Tag 719: Die Wutprobe

von Heiko Gärtner
21.12.2015 04:51 Uhr

Wir hörten unsere beiden Mönche schon von weitem. Sie polterten die Treppe herauf wie zwei Elefanten und tratschten dabei wie zwei alte Damen bei einem Kaffeekränzchen. Für einen Moment glaubte ich sogar, dass es sich um zwei Frauen handelte, so feminin wie ihre Stimmen klangen. Dann klopfte es an unsere Türen und die beiden traten ein. Wir waren gerade aufgestanden und hatten schon angefangen unsere Sachen zusammenzupacken. Der Dicke brachte uns Frühstück, das aus je einem Süßgebäck und einem Pappbecher mit Cappuccino bestand. Zunächst erkannte ich ihn kaum wieder, denn er trug nun eine weiße Robe und sah darin richtig erhaben aus. Er wirkte vollkommen anders, als bei unserem ersten Treffen.

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„Alles Gute! Und eine schöne Reise!" wünschte er zum Abschied und meinte es auch wirklich ernst damit. Dann entschuldigte er sich, da er nun in die Kirche müsse. Wenn alle anderen zu spät kamen, war es in Ordnung, aber er war der Pfarrer, der die Messe hielt und da sollte er zumindest einigermaßen pünktlich sein.

Bevor wir die Stadt verließen warfen wir selbst noch einen kurzen Blick in die Kirche. Der kräftige Pfarrer stand hinter dem Altar und referierte über unsere Reise. Sein Kollege hatte uns kurz zuvor erzählt, dass sie auf unsere Homepage geschaut und vieles über uns gelesen hatten. Nachdem sie uns am Vortag eigentlich nicht hier haben wollten, waren wir nun der Inhalt einer Messe geworden und wurden sogar fast heilig gesprochen. So schnell konnten sich die Dinge ändern.

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Als wir die erste Stadt erreichten, die wir uns als Ziel ausgesucht hatten, war es noch extrem früh und so beschlossen wir, noch ein bisschen weiter zu ziehen. Wir näherten uns nun immer mehr der Küste und würden am Nachmittag zum ersten Mal seit Brindisi wieder eine Hafenstadt erreichen. Doch zunächst verliefen wir uns in einem Olivenhain, in dem es unzählige Mauern und Wege gab. Schließlich schafften wir es, die richtige Richtung wiederzufinden und kamen letztlich sogar in der Stadt an, in der wir ankommen wollten.

Leider hatte sie nicht die geringste Ähnlichkeit mit der hübschen, idyllischen Hafenstadt, die ich mir vorgestellt hatte. Sie ähnelte eher einem Kriegsschauplatz. Alles ging drunter und drüber. Die Einkaufsmeile lag direkt an der Hauptstraße, so dass man weder als Autofahrer noch als Spaziergänger wirklich zurecht kam. Wir fühlten uns wie zwei Ameisen, die in einen Bienenstock geraten waren.

An der Kirche wurde es sogar noch schlimmer. Die Messe war gerade vorbei und auf dem Kirchenvorplatz wurde eine Art Jahrmarkt abgehalten. Überall schrien die Besitzer von Verkaufsständen umher und priesen ihre Ware an. Dazwischen tollten und rannten die Kinder, die versuchten, die Marktschreier noch zu übertönen.

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Selbst in der Kirche hörte der Tumult nicht auf. Zwei Jungs im Alter von etwa acht oder neun Jahren verfolgten einander, weil sie sich prügeln wollten. Sie rannten um die Kirchenbänke, dann auf den Altar und jagten sich schließlich bis in die Sakristei. Um in der hohen Geschwindigkeit die Kurve zu kriegen packte der erste Junge den Arm des Pfarrers und riss ihn fast von den Beinen. Dann rannte er ins Pfarrbüro, wo er jedoch in einer Sackgasse steckte und von seinem Verfolger eingeholt wurde. Hier begann also die Prügelei. Weder die Mütter der Kinder noch der Pfarrer oder irgendjemand sonst kümmerten sich um die Raufbolde. Es schien das normalste der Welt zu sein, dass sie die Kirche als Schlachtfeld nutzten. Der Pfarrer zupfte lediglich seinen Ärmel wieder zurecht, balancierte sein Gleichgewicht wieder aus und setzte das Gespräch fort, das er zuvor geführt hatte.

In einem Moment des Waffenstillstandes, schaffte auch ich es mir Gehör zu verschaffen und wir bekamen einen Raum in dem wir schlafen konnten. Er glich einer Bahnhofshalle, sowohl von der Größe als auch von der Akustik her. Die Fenster waren dünn wie Seidenpapier und einige Scheiben fehlten sogar gänzlich. Es war unmöglich, dass wir hier bleiben konnten, denn an irgendeine Art der Konzentration war nicht zu denken. Eigentlich war an überhaupt nichts zu denken, außer an den Wunsch, so weit wie möglich von diesem Ort wegzukommen.

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Die Stadt bestand aus zwei Teilen. Der altstädtische Teil lag auf einer vorgelagerten Halbinsel, die nur über einen schmalen Steg mit dem Festland verbunden war. Die Neustadt befand sich auf dem Festland direkt davor. Meine Idee war es, dass der schöne Teil der Stadt sicher der war, der sich auf der Halbinsel befand. Doch leider war auch diese Vermutung nicht ganz zutreffend. Denn der schmale Steg war zu einer Hauptstraße ausgebaut worden, die nun einmal um die komplette Insel herumführte. Die Altstadt in der Mitte war wirklich ganz schön, doch es gab keinen Punkt mehr, an dem man wirklich zur Ruhe kommen konnte. Für uns war es unbegreiflich, wie man einen so schönen Flecken Erde mit so schönen alten Häusern und einer dazu passenden Burg so sehr verschandeln konnte. Vor allem aber fragten wir uns, warum auf dieser Straße so unglaublich viel Verkehr herrschte. Es gab doch nichts weiter als diese Halbinsel. Fuhr also jeder, der das Meer sehen wollte einmal mit dem Auto außen herum?

Eine knappe Stunde später war der Spuk vorbei. Plötzlich war es ruhig und Autos fuhren so gut wie gar nicht mehr. Dann erst erkannten wir, was hier los gewesen war. Heute war Sonntag und jeder, der etwas auf sich hielt fuhr mit seiner Familie hier her um Essen zu gehen. Man konnte natürlich nicht das Auto vor der Stadt lassen, also fuhr jeder auf der Insel im Kreis, bis er einen der wenigen Parkplätze ergattert hatte und versaute so lange allen anderen das Mittagessen, die es vor ihm geschafft hatten. Als die Mittagszeit vorbei war, machten sich alle wieder auf den Heimweg und das Chaos löste sich auf.

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Auch in unserer Bahnhofshalle war es nun leiser. Zumindest, solange außen niemand an uns vorbei fuhr. Dann war es, als fuhr er mitten durch unser Zimmer. Um zumindest die Mücken fernzuhalten bastelten wir aus Pappe einige Ersatzscheiben, die wir in die Fensterrahmen mit den kaputten oder fehlenden Scheiben klemmten.

Am Abend verließ ich unseren Saal noch einmal um nach Essen zu fragen. Zum ersten Mal, seit wir Griechenland verlassen hatten, erwies sich dies als wirklich schwierig, da der Massentourismus nicht gerade die Hilfsbereitschaft der Ladenbesitzer förderte. Außerdem fiel mir auf, dass es zwar unzählige Imbissbuden gab, dass aber alle immer wieder exakt das gleiche Angebot hatten. Es gab entweder Patisserien, die Süßgebäck verkauften oder Pizzerien, die vorgebackene und halb erkaltete Pizzastücke im Angebot hatten. Restaurants in denen man wirklich essen gehen konnte, gab es nur sehr wenige. Selbst normales Brot war fast unauffindbar. Dafür gab es Pizzastücke mit Würstchen und kalten, matschigen Pommes darauf. Ich vermute, dass diese Kreuzung von zwei verschiedenen und beliebten Fastfoodsorten besonders innovativ sein sollte, aber glaubt mir wenn ich euch sage, dass das Zeug furchtbar schmeckt. Wir waren nun genau eine Woche in Italien und zum ersten Mal merkten wir, dass uns die Pizza hier langsam zum Hals heraushing. Wer hätte das gedacht?

Mit dem Einbruch der Dunkelheit hatte die Stadt ihr Gesicht ein weiteres Mal gewandelt. Autoverkehr gab es nur noch verhältnismäßig wenig, dafür bewegten sich Menschenmassen durch die Straßen, wie man sie sonst nur von Open-Air-Konzerten oder Volksfesten kennt. Kinder zündeten Feuerwerkskörper und auf mehren Plätzen hatte man Fahrgeschäfte und Kinderkarussells aufgebaut. Waren wir also wirklich an irgendeinem besonderen Festtag hier gelandet? Der Mann vom Crêpe-Stand vor der Kirche klärte mich auf. Es war kein besonderer Tag, sondern ein stinknormaler Sonntag. Unter der Woche war es hier ruhig, aber am Sonntag kamen die Menschen von überall her um hier zu bummeln und zu feiern.

Die Akustik in unserer Kirchenhalle führte nicht dazu, dass wir besonders tief oder lange schliefen, so dass wir am nächsten Morgen bereits früh wieder aufbrachen. Heiko hatte außerdem einige Erkältungserscheinungen und so war es vielleicht keine schlechte Idee, etwas früher zu starten und auch früher anzukommen.

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Doch eine kurze Wanderung war uns heute nicht vergönnt. In der ersten Stadt, durch die wir reisten, ließ sich wieder einmal kein Pfarrer auftreiben. Langsam hatten wir ein wenig das Gefühl, dass sie sich vor uns versteckten. Wieder wanderten wir zum Meer herunter und probierten unser Glück hier noch einmal. Einen Pfarrer trafen wir auch hier nicht, dafür aber einige Anwohner, die uns bestätigten, dass er hier wohnte und sicher bald nach hause kommen würde. Weiterzuwandern erschien uns nicht sinnvoll und so machten wir es uns auf einer Parkbank gemütlich.

Wenn nur die vielen Mücken nicht gewesen wären!

Es dauerte keine fünf Minuten, da begann es überall zu jucken. Trotz der Wärme hüllten wir uns in unsere Regenkleidung und hofften, dass sie uns zumindest ein bisschen Schutz geben würde. Abgesehen von unseren Gesichtern und Händen klappte das sogar einigermaßen. Dafür tauchte eine neue Störquelle auf. Ein Mann hatte es sich zur Aufgabe gemacht, all seine Nachbarn in den Tod zu nerven, indem er oben auf seinem Balkon mit einem Hochdruckreiniger hantierte. Natürlich hätte es auch sein können, dass er mit diesem Reiniger wirklich etwas säubern wollte, doch diese Theorie schlossen wir nach einer knappen Stunde aus, da er immer wieder auf die gleiche Stelle zielte und bereits nach einer Minute festgestellt hatte, dass sich dadurch nichts veränderte.

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Es dauerte etwas mehr als zwei Stunden, bis der Pfarrer schließlich auftauchte. Aus dem Auto heraus teilte er uns mit, dass er leider nichts für uns tun könne, weil seine Kirche gerade renoviert wurde. Wir sollten doch einfach in einer anderen Stadt fragen. Die größte wäre gerade einmal 35km entfernt und da würden wir sicher etwas bekommen.

Enttäuscht gingen wir hinunter zum Strand. Wenn die Kirche uns nicht half, dann hatten wir ja vielleicht bei den Hotels Glück. Doch auch hier kamen wir nicht weiter. Nicht weil sie nicht wollten, sondern einfach weil sie in der kompletten Wintersaison geschlossen hatten. Das war ja auch nachvollziehbar, bei der Eiseskälte die hier herrschte! Es war Ende Oktober und wir hatten gerade einmal 26°C. Wer wollte da schon nach Süditalien fahren?

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So ungern wir es auch zugaben, es blieb uns nichts anderes übrig, als noch einmal rund 12km in Angriff zu nehmen und bis nach Nardó zu wandern. Dort gab es eine Kathedrale und sogar ein Seminario, also eine Priesterschule. Wenn es einen Ort gab, an dem wir sicher einen Platz finden würden, dann war es dieser.

Als wir eintrafen war es bereits dunkel. In der Priesterschule trafen wir zwar einige Schüler, der Direktor befand sich aber in einer Konferenz. Wieder wurden wir aufgefordert zu warten, bis er auftauchen würde. Das war heute schon einmal gehörig schief gegangen und so waren wir von dieser Idee nicht besonders überzeugt. Wir versuchten es bei einer anderen Kirche. Der nächste Pfarrer hatte zwar einen Raum für uns, wollte uns aber nicht helfen, weil er meinte, dass wir im Seminario besser aufgehoben wären. Langsam hatten wir die Schnauze voll von dem ganzen Hin- und Hergeschicke. Wieso wollte uns eigentlich jeder wütend machen? Gab es so eine Art internationale Verschwörung, bei der es darum ging uns das Leben so schwer wie möglich zu machen?

Wenn ja, dann war sie noch nicht vorbei. Denn vor der Kathedrale erwartete uns wieder das gleiche Bild. Der Pfarrer käme erst zur Messe und die begann in knapp einer Stunde. Solange müssten wir uns schon gedulden. Ratlos schauten wir umher.

„Hey!" rief Heiko plötzlich, „da steigt gerade ein Pfarrer aus dem Auto aus! Schnapp ihn dir!"

Ich lief auf den Mann zu und sprach ihn an.

„Ich kann leider noch immer nichts für dich tun!" sagte er abweisend und vertröstete mich wieder auf den Hauptpfarrer, der die Kathedrale führte. Erst jetzt erkannte ich den Mann wieder. Es war der Pfarrer, der uns zwölf Kilometer zuvor am Meer abgewiesen hatte. Wenn ich zuvor noch nicht an einen Fluch geglaubt hatte, dann war ich jetzt soweit. Irgendjemand wollte uns ärgern und unbedingt erreichen, dass wir wütend wurden. Nur wer?

Wir selbst?

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Ihr erinnert euch vielleicht, dass ich im Abschlusstext über Paulina sehr viel über Spiegelgesetze geschrieben habe. Die Welt ist nicht das wonach sie aussieht, sondern das wofür wir sie halten. Alles was uns widerfährt ziehen wir mit unseren eigenen Gedanken und Überzeugungen an.

Dies waren die Themen mit denen wir uns gerade intensiv beschäftigten und je tiefer wir in das Thema eintauchten, desto stärker hinterfragten wir auch unser eigenes Leben und unsere eigenen Überzeugungen. Die Erfahrungen, die wir an diesem Tag gemacht hatten, schienen nun fast wie eine Prüfung zu sein, die uns fragen wollte, wie ernst wir es mit dem Thema wirklich nahmen. Wie sehr erkannten wir unsere Überzeugungen in unserem eigenen Leben? Waren wir wirklich bereit anzuerkennen, dass wir verantwortlich dafür waren, wie unsere Tage verliefen und nicht die Pfarrer, Nonnen oder Hotelbesitzer?

Wir kehrten noch einmal zum Priesterseminar zurück und fragten erneut nach dem Direktor. Dieses Mal trafen wir ihn an und bekamen nicht nur einfach ein Zimmer, sondern die Suite des Bischofs zur Verfügung gestellt.

Zum Arbeiten war es nun fast ein bisschen zu spät und durch die lange Wanderung und die vielen chaotischen Gespräche fühlte ich mich erschöpft und müde. Für einen geistreichen Text war das einfach nicht der richtige Gemütszustand. Wäre ich in diesem Moment schlau gewesen, hätte ich erkannt, dass ich eigentlich für gar nichts den richtigen Gemütszustand hatte. Ich hätte mich einfach auf´s Sofa gekuschelt, heiß geduscht, mich hingelegt und gemeinsam mit Heiko einen Film angeschaut. Wenn ich das getan hätte, hätte ich mir dadurch viel, sehr viel Arbeit erspart. Doch so schlau war ich nicht. In meinem Kopf herrschte der Gedanke, dass ich trotz des verpeilten Tages noch irgendetwas Produktives schaffen sollte. Aus dieser Motivation heraus, rief ich die Datei mit meinem Bericht über den letzten Tag unserer gemeinsamen Zeit mit Paulina auf, um ihn zum Einstellen als Tagesbericht vorzubereiten. Dabei machte ich den einen verheerenden Fehler und klickte beim Speichern eine Datei an, die ich nicht anklicken wollte. Ein Mausklick, und die Arbeit von vier Tagen war für immer verloren.

Spruch des Tages: Oh Nein!

Höhenmeter: 410 m

Tagesetappe: 42 km

Gesamtstrecke: 12.843,27 km

Wetter: bedeckt, leichter Nieselregen

Etappenziel: Gemeindesaal der Kirche, 89052 Campo Calabro, Italien

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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