Die Wunder von Mariapocz

von Heiko Gärtner
07.09.2016 03:35 Uhr

08.08.2016

Meine Nacht verbrachte ich hauptsächlich auf der Toilette, weil ich fast ununterbrochen pinkeln musste. Mein Körper hatte also wirklich angefangen, die Wassereinlagerungen loszulassen, oder zumindest einen Teil davon. Auch heute wurden wir vom Pfarrer und seiner Frau zum Frühstücken eingeladen und die kleine, freundliche Dame rief sogar in unserem Zielort an, um uns dort schon einmal einen Platz zu organisieren. Das heutige Tagesetappenziel war ein Ort namens Mariapocs. Es war der bekannteste und wichtigste Pilgerort in Ungarn und gleichzeitig eine Art Mekka für die griechischkatholische Kirche. Diese wiederum ist eine verhältnismäßig kleine Untergruppierung der christlichen oder genauer eine Mischung aus griechisch-ortodoxer und römischkatholischer Kirche. Die optische Aufmachung der Kirchen kommt der der Orthodoxen am nächsten und den Pfarrern ist es wie im Orthodoxen erlaubt, eine Familie zu gründen und Kinder zu haben. Dennoch unterstehen sie dem Papst. Bis zu dem Moment, in dem wir Ungarn erreicht haben, hatten wir noch nie von dieser Kirche gehört und wenn wir es richtig verstanden haben, gibt es sie auch nur hier im Land und noch in einigen Regionen der Nachbarländer. Mariapocs ist ihre wichtigste Kultstätte und jährlich pilgert ein Goßteil der griechischkatholischen Gemeinde zu verschiedenen Anlässen dort hin. Da es aber wie gesagt, kaum Mitglieder dieser Gemeinde gibt, bleibt die Zahl der Anwesenden trotzdem immer recht überschaubar.

 

Von der Kirche unseres Pfarrers aus führte bereits ein gut ausgeschriebener Pilgerweg bis an den Heiligenort. Wieder einmal mussten wir dafür jedoch durch einen Sandkasten wandern, der eine Länge von mehreren Kilometern hatte und der dieses Mal von Rubinien eingekreist war. Unsere unplattbaren Reifen waren nun bereit fast ein Jahr alt und hatten knapp 6000km auf dem Buckel. Dadurch waren sie nun so dünn, dass auch sie nicht mehr jeden Dornen abhalten konnten und so ging uns an einem Reifen die Luft aus. Da wir nun ohnehin eine Zwangspause für die Reparatur machen mussten, nutzten wir diese auch gleich, um die Melone zu vernichten, die uns der Pfarrer am Morgen mitgegeben hatte. Wir waren nun durch nahezu jedes Südeuropäische Land gereist und trotzdem bekamen wir die besten Wassermelonen aus einem Garten in Ungarn. Das war doch seltsam oder? Habt ihr euch schon einmal gefragt, warum in Ungarn Pfirsiche, Melonen, Kiwis und viele andere Früchte wachsen, die es bei uns nicht gibt, obwohl Ungarn von den Breitengraden her nahezu auf der gleichen Höhe liegt?

Als wir Mariapoc erreichten, waren wir froh, dass wir bereits im Voraus von der Besonderheit des Ortes gelesen hatten. Wären wir einfach nur durchgewandert, wäre uns die Kirche wahrscheinlich nicht einmal aufgegallen. Sie war schön und gemütlich, aber nicht so spektakulär wie wir es von Vezeley, Santiago oder Fátima gewöhnt waren. Der einzige Unterschied, den wir auf den ersten Blick zwischen dieser Kirche und allen anderen in diesem Land ausmachen konnten war, dass sie zwei Kirchtürme hatte. Als wir versuchten, die Adresse zu finden, die uns die Pfarrersfrau genannt hatte, verliefen wir uns zwei Mal. Anschließend hatten wir bereits alles gesehen, was es hier zu sehen gab.

Die Organisation klappte jedoch perfekt. Wir bekamen ein Zimmer in einer Pilgerunterkunft und anschließend eine kleine Führung durch die Kirche. Alles war sehr freundlich, persönlich und angenehm. Auch dies war etwas, in dem sich dieser Pilgerort sehr deutlich von Santiago unterschied. Oftmals hatten wir vor der Ankunft an einer Heiligenstätte von anderen Pilgern gehört, dass es dort so still und friedlich war. In den meisten Fällen hatten wir dies nicht nachvollziehen können, doch Mariapocs war wirklich ein Ort der Stille und der inneren Einkehr. Nur wenn man ganz genau hinspürte, konnte man auch hier bereit einen nevösen und hektischen Unterton wahrnehmen, der daher kam, dass Jahr für Jahr unzählige Menschen ihr Leid hier her brachten. Von unserer Führerin erfuhren wir nun auch, was er mit dieser Wallfahrtsstätte auf sich hatte, in die jedes Jahr zwischen 600 und 800 Tausend Pilger und Touristen zogen.

Die eigentliche Geschichte des Ortes begann 1696 nach der Befreiung Ungarns von der türkischen Fremdherrschaft. Als Dank für den gewonnenen Krieg, spendete einer der Dorfbewohner der kleinen Kirche eine Ikone der heiligen Maria. Sie wurde damals von jüngeren Bruder des Priesters gemalt, der dafür einen Preis von gerade einmal 6 Forint verlangte. Mit anderen Worten: Es war einfach ein Bild, das weder besonders wertvoll, noch in einer anderen Hinsicht besonders war. Dies sollte sich jedoch einige Monate später ändern, als einem Besucher der Messe auffiel, dass das Bild der Maria weinte. Aus ihren Augen flossen Tränen und rannen über das Bild. Warum sie das taten und wie es überhaupt möglich war konnte sich niemand erklären, aber jeder konnte sehen, dass es geschah. In den folgenden Tagen kamen Beamte, kaiserliche Offiziere, Kardinäle und Schaulustige aller Klassen und Religionen, um das Wunder mit eigenen Augen zu betrachten. Zwei komplette Wochen lang tränte das Bild ohne eine einzige Pause. In dieser Zeit wurde das Bild von insgesamt sechunddreißig Wissenschaftlern untersucht, die unabhängig von einander arbeiteten und teilweise von der Kirche, teilweise vom Staat und teilweise von anderen Glaubensgemeinschaften beauftragt worden waren. Alle kamen zum gleichen Ergebnis: Die Tränen waren echt und es gab keine wissenschaftlich plausible Erklärung dafür.

Die Nachricht über die wundersamen Tränen der Marienikone verbreiteten sich schnell und kamen schließlich auch bis an den Kaiserhof in Wien. Auf das intensive Drängen seiner Frau Kaiserin Elisabeth, veranlasste Kaiser Leopold I. von Österreich-Ungarn, dass das Bild sofort nach Wien gebracht werden sollte, wo es sich bis heute befindet. Den Einwohnern von Mariapocs, das damals lediglich Pocs hieß, war dies natürlich überhaupt nicht Recht, doch gegen die kaiserliche Anordnung waren sie machtlos. Das Bild wurde in einem feierlichen Festzug abgeholt und in den Stephansdom nach Wien gebracht, wo es bis heute hängt und besundert wird. Hier beginnt jedoch erst der wirklich mystische Teil der Geschichte. Die Proteste der Ungarn und ihr Bitten, das Bild wieder zurückzugeben, wurden nicht erhört, aber stattdessen fertigte man eine ganze Reihe von Kopien des Bildes an, von denen eine wieder den ursprünglichen Platz in der kleinen Holzkirche in Pocs einnahm. Knapp zwanzig Jahre lang war dies nur ein schwacher Trost, aber dann änderte sich mit einem Schlag noch einmal alles. Am 1. August 1715 bemerkte der Kantor während des Morgengottesdienstes, dass die Maria erneut zu weinen begonnen hatte. Dieses Mal war der Tränenstrom nicht komplett durchgängig und dauerte auch nicht so lange, doch er war zweifelsfrei da und konnte wieder durch verschiedene Untersuchungen als Authentisch eingestuft werden.

Nun hatte der kleine Wallfahrtsort seinen Ruhm zurückerlangt und es wurde deutlich, dass es nicht das Bild selbst war, auf dass es ankam, sondern der Ort an sich. Das Originalbildnis in Wien weinte seit seiner Entführung aus Mariapocs nie wieder. In Mariapocs selbst, kam es hingegen zweihundert Jahre später, am 3.12.1905 noch einmal zu einem Tränenfluss, der wieder mehrere Tage durchgängig anhielt. Dabei kam es zu einem Ereignis, das die Menschen ganz besonders in Erstaunen versetzte. Die kleine Kirche war noch immer nicht mehr als ein einfacher Bretterverschlag und bot daher keine Wärmeleistung. Eines Tages war es während der Messe so kalt, dass der Wein im Kelch einfror und der Pfarrer seine Hostienvergabe nicht machen konnte. Die Tränen der Maria flossen aber noch immer und machten nicht die geringsten Anstalten, gefrieren zu wollen. Wie war das möglich, wenn nicht durch ein Wunder?

Nun wurde der Adrang der Pilger so groß, dass man sie in der kleinen Kirche nicht mehr unterbringen konnte. In den Folgejahren wurde die große Kirche gebaut, die wir nun besichtigten. Die Holzkirche gibt es noch immer, aber sie ist nun verschlossen und wird allmählich baufällig. Auch das Bild wurde noch einige Male ersezt und schließlich sogar vom Papst persönlich in einen goldenen Ikonen-Anzug gesteckt. Seit sich das Bild nun jedoch in der großen Kirche befindet, gab es keine weiteren Tränen mehr. Zumindest bis heute.

Spruch des Tages: Auch kleine Wunder sind wunderbar

Höhenmeter: 390 m Tagesetappe: 23 km Gesamtstrecke: 17.428,27 km Wetter: bewölkt und schwülwarm Etappenziel: Pfarrhaus, Brunary, Polen

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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