Tag 130: Das Kreuz von Jesus Christus

von Franz Bujor
13.05.2014 07:24 Uhr

Im Haus von Arturo und seinen Jungs aufgenommen zu werden, war eine besondere Ehre. Um uns einzuladen ist Arturo zwei Stunden und 100km mit dem Auto gefahren und das gleiche musste er noch einmal machen, um uns zu unseren Wagen zurückzubringen. Als wir die Jungs in seinem Haus kennenlernten begrüßten sie uns nacheinander, stellten sich vor und hießen uns jeder für sich willkommen. Es hatte wenig Orte gegeben, an dem uns so ein Empfang bereitet wurde, einfach nur, weil wir Gäste waren. Gleichzeitig war zu spüren, dass die Jungs das Haus wirklich als ihr zuhause ansahen. Es war kein Heim für sie, in dem sie untergebracht waren, sondern sie wohnten hier. Das „Herzlich Willkommen!“ war von jedem ernst gemeint. Beim gemeinsamen Abendessen lernten wir sie ein bisschen näher kennen, wenngleich sie es gründlich vermieden, über ihre Vergangenheit zu sprechen. Auch traute sich außer Mohamed niemand Englisch zu sprechen, obwohl sie es zum Teil konnten. Die jungen Männer kamen von überall auf der Welt. Mohamed war aus Marokko, ein großer schlanker Junge mit Brille und unaussprechlichem Namen stammte aus Bulgarien. Zwei Jungs waren aus verschiedenen Teilen von Afrika und einer kam aus Santander. Letzterer hieß Miguel, wurde von den anderen jedoch nur ‚Der Sekretär’ genannt, weil es immer sofort ins Büro lief, wenn das Telefon klingelte. Er war der älteste unter ihnen und hatte es nicht leicht, weil er den anderen durch seine etwas umständliche und sehr trockene Art jede Menge Vorlagen für Scherze gab. Die Stimmung am Abend war gut und fröhlich, wenngleich man deutlich spürte, dass jeder der Männer bereits viel hatte durchmachen müssen. Der Bulgare hatte eine längere Borderline-Phase hinter sich, von der noch immer unzählige Brandnarben auf seinen Händen zeugten, die er sich selbst mit Zigarettenkippen zugefügt hatte. Als wir ihn darauf ansprachen meinte er nur kurz, dass er in seiner Vergangenheit eben verrückt war. Sofort trübte sich die Stimmung, doch Mohammed fing sie wieder auf, indem er das Gespräch unauffällig auf ein unproblematischeres Thema lenkte: „Tobias, magst du eigentlich Äpfel?“

Nach dem Essen ging jeder seiner eigenen Beschäftigung nach, was uns sehr gut passte, da wir ja auch noch einiges zu tun hatten. Erst jetzt fanden wir heraus, dass zwei der Jungs ihr Zimmer für uns geräumt hatten und daher mit einer Matratze auf dem Boden schliefen. Es gibt eben doch sehr unterschiedliche Arten von Gastfreundschaft. Die einen verweigern einem einen Zeltplatz im Garten und die anderen sind froh darüber, einem ihr Bett überlassen zu können.

Da heute Sonntag war, wurde im Haus von Arturo ausgeschlafen. Frühstück gab es um halb zehn und wem das zu früh war, der konnte auch im Bett bleiben. Auch wir hatten die Erholung dringend nötig, doch aus irgendeinem Grund beschlossen unsere Körper, die Schlafphase trotzdem bereits um 8:00Uhr zu beenden. Müde wurden wir dann erst wieder im Laufe des Tages. Zum Frühstück gab es heiße Schokolade und weißbrot mit Marmelade. Damit wurde es das erste ernstzunehmende Frühstück in Spanien, von dem wir sogar satt wurden.

Um 10:30Uhr war dann für alle außer Mohammed Aufbruch angesagt. Wir fuhren nach Potes zur Messe. Mohammed fuhr nicht mit, weil er Moslem war. Er hatte seinen Gebetsteppich in seinem Zimmer. Arturo akzeptierte die religiöse Ausrichtung des Marokkaners, bestand aber dennoch darauf, dass er auch im Evangelium las. „Ich weiß, dass es ihm nicht gefällt“, sagte der Mönch, „doch es ist mein Haus und hier gehört das nun einmal dazu!“

Die Fahrt nach Potes wurde genauso halsbrecherisch wie die Fahrt am Vortag. Bruder Arturo vertraute offenbar so sehr in seine Verbindung zu Gott, dass er sich sicher war zu überleben, auch wenn er alle Verkehrsregeln brach, die es gibt. Auf halbem Weg entschieden wir uns dann noch einmal um. Da wir am Nachmittag nicht allzu spät zu unseren Wagen zurückkehren sollten, um noch einen Schlafplatz für die Nacht finden zu können, kürzten wir unseren Zeitplan für heute um einige Punkte ein. Wir gingen daher nicht mit zur Messe, sondern wurden von Bruder Arturo gleich ins Kloster von Santo Toribio de Liébana gebracht.

Das erste Mal hatten wir bereits in Frankreich von diesem Kloster gehört. Claire, die Frau, die in ihrem Haus am Fluss, mitten in der Wildnis von Südfrankreich lebte, hatte uns von vielen heiligen Orten entlang des Weges berichtet. Diesen hatte sie uns besonders ans Herz gelegt. Danach hatten wir noch von vielen anderen Seiten gehört, dass es in Europa eigentlich nur drei wirkliche Pilgerorte gab: Rom, Santiago und Santo Toribio. Das besondere an diesem Kloster war, dass hier das größte noch vorhandene Stück Holz vom Kreuze Jesu Christi aufbewahrt wurde. Der heilige Toribius von Astorga hatte es im 5. Jahrhundert von Jerusalem nach Spanien gebracht, wo es zunächst im Kloster von Leon aufbewahrt wurde. Als Spanien dann von den Arabern erobert wurde, versteckten es die Mönche von Santo Toribio in ihrem Kloster. Warum die das taten leuchtet absolut ein, wenn man das Kloster sieht. Heute ist es durch eine Bundesstraße zu erreichen, doch zuvor lag es komplett unzugänglich inmitten der Ticas de Europa, die zu den höchsten Bergen Spaniens gehören. Dieser Teil des Landes wurde nie von den Moslem eingenommen. Wahrscheinlich, weil es ihnen einfach zu anstrengend war. Das Kloster hier wurde ebenfalls von einem Mönch namens Toribius gegründet und war zunächst als ein Ort der Ruhe, des Gebetes, der Arbeit, des Studiums und der Buße gedacht. Ob es sich bei dem Retter des Kreuzteils und bei dem Gründer des Klosters um den selben Toribius handelte oder ob nur beide den gleichen Namen hatten, weiß ich nicht. Das Kloster jedenfalls wuchs schnell an und im Laufe der Zeit kamen immer mehr Mönche und immer mehr kleine Nebenkloster hinzu. Seit 1300 Jahren ist das größte erhaltene Stück des berühmtesten aller Kreuze nun in diesem Kloster und seither war es ein beliebtes Ziel für Pilger aus alles Welt. Durch die Berührung des Kreuzes erhofften sie sich Heilung oder Erlösung und es gibt viele Beispiele in der Geschichte, in denen diese Hoffnung auch erfüllt wurde. Doch die Berührung alleine reichte vielen nicht aus und die Pilger begannen, kleine Teile des heiligen Holzes abzubrechen oder mit dem Messer herauszuschneiden. Aus diesem Grund wurde das Relikt immer kleiner und schließlich mussten sich die Mönche etwas einfallen lassen, damit es nicht ganz verschwand. Stellt euch das bitte noch einmal vor, was hier geschehen ist! Da kommen die Menschen von überall auf der Welt in dieses Kloster, um Heilung oder Erlösung zu erlangen und das beste, dass ihnen einfällt, ist das Heiligtum zu zerstören? Wie pervers sind wir eigentlich? Ich würde es mir ja noch eingehen lassen, wenn die Menschen sagen würden, „dies ist nur ein dämliches Stück Holz, ohne jede Bedeutung. Ich glaube eh nicht daran, dass es wirklich vom Kreuze Jesu ist, also warum soll ich es nicht kaputt machen?“ Doch die Menschen, die es zerstören glauben ja wirklich an seine Kraft und zerstören es gerade deswegen. Wie aber kann ich glauben, dass etwas seine heilende Kraft auch dann auf mich überträgt, wenn ich es mutwillig kaputt mache?

Als wir am Kloster ankamen standen bereits zwei Reisebusse mit Touristen auf dem Parkplatz. Wir schauten uns zunächst im Innenhof um und betraten dann die Kirche. Die anderen Besucher waren noch beim Aussteigen, so dass wir zunächst noch unter uns waren. Die Kirche lag fast komplett im Dunklen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Kirchenschiffes zeichnete sich ein riesiges Stahlgitter ab, hinter dem sich eine weitere Kapelle befand. Diese war spärlich beleuchtet und wurde von einem großen goldenen Schrein dominiert, in dessen innerem sich ein goldenes Kreuz befand. War dies jetzt also der Grund, warum wir hier waren?

Ein Mönch kam von der anderen Seite auf das Gitter zu und fragte, ob wir zur französischen Reisegruppe gehörten. Wir verneinten und erzählten, dass wir aus Deutschland kamen und gerade Gäste von Bruder Arturo waren. Daraufhin bat er uns herein und bedeutete uns, in der ersten Reihe der Kapelle Platz zu nehmen. Nun wurde die Kapelle voll ausgeleuchtet und der Touristenstrom quoll herein. Die Reiseleiterin betrat den Altar und stellte sich hinter das Podium der Pfarrers, um ihrer Gruppe von dort aus einen Vortrag über das Kloster und seine Bedeutung zu halten. Zum Ende ihrer Rede erschien wieder der Mönch im Hintergrund, der uns hereingelassen hatte. Diesmal trug er jedoch eine feierliche Robe. Er betätigte einen Schalter an der Rückseite des Schreines, wodurch das Kreuz in der Mitte nach hinten fuhr. Dann öffnete er den Schrein, nahm das Kreuz heraus und legte es auf ein Samtkissen an der Wand. Das Kreuz bestand aus einer Fassung aus vergoldetem Silber, das den Rahmen für ein Sichtfenster aus Glas bildete. Darunter konnte man das Holz sehen, dass vom Kreuze Jesu stammte. Am unteren Ende des Kreuzes war eine kleine quadratische Aussparung in der Silberfassung freigelassen worden, durch die man das Holz selbst berühren konnte. An dieser Stelle war es durch die vielen Hände bereits so glatt poliert, dass es glänzte.

Die Besuchergruppe erhob sich von ihren Bänken und einer nach dem anderen stellten sie sich in eine lange Schlange vor dem Altar. Die erste Frau ging um den Schrein herum auf das Kreuz und den Mönch zu und strich mit der Hand kurz über das untere Ende des Reliktes. Dann ging sie weiter und machte Platz für den nächsten. Nach jeder Berührung wischte der Mönch mit einem Tuch über das Kreuz, um es wieder rein für den nächsten zu machen.

Wir waren sprachlos! Dies war also aus einem heiligen Ritual geworden, dass eine der letzten erhaltenen Relikte aus dem Leben von Jesus Christus ehren sollte? Vollkommen egal, ab dieses Stück Holz nun wirklich das echte Kreuz von Jesus war oder nicht, es war hier für mehr als 1000 Jahre lang geehrt worden und nun war es nichts anderes mehr als Mittelpunkt einer kurzen Massenabfertigung? Wir mussten an die Rituale denken, denen wir bei Darrel und bei anderen Medizinleuten beiwohnen durften. Wie lange waren wir darauf vorbereitet worden und wie intensiv waren die Begegnungen gewesen. Wie sollte es jedoch bei so einem hektischen Ablauf zu einer geistigen Erkenntnis kommen? Es gab nur einen Weg um das herauszufinden.

Wir stellten uns in die Schlange und warteten, bis wir an der Reihe waren. Die vielen Schilder, die das Fotografieren verboten, waren von unseren Vorgängern bereits fleißig ignoriert worden und der Mönch hatte es desinteressiert gebilligt. Daher fragten auch wir, ob wir einige Fotos machen dürften. Er nickte teilnahmslos. Überhaupt war uns aufgefallen, dass er die ganze Prozedur als lästig ansah. Er war von den Touristen genervt und wollte es möglichst schnell hinter sich bringen. Auch das Kreuz behandelte er eher wie einen Wischmob als wie ein Heiligtum. Weder beim herausnehmen, noch beim hinlegen ließ er Vorsicht walten. Er hatte resigniert, das war nicht zu übersehen.

Ich machte zwei Bilder und steckte dann die Kamera wieder ein. Dadurch war ich etwas langsamer, als die anderen Touristen und brachte den Mönch in seiner mechanischen Wischbewegung durcheinander. Gerade als ich das Holz berühren wollte, wischte er mir über die Finger. Ich war so irritiert, dass ich ganz vergaß, darauf zu achten, ob ich bei der Berührung irgendetwas spürte. Heiko fotografierte schneller, ließ sich dafür jedoch mehr Zeit mit der Berührung und konzentrierte sich darauf, was für Gefühle in ihm aufkamen. Plötzlich spürte er, wie sich sein Herz verkrampfte. Für einen Moment glaubte er, es sich eingebildet zu haben, doch dann war er sich absolut sicher. Das einengende Gefühl im Herzen war zuvor nicht da gewesen und es war auch danach nicht mehr zu spüren. Nur in diesem einen Moment. Und da war es überdeutlich. Der erste Impuls war, dass es sich bei dem Gefühl wahrscheinlich um den Schmerz handelte, den all die Menschen im Laufe der Jahrhunderte in die Reliquie hineingegeben hatten. Tausende und Abertausende von Menschen waren hier hergekommen um ihr Leid und ihre Schuld in das Heiligtum zu legen. Es war also nicht verwunderlich, wenn dieser Schmerz spürbar wurde. Später erfuhren wir jedoch, dass es wahrscheinlich sogar noch tiefer ging. Der Überlieferung nach war dieses Stück Holz, der Teil des Kreuzes gewesen, an dem sich Jesus linker Arm befunden hatte. Der Arm also, der in Verbindung mit seinem Herzen stand. Plötzlich fiel es Heiko wie Schuppen von den Augen. Was war, wenn alles eine viel tiefere Bedeutung hatte, als wir bisher angenommen hatten? Bereits in San Sebastian hatte er plötzlich das Gefühl gehabt, Jesus zu verstehen, der als Heiler durch die Lande gezogen war, um am Ende dafür von genau den Menschen ermordet zu werden, denen er helfen wollte. Das war nun rund zwanzig Tage her und nun standen wir durch einen Haufen von verketteten Zufällen oder Fügungen vor dem Kreuz und erneut spürte er, wie sich Jesus vor zweitausend Jahren gefühlt haben musste. Dass erschreckende war, dass die Menschen seither nichts dazu gelernt hatten. Die Pilger, die das Kreuz aufsuchten um Jesus durch diese Hinterlassenschaft um Heilung zu bitten, brachten dem Relikt genauso wenig Respekt und Dankbarkeit entgegen, die Menschen seiner Zeit Jesus selbst. Wir machten immer und immer wieder die gleichen Fehler. Die Geschichte drehte sich im Kreis und das obwohl, oder gerade weil, wir glauben, dass wir es nun endlich begriffen haben. Doch was würde beispielsweise passieren, wenn wir heute einen Diktator an unsere Spitze stellen würden, der das gleiche Kaliber hätte wie Hitler? Wären wir wirklich immun gegen die Manipulation, weil unsere Großeltern oder Eltern sie bereits erfahren hatten? Klar sagen wir immer, dass so etwas nie wieder passieren könne, doch ist das wirklich wahr? Braucht es nicht viel mehr nur neue Tricks und Geschichten und wir würden ihm wieder genauso blind folgen, wie es unsere Vorfahren gemacht hatten? Genauso, wie wir diejenigen, die wirklich hilfreich sein wollen immer und immer wieder verbannen, fallen wir auch immer und immer wieder auf die Tricks derer herein, die uns im Nahmen einer besseren Zukunft versklaven und manipulieren.

„Ich habe keine Ahnung, wohin das ganze führen soll!“ sagte Heiko schließlich, als wir am Abend über die Geschehnisse reflektierten, „vielleicht will mir dieser Jesus ja wirklich noch irgendetwas mitteilen. Vielleicht habe ich mich auch einfach nur zu oft über ihn lustig gemacht und jetzt will er es mir heimzahlen. Oder es geht gerade darum, seinen Weg der Heilung zu lernen, weil wir gerade dabei sind, den Spuren des Christentums zu folgen. Ich weiß es nicht, aber ich habe wirklich dass Gefühl, dass das Ganze immer mehr ein Bild ergibt. Weißt du noch, dass wir kurz vor dem Ende des Jahres 2011 die vielen Rabenkrähen gesehen haben?“

Ich nickte. Damals waren wir in Neumarkt spazieren gegangen, als sich plötzlich der Himmel verdunkelte. Tausende von Rabenkrähen flogen über unsere Köpfe hinweg und setzten sich alle gemeinsam auf eine Baumgruppe. Dann erhoben sie sich wieder, flogen eine Runde und ließen sich erneut auf den Bäumen nieder. Das Schauspiel dauerte etwa eine halbe Stunde, dann verschwanden die Vögel langsam. Später fanden wir heraus, dass die Rabenkrähen seit Jahrtausenden die Boten der Wandlung und des Neubeginnes sind. Das alles geschah nur eine Woche vor dem Jahreswechsel zu 2012, dem Jahr, in dem auch der Mayakalender einen großen Wandel auf der Erde ankündigte. Die meisten Menschen haben das inzwischen wahrscheinlich bereits wieder vergessen, weil der große Weltuntergang ausgeblieben war, der allgemein erwartet wurde, doch seither war viel passiert. Keine großen Crashs oder Systemzusammenbrüche, aber viele kleine Zeichen, die allesamt Zufall sein konnten, wenn man nicht weiter über sie nachdachte. Oder aber es waren die Anzeichen einer Veränderung, die noch niemand begreifen oder verstehen konnte. Wer weiß!

„Ich musste in letzter Zeit immer wieder daran denken!“ fuhr Heiko fort. „Schon damals waren wir uns nicht sicher, ob die Vögel für uns da waren oder ob sie uns auf eine Veränderung in der Welt hinweisen wollten. Und überleg dir mal, wie oft wir seither Menschen begegnet sind, die auf die verschiedensten Arten unglaubliche Zeichen und Hinweise bekommen haben. Tierboten, Krankheiten, Schicksalsschläge oder -fügungen und so weiter. Und immer waren es Leute, die ein Talent in sich trugen, von dem sie wussten, dass sie sich aber nicht zu leben und zu nutzen trauten. Es geht ja nicht nur uns so, sondern fast allen Menschen, denen wir begegnen, oder die wir von zu Hause kennen. Ich habe gestern Abend nachgeschaut, wofür die Smaragdeidechsen stehen, die uns in letzter Zeit so oft begleitet. Sie weisen einen darauf hin, dass man nicht alles auf sich beziehen soll. Vor allem kommen sie dann, wenn man dazu neigt, die Stimmungen und Gefühle anderer zu übernehmen und zu seinen eigenen zu machen. Beides kommt dir wahrscheinlich genauso bekannt vor wie mir. Und sie sagen, dass man nicht jeden retten oder heilen kann. Jeder hat ein besonderes Talent oder eine Gabe, die er auf die Welt bringen soll und mit der er seinen Teil zum Leben beiträgt. Aber wir glauben ständig, dass wir alles können müssen. Damit sind wir dann auch schon wieder bei unserem Freund Jesus. Überleg dir mal, was wir aus ihm gemacht haben. Wahrscheinlich war er echt ein cooler Typ und ein krasser Heiler, der auf seinem Gebiet wirklich was drauf hatte. Doch wir machen einen Heiland aus ihm, einen Wundermenschen, der zur Hälfte ein Gott ist und der plötzlich all unsere Probleme lösen muss. Wahrscheinlich hat er irgendwann einmal so etwas gesagt wie „Ich bin genauso ein Sohn Gottes, wie jedes andere Lebewesen auf dieser Erde auch!“ und die Menschen haben dann „Ich bin der Sohn Gottes und werde euch alle erlösen!“ daraus gemacht. Nichts anderes passiert ja mit allen anderen Heilern auch. Es wird immer erwartet, dass sie alle Probleme Lösen und jeden Retten können, ohne dass man selbst etwas dafür tun muss. Da ist es doch kein Wunder, dass ein Medizinsystem entsteht, in dem die Ärzte als Götter in Weiß angesehen werden, die jeden Unfug treiben dürfen, ohne dass man sie hinterfragt. Und es ist auch kein Wunder, dass jeder der wirklich helfen will und die Menschen in ihre eigene Verantwortung nimmt, am Ende gelyncht oder zumindest verpönt wird. Das sind wieder genau die gleichen beiden Prinzipien, über die wir bereits zuvor gesprochen haben. Wir sagen zwar, dass wir einen Erlöser suchen, der uns hilft frei und gesund zu werden, doch in Wirklichkeit suchen wir einen Diktator, der uns im Nahmen der Freiheit und der Gesundheit das Denken abnimmt. Wie gesagt, ich habe keine Ahnung, wohin uns diese Reise hier führt, aber ich bin mir absolut sicher, dass es dabei um immer mehr geht, als bloß um einen Spaziergang nach Santiago, Rom oder Israel.“

Wir waren die letzten, die das Kreuz berühren durften. Nach uns wurde es wieder zurück in den Schrein gelegt und darin eingesperrt. Zumindest für gute zehn Minuten, denn die nächste Touristengruppe wartete bereits vor der Tür. Später auf der Heimfahrt fragten wir Bruder Arturo, was er von dem Touristentrubel in Santo Toribio hielt.

„Ich bin ganz eurer Meinung,“ sagte er, „dass der Tourismus viel von dem Zerstört, war das Kloster einst ausgemacht hat. Doch leider ist das der Fluch unserer Zeit. Es gibt nichts, dass nicht durch die Masse der Menschen so überlaufen ist, dass es seine ursprüngliche Bedeutung halten kann. Und dafür finde ich das Kloster von Santo Toribio de Liébana noch sehr human. Wenn ihr euch Vézeley oder Lourdes anseht, dann ist es dort noch tausendmal schlimmer. Die Mönche hier haben darauf geachtet, dass es keinen Touristenrummel gibt. Es gibt eine Souvenirläden, keine Fressbuden und keine sonstigen Attraktionen für Touristen. Auch die Messen finden noch genauso statt, wie sie traditionell abgehalten wurden. Die Touristen haben dabei keinen Zutritt. Und der ganze Rummel existiert hier auch nur in den Sommermonaten. Von Oktober bis Ende März ist es hier noch genauso still wie vor hundert oder tausend Jahren.“

Das stimmte wahrscheinlich, doch jetzt war es kaum vorstellbar. Als wir zurück in die große Kirche kamen, war diese bis zum Rand mit Menschen gefüllt. Wobei ich zugeben muss, dass auch daraus einige kraftvolle Momente entstanden. Am Altar stand eine ältere Dame aus Frankreich und sang eine Arie über Jesus, Maria und den heiligen Geist. Sie hatte sich offenbar lange auf diesen Moment vorbereitet und hatte die Mönche gebeten, das Lied vom Altar aus vortragen zu dürfen, bevor sie das Kreuz berührte. Dies war schon eher der Umgang mit einem Heiligtum, bei dem man sich einen Kontakt zum Göttlichen vorstellen konnte.

In einer Ecke links neben dem Altar stand der Sarkophag des heiligen Toribius, aus dem ebenfalls viele Stücke herausgeschnitten oder gebrochen waren, die sich Pilger als Andenken mit nach hause genommen hatten. Auf dem Weg zum Ausgang kamen wir an einem Pfarrer vorbei, der seitlich auf einer Bank saß. Er grüßte uns und vertiefte sich dann wieder in sein Smartphone. Die Ambivalenz hier war kaum zu beschreiben.

Später fragten wir Arturo, wie sicher es war, dass das Holz wirklich vom Kreuze Jesu stammte. Hundertprozentig bewiesen oder beweisbar war es natürlich nicht. Doch es hatte eine Untersuchung gegeben, die besagte, dass das Holz wirklich etwa 2000 Jahre alt war und von einer Pinienart stammte, die es fast nur in Israel gibt. Ansonsten gibt es viele historische Aufzeichnungen und Dokumente, die im Zusammenhang mit dem Relikt stehen und die beschreiben, dass es sich dabei um den Teil des Kreuzes handelte, an dem Jesus linker Arm befestigt wurde. Darüber hinaus, war es natürlich eine Frage des glaubens.

Wieder im Freien wollten wir erst mal ein bisschen Abstand zwischen uns und den Touristenfasching bringen. Die Berge lagen leider noch immer komplett im Nebel versteckt, doch man konnte ihre kraftvolle Präsenz spüren. Wir wanderten einen kleinen Pfad zu einer Kapelle hinauf, die ebenfalls zum Kloster gehörte. Obwohl auch sie mit Infotafeln für Touristen ausgestattet war, war dieser Platz noch einmal um einiges kraftvoller und auf seine Art beeindruckender als das Kloster selbst. Über uns zog ein Gänsegeier seine Kreise. Kurz darauf kam ein zweiter und wenig später sahen wir sogar sieben der riesigen Greifvögel, die über dem Kloster im Wind glitten. Als wir schließlich zum Kloster zurückkehrten waren die ersten beiden Touristenbusse verschwunden. Dafür standen nun zwei neue auf dem Parkplatz.

Um 13:00Uhr holte uns Arturo wieder ab, damit wir in seinem Haus gemeinsam zu Mittag essen konnten. Als er anfahren wollte würgte er jedoch den Motor ab, was ohne funktionierende Batterie nicht besonders hilfreich war. Doch wie sich herausstellte, hatte er seinen Wagen weitaus besser im Griff als wir geglaubt hatten. Er ließ ihn rückwärts ein Stück den Berg hinunterrollen, schaltete dann ein paar mal hin und her und nutzte die Erdanziehungskraft als Starthelfer. Keine zwei Minuten später lief der Motor und wir konnten die halsbrecherische Fahrt nach Hause antreten.

Hier merkte man deutlich dass Sonntag war, denn die Jungs langweilten sich fast zu Tode. Normalerweise waren sie mit der Arbeit beschäftigt, so dass sie genug zu tun hatten. Doch heute hatten sie Freizeit und der Ort bot zwar eine gigantische Aussicht, ansonsten aber wenig, mit dem man sich als Jugendlicher die Zeit vertreiben konnte. Von zwei Fernsehern und zwei Computern mit Internet einmal abgesehen. Mohammed zum Beispiel war in Marokko-City aufgewachsen, einer Stadt mit 6 Millionen Einwohnern und täglich rund 4,5 Millionen Touristen. Er vermisste die Großstadt und den Kontakt zu anderen Menschen. Beim genaueren Befragen sickerte allerdings durch, dass er vor allem den Kontakt zu Frauen vermisste, denn die gab es hier in seinem alter nahezu überhaupt nicht.

Beim Tischdecken wurde noch einmal deutlich, wie sehr sich die Jungs selbst im Weg standen. Einer deckte den Tisch, dann kam der nächste, deckte alles wieder um und ließ sich dann von einem dritten dafür anmaulen, weil noch immer nicht alles vorhanden war. Dabei erklärte uns jeder einzelne, dass er der einzig normale in diesem Haus sei, während alle anderen einen Schatten hätten. Auf der einen Seite war es ein lustiges Schauspiel, doch auf der anderen Seite zeigte es auch, wie viel hier noch unter der Oberfläche verborgen lag. Es dauerte wirklich eine halbe Stunde, bis der Tisch einigermaßen gedeckt war, weil keiner der Jungs wirklich hinsah, was noch fehlte. Am Ende ließen sie ihn unfertig wie er war und handelten sich dafür von Arturo einige Rüffler ein, der dann selbst für Ordnung sorgte. Niemand jedoch richtete den Blick auf sich selbst, um zu sehen, wo seine eigenen Lebensthemen lagen. Immer waren es die anderen, die an allem Schuld waren. Schließlich eskalierte die Situation ein wenig, als sich der junge Mann aus Bulgarien durch einen anderen Bewohner angegriffen fühlte und deswegen zu brüllen anfing. Es dauerte aber nur Sekunden, bis Arturo wieder für Ruhe gesorgt hatte. Es war nicht leicht mit den Jungs umzugehen, doch er wusste, was er tat. Er wurde respektiert und geachtet. Die Jungs mochten ihn, stellten seine Autorität aber niemals in Frage. Der Mönch war ein strenger aber gerechter und herzlicher Leiter, wenngleich auch er es vermied, die Themen, die unter der harmonischen Oberfläche brodelten, ans Tageslicht kommen zu lassen. Es brauchte nicht viel als Auslöser, um die unterschwelligen Aggressionen, die in jedem der Männer steckten, aufkochen zu lassen. Den absoluten Höhepunkt leistete sich Miguel, der von Arturo gebeten wurde, einige Flaschen Cola aus dem Kühlschrank zu holen. Dieser kam daraufhin mit acht Flaschen Cola zurück, die komplett tiefgefroren waren. Er hatte sich sogar seinen Pullover um die Hand gewickelt, damit er die Kälte nicht spürte, war aber nicht auf die Idee gekommen, das die Getränke in diesem Zustand nicht trinkbar waren. Gleichzeitig warf die Aktion natürlich die Frage auf, wie die Flaschen in die Gefriertruhe geraten waren. Dieses Rätsel blieb jedoch ungelöst. Ebenso ungelöst blieb die Frage, warum es in einer Einrichtung, die fast die ganze Nahrung selbst anbaute zu jeder Mahlzeit Cola gab.

Vor dem Essen beteten wir gemeinsam und bedankten uns bei Gott, den Pflanzen, Tieren und allen anderen, die zum Essen beigetragen hatten, dass wir nun ein gutes Mahl vor uns stehen hatten. Es gab Paella, ein typisch spanisches Reisgericht mit Oliven und unterschiedlichen Meeresfrüchten und zum Nachtisch Milchreis mit Zimt. Wir waren uns einig, dass es das bisher leckerste Essen in Spanien war. Nur der Milchreis war eine Nummer zu süß gewesen.

Nach dem Essen war es Zeit Abschied zu nehmen. Nicht nur von den Jungs, sondern auch von dem Ort, den Bergen und der kleinen, alten, zotteligen Hündin mit den treuen Augen, die uns jedes Mal so schmusebedürftig ansah, wenn wir ihr begegneten. Als gestern angekommen waren, hatte die alte Hundedame nur traurig in einer Ecke gesessen. Seit drei Tagen schon ging es ihr nicht gut und sie mochte kaum mehr fressen. Wir hatten ihr ein paar Streicheleinheiten gegeben und uns eine Weile mit ihr unterhalten. Am Abend war sie dann bereits wieder durch den Garten gelaufen und jetzt wirkte sie wieder richtig munter. Als sie spürte, dass wir gehen würden, schluchzte und quiekte sie herzzerreißend. Auf die Jungs fragten uns, ob wir nicht doch am Abend wiederkommen wollten. An sich hätten wir nichts dagegen gehabt, aber allein logistisch war es ja bereits unmöglich.

Bei der Autofahrt nach Unquera zeigte sich, dass ein Magen der mit Meeresfrüchten Gefüllt war doch nicht unbedingt die beste Voraussetzung für diese Achterbahnfahrt war. Arturo raste um die Kurven als gäbe es kein Morgen mehr und es dauerte genau drei Minuten, bis und so schlecht war, dass wir Mühe hatten, uns nicht zu übergeben. Wir waren das Autofahren einfach nicht mehr gewöhnt und vor allem nicht in so einer Geschwindigkeit. Kurioser Weise verursachte sie Fahrt gleichzeitig Stress und Müdigkeit. Ununterbrochen wurden wir in unseren Sitzen hin und hergeworfen und die Stöße, die unser Genick abfedern musste, verspannten es mehr als drei Tage Pyrenäenbesteigung. So unangenehm uns die Autos als Fußgänger geworden waren, wenn sie an uns verbeirauschten, so unangenehm war uns nun auch das Autofahren selbst. Die Lautstärke war fast unerträglich und auch die hohe elektromagnetische Strahlung wirkte sich schon sehr bald aus. Es dauerte nicht lange und wir wurden so müde, dass wir trotz der Höllenfahrt einschliefen. Auch Miguel, der uns bis nach Unquera begleitete, nickte weg und kam erst wieder zu sich, als wir vor der Bar parkten, in der sich unser Gepäck befand. Vielleicht sind wir durch unsere lange Zeit als Wanderer wirklich sensibler für solche Sachen geworden, aber gesund kam uns das Autofahren nicht vor. Auf dem ganzen weiteren Weg war uns schlecht und noch immer dröhnt mir der Kopf.

„Bei allem was wir heute erlebt haben,“ sagte Heiko am Abend, während er seinen Bauch streichelte, „hat mich die Autofahrt dennoch am meisten beeindruckt. Auf der einen Seite bin ich sehr dankbar dafür, was sie uns alles ermöglicht hat. Wir hätten niemals zu Arturo oder nach Santo Toribio wandern können. Nicht mit unseren Wagen. Aber auf der anderen Seite bin ich gerade wirklich entsetzt darüber, wie schädlich dieses Autofahren ist. Überleg dir mal, wie lange wir uns jetzt wieder davon erholen müssen und wie viel Zeit ein normaler Mensch in unserer Gesellschaft im Auto verbringt. Wie viel Zeit haben wir früher im Auto verbracht! Manchmal fast den ganzen Tag. Das kann einfach nicht gut sein. Denk noch einmal an den alten Mann von gestern, der bereits einen erhöhten Puls beim Frühstück hatte, nur weil ihm die Herberge nicht gefiel. Was muss er erst für einen Puls haben, wenn er in einem Auto sitzt? Ich weiß, dass es für viele Dinge echt praktisch ist, aber ich glaube dennoch, dass Autos mit zu den negativsten Erfindungen in der Geschichte der Menschheit gehören. Denk einmal an alles, was dadurch überhaupt erst entstanden ist: Der ganze Lärm, die Autobahnen, der Stress, dass wir ständig überall sein müssen, der ganze Wahnsinn, dass wir unsere Waren und Lebensmittel um die halbe Welt transportieren, weil der Sprit günstiger ist als ein Lagerhaus oder die Arbeiter im eigenen Land und so weiter. All das wäre ohne Autos nie entstanden. Und wofür? Für ein bisschen mehr Mobilität, dafür, dass wir schnell von A nach B kommen und dabei vergessen, dass wir eigentlich weder bei A noch bei B sein wollen. Ich glaube nicht, dass die Menschen so viele Stresskrankheiten hatten, als es noch keine Autos gab.“

Doch für´s erste wurden wir die motorisierten Vierräder nicht los. Unser Weg führte uns weiter an der Schnellstraße entlang bis nach Colombes, wo wir hofften, einen guten Schlafplatz aufzutreiben, in dem wir ausreichend Ruhe finden würden, um die vielen Erlebnisse des Tages festhalten zu können. Doch ganz so einfach sollte es dann doch wieder nicht werden.

Spruch des Tages: Glaube versetzt Berge

Höhenmeter: 290 m

Tagesetappe 8 km

Gesamtstrecke: 2626,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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