Tag 783: Orientierungslos

von Heiko Gärtner
20.02.2016 22:45 Uhr

28.01.2016

Wer hätte gedacht, dass die alten Berufsgriesgrame, die das Kloster bewohnten doch lachen können? Bereits beim Abendessen gelang es uns, den Superior und einen weiteren Bruder, den wir erst jetzt kennenlernten, soweit aufzulockern, dass eine beinahe fröhliche Atmosphäre entstand. Wir erzählten einige Anekdoten von unserer Reise und irgendwann begann einer von ihnen zu schmunzeln. Dann sogar zu grinsen und schließlich konnten sie sich ein echtes Lachen entringen. Heute morgen setzten sie dann sogar noch einen drauf! Als wir das Kloster verließen traf gerade Don Franco ein, der sich mit dem Superior verabredet hatte. Beide verabschiedeten sich von uns und nun hatten sie sogar den Impuls, selbst von sich aus locker und witzig sein zu wollen. Sie neckten sich gegenseitig mit ihrem Alter, ihrer Bequemlichkeit und ihrem Körpervolumen und der Klostervater klatschte dem Pfarrer mit der flachen Hand ordentlich auf die Wampe. Im vergleich zum Vortag waren beide kaum wiederzuerkennen.

Abgesehen davon, dass wir uns eine gute halbe Stunde in der Stadt verliefen, die wie ein Irrgarten aufgebaut war, gibt es über die Wanderung nicht viel zu erzählen. Zunächst war alles nebelig, später kam sogar wieder die Sonne durch. Wir konnten einige Schneeglöckchen und sogar schon die ersten Huflattich-Blüten sehen. Auch die Vögel waren heute und an den letzten Tagen schon wieder deutlich munterer. Alles deutete darauf hin, dass es wieder Frühling wurde. Es wurde ja auch langsam Zeit, immerhin hatten wir schon Ende Januar.

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Die Begegnung mit dem Pfarrer Don Giuseppe war die wohl abstrakteste, die wir je mit einem Pfarrer hatten. Als wir eintrafen war er gerade dabei in ein Auto zu steigen um wegzufahren. Schnell lief ich hin und konnte ihn gerade noch aufhalten. Wir erzählten ihm, was wir machten und erwähnten auch, dass Don Franco uns bereits bei sich aufgenommen hatte. Er ließe schön grüßen und gäbe uns seine besten Empfehlungen mit.

"Aha!" sagte der kleine Pfarrer, der sogar noch dicker und noch grießgrämiger war, als Don Franco selbst. Dass die beiden befreundet waren glaubte man sofort.

"Wenn euch Don Franco schon einmal aufgenommen hat, warum geht ihr dann nicht wieder hin und fragt noch einmal?" fragte er ohne den Hauch von Ironie in der Stimme.

Verwirrt schaute ich ihn an und sagte dann: "Naja, es ist eine Pilgerreise! Sie funktioniert nicht, wenn man immer wieder zum gleichen Ort zurückwandert, denn dann kommt man ja nicht voran."

"Achso! Na dann!" sagte er und war mit der Antwort anscheinend zufrieden, denn er fuhr fort: "In der Kirche hinten rechts gibt es einen Raum für Veranstaltungen. Keine Ahnung ob der heute gebraucht wird oder nicht, aber ich denke er müsste frei sein. Ihr könnt ihn haben. Benehmt euch aber, denn ihr seid in einer Kirche!"

Dann schloss er die Tür und fuhr davon. Das war das letzte Mal, dass wir etwas von ihm hörten. Der Raum war aber nicht schlecht und außer unseren eigenen fanden hier heute auch keine weiteren Aktivitäten statt.

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29.01.2016

Obwohl der Pfarrer wirklich nicht der kontaktfreudigste war, bestand er dennoch auf ein Frühstück mit uns in einer Bar. Wie immer bestand das Frühstück für uns aus nichts weiter als einem Tee, denn alles andere enthielt mehr Zucker als die Polizei erlaubte. Vor unserem Abschied fragte der kleine, dicke Mann: "Braucht ihr eigentlich noch irgendwie sowas wie Moneten?"

"Naja," meinte ich, "schaden kann das nicht!"

Er nickte nur knapp, ging zu seinem Auto und drückte uns eine Plastiktüte mit Kleingeld in die Hand. Insgesamt waren es 35€ in Fünfzig-Cent-Stücken, die fast ein Kilo wogen. Schon seltsam wie schwer dieses Geld manchmal sein kann. Auch dass es gerade Don Giuseppe war, der uns eine Spende mit auf den Weg gab, war für uns nur schwer begreiflich. In der letzten Zeit hatten wir so viele Pfarrer getroffen, mit denen wir einen intensiven Kontakt hatten, und keiner hatte uns Geld geschenkt. Don Giuseppe hatte kaum zehn Worte mit uns gewechselt. Es war uns schon oft passiert, dass gerade die wenig kontaktfreudigen Pfarrer, die spendabelsten waren. Was natürlich nichts daran änderte, dass wir uns darüber freuten.

Vor uns lagen nun gute 20km Wegstrecke, auf denen wir permanent bergauf und bergab wandern durften. Es war kein Wunder, das man hierzulande so schnell ein paar hundert Höhenmeter zusammenbrachte, wenn die Straßenplaner einfach immer jeden Hügel und jedes Tal mitnehmen mussten. Am Ende trafen wir in einer kleinen Ortschaft auf Don Marzo, der in etwa genauso unkomplex war, wie unser letzter Gastgeber. Wir bekamen einen Schlafraum neben dem Oratorio, in dem gerade wieder Kommunionsunterricht abgehalten wurde. Für italienische Verhältnisse waren die Räumlichkeiten erstaunlich gut gepflegt und sehr liebevoll renoviert worden. Vielleicht lag es daran, vielleicht auch an der drallen Lehrerin, die als vielleicht einzige Pädagogin in Italien wirklich ein Durchsetzungsvermögen hatte, aber die Kinder waren hier weitaus ruhiger als an allen anderen Orten im Land.

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30.01.2016

Jetzt ist es ganz kaputt! Am Abend rief noch einmal Don Franco an, um zu fragen ob alles in Ordnung sei. Dass gerade er der fürsoglichste Pfarrer ist, den wir je getroffen haben, hätten wir uns zuvor auch nicht träumen lassen. Doch sein Anruf endete mit einem abrupten, lauten Pfeifton und einem ekelhaften Störgeräusch. Dann schaltete sich unser Handy ab und wollte nicht mehr angehen. Einmal konnten wir es noch einschalten, doch kurz darauf brach es wieder ab und der Bildschirm zeigte nur noch schwarz. Irgendwie ist es schon wieder sonderbar, dass unser Smartphone genau jetzt den Geist aufgibt, wo ich gerade am Abend den Bericht über den Überfall eingestellt habe, mit dem die ganzen Handy-Pannen begannen. Erst in der Früh realisierten wir, wie groß dieser Verlust eigentlich war. Denn wir hatten nicht nur unsere Kommunikationsquelle nach außen verloren, sondern auch unser Navigationsgerät. Wir versuchten zwar, die Wanderkarten auf unseren Tolino zu ziehen, doch aus irgendeinem Grund erwischten wir genau die Karte nicht, die wir für heute brauchten. Vor uns lagen wieder 20km durch ein weitläufiges Tal. Die direkte Strecke war einfach, doch sie führte an der Hauptstraße entlang und das wollten wir gerne vermeiden. Doch ohne Kartenmaterial war das schwerer als gedacht. Die einzige Orientierungshilfe, die wir noch hatten, war unser GPS-Gerät, aber das zeigte leider nur eine gerade Linie zwischen unserem Standpunkt und dem Zielort an. Wir konnten ja schlecht mit unseren Wagen einfach geradeaus laufen und alles überrennen, was im Weg stand. Stattdessen wurde unsere Wanderung zu einer Art Schnitzeljagd. Hier eine Straße links, dort eine Straße rechts. Es funktionierte zunächst gar nicht mal so schlecht, wenngleich wir feststellten, dass wir im Bezug auf´s Navigieren doch eher altmodisch waren. Es geht einach nichts über eine anständige Karte, die man nach den Himmelsrichtungen ausrichtet und auf der man sich mit den eigenen Augen zurechtfindet. Die Karten auf dem Navi sind so klein, dass man sich vollkommen auf das GPS verlassen muss. Das liegt natürlich nahe, bei einem GPS-Gerät. Aber er macht ein ungutes Gefühl. Wenn der Empfang nicht passt, dann läuft man irgendwo hin und kann kaum überprüfen, wo man sich befindet. Wir müssen allerdings zugeben, dass die Genauigkeit des Gerätes durchaus beeindruckend war. Ein Nachteil war jedoch das fehlen von Höhenlinien. Es gab einige Straßen, die auf dem Display des Gerätes sehr verlockend aussahen, die sich in der Wirklichkeit dann aber als einzige Katastrophe herausstellten. Doch der einzige wirklich große Haken, der uns den Spaß an der Sache schließlich endgültig vermieste, war die Akkulaufzeit. Nach nicht einmal zwei Stunden waren die Batterien leer und unser Navigationsgerät hatte sich ausnavigiert. Jetzt standen wir ganz alleine da! Oh armes Handy, wie sehr wir dich jetzt schon vermissen!

In jeder anderen Region hätten wir vielleicht einfach nach den Himmelsrichtungen navigiert und wären frei Schnauze auf die nächst größere Ortschaft zugegangen. Doch das war hier nicht so einfach. Zum einen war es so neblig, dass man die Ortschaften überhaupt nicht sehen konnte und zum anderen hatte die Landschaft hier gewisse Tücken. Straßen neigten dazu, einfach irgendwo zu enden oder in vollkommen absurde Richtungen abzuknicken, auch wenn sie am Anfang ganz passierlich aussahen. Flachebenen konnten vollkommen unvermittelt von tiefen Schluchten unterbrochen werden, durch die man nicht hindurchkommen konnte, wenn man nicht die richtige Brücke traf. Am Ende blieb uns nichts weiter übrig, als uns an die nervige Hauptstraße zu halten. Das kuriose war, dass die Menschen hier auch noch das Gefühl hatten, einen an den Hauptstraßen ständig anhupen zu müssen. Sie meinen es wirklich nett, aber es trägt nicht gerade zur Entspannung bei. Nicht nur, dass der Verkehr ohnehin schon um ein 100faches höher ist, als an anderen Straßen, jedes einzelne Auto, das an einem vorbei fährt drückt auch noch auf die Hupe.

"Ich versteh die Menschen hier nicht!" meinte Heiko grimmig, "sie können doch nicht ernsthaft glauben, dass sich jemand über diese Hupkonzerte freut!"

Wie um seine Aussage zu widerlegen tauchte kurz darauf ein Jogger auf, der sich freiwillig für diese Straße entschieden hatte, ohne dass sein Navi ihn dazu gezwungen hatte. Er strahlte den Autofahrern entgegen und freute sich tatsächlich über jeden, der ihm zuhupte. Es gab ihm das Gefühl, beliebt zu sein und er winkte jedes Mal zurück.

Doch der Mann war nicht das kurioseste, das wir auf unserem Weg erleben sollten. Neben einer ganzen Armee von geisteskranken Hunden, die kläfften, bellten, auf die Straße rannten oder ihren Kopf mit voller Wucht gegen Metallwände schlugen, war da vor allem die Autobahn. Die Autobahn selbst war natürlich nicht weiter kurios, es war eine vierspurige Straße die sich durchs Land zog, so wie immer. Seltsam war aber, dass es auf der anderen Seite der Autobahn einige vereinzelte Häuser gab, die durch den Autobahnbau ihren Anschluss an die Stadt verloren hatten. Damit sie weiterhin erreichbar waren, hatte man ihnen Fußgängerbrücken über die Autobahn gebaut. Auf ihnen konnte man über eine steile Treppe hinauf steigen, dann über die Fahrbahn gehen und auf der anderen Seite stand man dann mitten in einem verwahrlosten Garten. Eine alte Frau hatte uns bereits gesagt, dass die Straße nach der Brücke enden würde, aber wir hatten es nicht glauben wollen. Wir konnten uns einfach nicht vorstellen, dass man eine komplette Brücke für ein einziges Haus baute, das dann auch noch leer stand. Und nicht nur eine. Es gab viele solcher Brücken, im Abstand von nur wenigen hundert Metern. Jede führte zu einem einzelnen Haus. Die Häuser untereinander waren jedoch nicht mit einer Straße verbunden, obwohl es dafür durchaus Platz gegeben hätte.

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Unser Ziel hätte heute eigentlich die Stadt mit dem wohlklingenden Namen Eboli sein sollen. Ob sie vielleicht als Namensgeber für Ebola gedient hatte wissen wir nicht, aber sie war in etwa genauso unangenehm. Heiko vermutete gleich beim Passieren des Ortsschildes, dass wir hier schlechte Karten hatten, und er sollte damit recht behalten. Wir mussten weitere 6km aus der Stadt hinaus in eine kleinere Ortschaft. Hier trafen wir vor der Kirche auf eine ganze Gruppe von Müttern, die ihre Kinder zum Kommunionsunterricht brachten. Der Pfarrer selbst ließ sich in dem Chaos vorsichtshalber nicht blicken, was wir auch gut verstehen konnten. Er gab einer der Damen jedoch per Telefon die Anweisungen, uns einen Raum zu zeigen, in dem wir nächtigen konnten. So nervraubend die Menschen in Eboli zuvor auch waren, so hilfreich waren sie hier. Ehe wir uns versahen hatten uns die Damen drei Pizzen und ein neues Handy organisiert. Es ist kein Smartphone mit dem wir unsere Karten lesen können, aber wir können zumindest schon einmal wieder Kontakt zur Außenwelt aufnehmen.

Spruch des Tages: Kann man denn hier als Hund nicht einmal mit dem Kopf gegen eine Eisenplatte springen, ohne gleich für geistesgestört gehalten zu werden? In Was für einer Welt leben wir eigentlich?

Höhenmeter: 330 m

Tagesetappe: 11 km

Gesamtstrecke: 13.926,27 km

Wetter: eiskalt, Schneeregen, Sturm

Etappenziel: Santuario di San Michele Arcangelo, 71037 Monte Sant Angelo , Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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