Hilfe von allen Seiten

von Franz Bujor
29.04.2014 21:17 Uhr

Heute war der Tag der großen Reparaturen. Ein Tag, der so voll war, dass ich erst um 1:30Uhr in der Nacht dazu komme, meinen Bericht zu schreiben. Auch Heiko sitzt noch immer an den Bildern des Tages, die heute eine besondere Herausforderung für ihn waren. Es hat wieder einmal den ganzen tag durchgeregnet und langsam wird uns klar, warum der Norden Spaniens eine so fruchtbare Gegend ist. Die viele Feuchtigkeit machte das Fotografieren nahezu unmöglich, da wir unsere Kameraausrüstung wasserfest verpacken mussten. Die wenigen Male, an denen wir uns trauten, wenigstens die kleine Kamera herauszuholen, hatten wir sofort Wassertropfen auf der Linse. Abgesehen davon war es so diesig, dass man eh kaum etwas sehen konnte. Ein hartes Brot für Heikos Fotografenherz, vor allem, da wir heute Bilbao erreichten, die größte Stadt auf dem Weg nach Santiago, die durchaus einiges zu bieten hatte. Doch dazu komme ich später.

Wir verließen unser Nachtlager im Rentnerhaus ohne Frühstück und wanderten die letzten Kilometer nach Bilbao. Der Weg konnte nicht mehr weit sein und dort würden wir sicher reichlich Nahrung auftreiben. So zumindest klangen unsere naiven Gedanken am Anfang des Tages. Weniger naiv sahen wir unserer übrige To-Do-Liste: Bis zum Ende des Tages mussten wir einen Schlafplatz in einer Stadt mit einem Einzugsgebiet von einer Million Menschen auftreiben, eine Lösung für unser Bremsenproblem finden, die Achsen unserer Wagen fixieren, die sich ständig verdrehten und eine neue Aufhängung für unsere Hüftgurte kreieren. Letztere hatten sich bereits fast vollständig durchgescheuert und da wir sie nicht immer wieder erneuern wollten, brauchten wir eine neue Lösung. Außerdem brauchte Heiko einen neuen Pullover und wir brauchten eine Straßenkarte von hier bis nach Santiago, um dem Jakobsweg nicht mehr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein. Ansonsten hatten wir keine großartigen Pläne für heute. Abgesehen von ein bisschen Entspannung und einer gemütlichen Stadtbesichtigung vielleicht.

Das wir bis auf die Straßenkarte, den Pulli und die Entspannung tatsächlich alles bekommen sollten, was wir uns vorgenommen hatten, hätten wir am Morgen noch für absolut unmöglich gehalten. Und wenn man es rein vom logischen Menschenverstand betrachtet war es auch absolut unmöglich. Dass es dennoch klappte, verdanken wir einer ganzen Reihe von glücklichen Zufällen. Oder besser gesagt, wir verdanken es allen guten Mächten, die ihre schützende Hand über unsere Reise legen und die uns wirklich nach Leibeskräften unterstützen.

Kaum hatten wir Lezama verlassen, kamen wir an einer Autowerkstatt vorbei. Der Betreiber erklärte sich nach einem kurzen und etwas komplexen Gespräch bereit, eine kleine Stahlplatte zur Verstärkung an unsere Ache zu schweißen. Versucht einmal Sätze wie: „Die Achse dreht sich immer nach hinten, so dass man die kleinen Steckachsen zum Fixieren der Räder nicht mehr festschrauben kann“ auf Spanisch zu sagen! Das mag ja möglich sein, aber ich wäre fast daran verzweifelt. Zum Glück gibt es Zeichensprache und eine große Palette an Lauten wie „Mhh!“, „Brr“, „Pffft“ und „Ohh!“ mit denen man seiner Erklärung Ausdruck verleihen kann. Und zum Glück war der Mechaniker sehr geduldig, verständnisvoll und Hilfsbereit. Eine Stunde lang kümmerte er sich um unsere Belange. Wir räumten unsere Wagen aus, verteilten den Inhalt in der ganzen Werkstatt und bauten unsere Lastenfahrzeuge in der Mitte auf. Dann wurde geschweißt, geflext und gesprüht was das Zeug hielt. Die Funken flogen im ganzen Raum umher und am Anfang machte ich mir ernsthafte Sorgen um unsere Wasserdichten Packsäcke. Feuer und Kunststoff verträgt sich einfach nicht besonders gut. Doch in diesem Fall passierte rein gar nichts. Am Ende lackierte der Mann die Schweißnaht noch mit einer Sprühfarbe und wünschte uns dann eine gute Reise. Geld verlangte er nicht. Sonst wären wir für die Stunde und den Aufwand sicher gut und gerne 100€ losgewesen und hätten uns ernsthafte Gedanken machen müssen, wo wir die auftreiben.

Von der Werkstatt aus folgten wir einer großen Hauptstraße. Der Jakobsweg bog kurze Zeit später links ab, aber wir entschieden uns dagegen. Laut der Beschreibung führte er wieder einmal über Unmengen von Trampelpfaden, die bei dem Dauerregen sicher eine reine Schlammschlacht geworden wären. Wir wollten stattdessen die nächste Straße nehmen. Diese verpassten wir jedoch und liefen daher immer weiter geradeaus. Bilbao ist eine Stadt, die sich über viele Kilometer an einem Fluss entlangschlängelt und die von der Außenwelt durch eine hohe Bergkette abgetrennt ist. Wir wussten es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, aber wir liefen gerade auf der falschen Seite des Berges immer weiter an der Stadt entlang. Wie sich herausstellte, war dieser Umweg für uns jedoch ein einzigartiger Segen. Denn auf diese Weise standen wir plötzlich vor der wahrscheinlich einzigen Firma in der gesamten Region, die Industriebandmaterialien für jeden Bedarf herstellte.

Genau wie zuvor in der Werkstatt waren auch die Menschen hier sofort bereit uns zu helfen und nähten uns passende Gurtbänder zurecht, mit denen wir unsere Wagen an unseren Hüftgurten fixieren konnten. Auch hier bekamen wir die Leistung und das Material geschenkt. Wir bekamen sogar noch eine kleine Spende von 10€ dazu. So endtäuscht wir von vielen Menschen in Spanien auch sind, so begeistert sind wir von anderen.

Damit hatten wir bereits zwei Punkte abgehakt. Zumindest teilweise, denn aus beiden Lösungen ergaben sich neue Probleme. Die Achse hatte sich durchs Schweißen ein bisschen Verzogen und an meinem Wagen gab es dadurch ein unangenehmes Klappern. Auch stoppte die Metalplatte die Rotationsbewegung noch nicht vollständig. Sie verhinderte zwar, dass die Schrauben für die Steckachsen ganz verschwanden, doch wirklich fest war die Achse noch immer nicht. Auch die Bandschlingen hatten noch das Problem, dass sie durch die Aufhängung rutschten und sich so mit der Zeit selbst zerstören würden. Doch fürs erste war es schon einmal Besser als zuvor.

Das Problem, dass wir jetzt hatten, war einen Weg in die Stadt zu finden. Zwischen ihr und uns lag noch immer der Bergkamm, der unüberwindbar schien. Die Menschen, die wir nach dem Weg fragten, rieten uns mehrheitlich wieder komplett zurück zu gehen und dann der Bundesstraße zu folgen. Eine Idee, mit der wir uns gar nicht anfreunden konnten.

Plötzlich sahen wir etwas, dass uns alle Aufgaben des Tages vergessen ließt! Wir befanden uns fast direkt neben dem Flughafen von Bilbao und konnten gerade einem Passagierflugzeug beim Landen zusehen. Das alleine war noch nicht besonders spektakulär. Was uns aus der Fassung brachte, war viel mehr das, was das Flugzeug während seiner Landung machte. Es versprühte ganze Wolken von Kerosin in der Luft. Direkt über den Häusern der Vorstädte. Wie nicht anders zu erwarten, war die Luft kurz darauf von einem intensiven Kerosingestank erfüllt. Heiko erzählte, dass er bereits davon gehört hatte, dass Flugzeuge ihren Treibstoff vor der Landung ablassen um bei einer Panne nicht komplett in die Luft zu fliegen. Doch im Allgemeinen wurden solche Behauptungen immer abgestritten. Jetzt hatten wir es zum ersten Mal mit eigenen Augen gesehen. Kurze Zeit später folgte ein zweites Flugzeug mit der gleichen Prozedur. Bei dem regen Flugverkehr musste die komplette Gegend mit Kerosin verseucht sein.

Als wir schließlich doch einen Weg in die Stadt fanden, begann der mühselige Aufstieg auf die Bergkette. Wir hatten noch immer nichts gefrühstückt, außer einem kleinen Baguette und einer Banane und so dauerte es nicht lange, bis wir mit unserer Energie vollkommen am Ende waren. Als wir es schließlich auf den Gipfel geschafft hatten, wurde zum ersten Mal der Blick auf die Stadt frei. Sofort wurde uns klar, dass wir eigentlich nicht dort hinwollten. Im Nebel erhoben sich die Silhouetten unzähliger Hochhäuser und Straßenschluchten. Wie sollten wir uns dort jemals zurechtfinden? Und wie sollten wir überhaupt erst einmal dort hingelangen? Die Straße führte nur auf dem Kamm entlang, nicht aber nach unten in die Stadt.

Es dauerte eine weitere komplette Stunde, bis wir die ersten Häuser erreicht hatten. In dieser Stunde mussten wir uns mit irreführenden Straßen herumschlagen, Treppen hinunter steigen und steile, schlammige Trampelpfade bewältigen. Wir hatten uns vorgenommen, die Bremsen möglichst wenig zu beanspruchen, bis wir die Zugseile auf Brandschäden vom Schweißen kontrolliert hatten, doch dieser Vorsatz hatte hier keinen Bestand mehr. Die Pfade führten zum Teil fast senkrecht nach unten und ohne volle Bremskraft waren sie nicht zu bewältigen. Heiko ging vor mir und vertraute dem Lehmboden an einer Stelle, an der er ihm besser nicht vertraut hätte. Ehe er sich versah, verlor er sämtliche Bodenhaftung und rutschte den Hang hinab. Seine Reifen blockierten, hatten aber genauso wenig Gripp wie seine Schuhsolen und so slideten die beiden rund zehn Meter weiter nach unten. Heiko blieb fast das Herz stehen. Er brauchte etwas zum Abbremsen, aber ein Baum war jetzt sicher die falsche Wahl. Intuitiv lenkte er sich nach rechts und geriet so in eine Mulde, die seiner Rutschpartie ein sanftes Ende setzte. Ich war so sehr darauf konzentriert, das Gleichgewicht zu halten, dass ich Heikos plötzliches Verschwinden nicht einmal bemerkte.

„Tobi!“ rief er von unten, „Hier ist es verdammt glatt! Also wirklich glatt! Bleib auf keinen Fall auf dem Weg, sondern geh nach links!“

Links des Weges befanden sich niedrige Pflanzen und etwas Dickicht. Es war nicht unbedingt der beste Weg, aber er konnte funktionieren.

„Oh,“ sagte Heiko, als ich fast unten war und mich an einem Baum abstütze um nicht zu schnell zu weit unten zu sein, „Ich glaube ich hab eigentlich rechts gemeint. Da war´s flacher, aber egal, so hat es ja auch gepasst!“

Bilbao selbst war ein Graus. Laut, stickig, verwirrend, stinkend und schmutzig. Die war ohnehin schon grau und durch den Regenschleier wirkte sie gleich noch einmal düsterer. In der Innenstadt gab es einige sehenswerte Gebäude, doch darüberhinaus sahen wir nur riesige Wohnblöcke in denen sich niemand wohlfühlen konnte.

Dass wir uns dennoch gut zurechtfanden und ohne Probleme einen Übernachtungsplatz bekamen, grenzte an ein Wunder. Doch davon werde ich euch morgen berichten. Jetzt fallen mir bereits langsam die Augen zu.

Spruch des Tages: Hilfe kommt immer von dort, wo man sie am wenigsten vermutet.

 

Höhenmeter: 510m.

Tagesetappe 21 km

Gesamtstrecke: 2378,47 km

 

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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