecke: 14.329,27 km Wetter: sonnig, windig, gelegentlich regnerisch Etappenziel: Gemeindehaus der Kirche, 73010 Guagnano, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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