Die Schreckschraube

von Franz Bujor
20.02.2014 09:54 Uhr

Warum geht einem eine Schreckschraube so auf die Nerven?

Was die Übernachtungsplätze anbelangt, haben wir ja bereits einiges erlebt, sowohl im Positiven als auch im Negativen. Wobei man sagen muss, dass unsere Erfahrungen zu mehr als 90 % positiv waren. Die wenigen Orte, an denen wir uns nicht wohlfühlten, waren dabei immer Orte gewesen, an denen die Menschen Geld dafür nahmen, dass sie einen Schlafplatz offerierten. Angefangen bei der kleinen Pension an der Weinstraße, bis hin zur Jugendherberge in Nancy. Auch gestern übernachteten wir in einer Herberge, die normalerweise 10 € pro Person und Nacht gekostet hätte. Da wir nichts zahlen mussten, konnten wir uns nicht beschweren, doch die Unterkunft war, was ihren Komfort betraf, auch keinen einzigen Cent wert gewesen. Die Toilette funktionierte nicht, die Dusche war eine Zumutung, der Flur stand voller Gerümpel und in jedem Zimmer stand eine zusätzliche Matratze mit deutlich sichtbaren Urinflecken darauf. Wie gesagt, ein einwandfreier Schlafplatz für jemanden der ihn umsonst bekam und als Alternative einen Platz im Zelt bei -3° C hatte. Doch die vielen Beschwerdetexte im Gästebuch der zahlenden Pilger vor uns, konnten wir gut nachvollziehen, was hier für eine Schreckschraube gewütet haben muss.

Die Unterkunft heute, setzte alldem jedoch die Krone auf. Mehr noch, der Umgang mit Pilgern hier lässt sich kaum noch in Worten zusammenfassen, bei denen mein Computer sich nicht vor Scham selbst herunterfährt.

Dabei hatte alles ganz vielversprechend angefangen. Wir erreichten Chablis gegen 15:00 bei Sonnenschein. Kurz zuvor waren wir von einem Regenschauer bis auf die Knochen durchgeweicht worden und nun begannen wir gerade wieder zu trocknen. Im Office de Tourisme traf ich auf einen Mann, der perfekt Englisch sprach und mir auf meine Frage nach einem kostenlosen Pilgerschlafplatz sofort einen Punkt auf einer Karte markierte. „Hier müsst ihr hin! Da könnt ihr übernachten!“, sagte er freundlich.

Tonnerre Centre Ville

Tonnerre Centre Ville.

 

"Für Pilger" ja und doch wieder nein

‘Das war mal einfach!‘ dachte ich in meinem jugendlichen Leichtsinn und rund 10 Minuten später, standen wir vor dem Haus mit der Adresse Rue Benjamin Constant Nr. 13. Die Tür stand offen und gab den Blick in einen langen Gang mit insgesamt drei Türen frei, der nach hinten hinaus in einen Innenhof führte. „Bonjour!“, rief ich hinein, bekam aber keine Antwort. Ich ging hinein und klopfte an die Türen. Keine Reaktion von unserer heutigen Schreckschraube. Zwei Türen waren verschlossen, die dritte trug die Aufschrift „Pilger“ und war offen. Sie führte in einen Raum mit drei Gefängnisbetten und einem grauen Wandschrank. Da ich auch im Innenhof niemanden antraf, ging ich wieder zurück auf die Straße und klingelte am Haus nebenan. Eine Dame öffnete und sagte irgendetwas, dass ich folgendermaßen interpretierte: „Als Pilger könnt ihr einfach in diesen Raum gehen und dort übernachten.“ Eine Frau fuhr mit dem Auto an uns vorbei, hielt an und sagte das Gleiche.

Chablis am Fluss "le Sereine"

Chablis am Fluss "le Sereine"

 

Also zogen wir unsere Wagen ins Innere und machten es uns gemütlich. So gemütlich, wie es angesichts des Zustandes in dem sich der Raum befand, eben möglich war. Die Betten sahen aus, als hätte man sie in einer Psychiatrie geklaut und die Laken darauf wirkten, als wären sie für den internationalen Bettläusekongress 2014 als Veranstaltungsort ausgewählt worden. Der Putz fiel an mehr Stellen von den Wänden, als wir zählen konnten und der Boden war so schmutzig, dass wir überlegten, ob wir nicht die Schuhe ausziehen sollten, damit wir sie nicht dreckig machen. Ansonsten aber wirkte der Raum wie ein durchaus annehmbarer Schlafplatz. Dann jedoch entdeckten wir einen Zettel, mit einigen Hinweisen für Pilger, der in Englisch gehalten war. Neben einigen Begrüßungsworten und vielerlei Blabla stand darauf die eine Zeile, die uns eine Warnung hätte sein sollen: „Für ihren Aufenthalt nehmen wir eine Spende entgegen, die je nach Saison unterschiedlich hoch ausfällt und unter anderem von Ihrem Wasser- und Stromverbrauch abhängt.“ Wir sahen uns noch einmal um. Zu dem Raum gehörten noch eine geräumige Küche und ein kleines Klo mit Dusche. Alles befand sich in einem Zustand, in dem es peinlich war, auch nur einen Cent dafür zu verlangen. Außerdem hatte man uns ja bereits gesagt, dass es kostenlos sein würde.

Ecole Communale - Chablis

Ecole Communale - Chablis

 

Also legten wir den Zettel beiseite, aßen ein wenig Baguette mit Käse vom Markt und entspannten unsere Füße. Dann machten wir uns auf den Weg in die Innenstadt, um einige Fotos zu schießen und um unsere Nahrungsreserven aufzufüllen. An der Tür wurden wir jedoch abgefangen von einem Mann, der sich hier aufhielt, weil er das Dach reparierte. Er zeigte uns den Weg zu einer Tür im Innenhof, wo wir auf zwei ältere Frauen trafen, die ganz offensichtlich die Eigentümer der Herberge waren. Sie begrüßten uns freundlich und die ältere machte sich daran, und unser Zimmer zu zeigen. Es kostete uns ein wenig Mühe, ihr zu erklären, warum wir es bereits bewohnten. Es mag sein, dass wir dadurch nicht den besten Eindruck hinterließen, doch es war auch nicht gerade hilfreich, sich als Gastgeber in einem Hinterhof zu verstecken und im Eingangsbereich eine offene Tür mit der Aufschrift „für Pilger“ zu platzieren. Vor allem, wenn es dann keinen Hinweis darauf gibt, wo man sich anmelden konnte.

Für diese Notunterkunft bestand die Schreckschraube auf Bezahlung!

Für diese Notunterkunft bestand die Schreckschraube auf Bezahlung!

 

Als Pilger ist man nicht automatisch ein Tourist!

Unsere Gite in Chablis

Unsere Gite in Chablis

Bis hierhin war jedoch noch alles ok. Dann aber kam der Teil, an dem wir ihr mitteilten, dass wir als echte Pilger und nicht als Touristen unterwegs waren und folglich auch kein Geld hatten. Ihre Reaktion war gelinde gesagt unfreundlich. Mehrmals wiederholte diese Schreckschraube, dass wir pro Person 8 € zahlen müssten. Wir zeigten ihr unseren Zettel, der mit etwas mehr Worten erklärte, was für eine Art von Reise wir hier unternahmen. Daraufhin sagte sie, sie würde ihre Tochter holen und die würde alles klären. Es sei kein Thema, wir sollen einfach hier warten. Das taten wir dann auch. Doch wir warteten vergebens. Weder die alte Frau noch ihre Tochter kamen zurück. Nach einiger Zeit ging ich wieder zu ihrer Tür und klingelte, wurde jedoch ignoriert. Also beschlossen wir, in die Stadt zu gehen und später noch einmal mit den Damen zu sprechen.

In der Stadt bekamen wir einen großartigen Döner, erlebten aber ansonsten nichts, dass so außergewöhnlich war, dass ich davon unbedingt berichten müsste. Also erzähle ich gleich, wie es hier weiterging.

Nach unserer Rückkehr klingelte ich erneut bei der alten Dame. Diesmal öffnete sie und bat mich herein. Das folgende Gespräch war eines der schwierigsten in meiner gesamten Laufbahn als Gespräche-auf-Französisch-Führer. Das was ich am Ende verstand, war in etwa das Folgende (alle Angaben ohne Gewähr): Sie beschwerte sich darüber, dass wir einfach weggegangen waren. Ich erklärte ihr, dass wir einen Ausflug in die Stadt gemacht hatten. Sie unterbrach mich und fragte wie es mit dem Geld aussehe. Ich erklärte, das wir keines hatten. Sie fragte noch einmal wie es mit dem Geld aussähe. Ich erklärte noch einmal, das wir keines hatten. Sie beschwerte sich darüber, dass wir nicht da waren und erzählte etwas von einer Zusammenkunft, die hätte stattfinden sollen. Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte und stammelte irgendetwas vor mich hin. Sie fragte, was denn nun mit dem Geld sei und wieso wir essen in unserem Zimmer hätten, wenn wir doch kein Geld hätten.

Die Betten der Herberge - Chablis

Die Betten der Herberge - Chablis

 

Ich fragte mich wieso die Schreckschraube wusste, dass wir Essen haben und erklärte ihr, dass wir die Leute um Nahrungsspenden fragten. Sie unterbrach mich und fragte, ob wir einen Stempel brauchten. Ich sagte, dass ein Stempel nicht schaden könne und war noch immer entsetzt, dass sie in unseren Sachen gewühlt hatte. Dann fragte ich, ob es ok sei, dass wir hier übernachten, auch wenn wir nichts bezahlen. Sie sagte ja und fragte, wann wir denn dann wieder gingen. Acht Uhr schlug sie vor und ich willigte ein. Um zehn Uhr in der Nacht müssten wir aber im Zimmer sein, denn danach würde die Tür abgeschlossen. Ich stimmte zu, verabschiedete mich und ging.

Für solch einen Dreck lohnt es sich, Geld zu verlangen

Für solch einen Dreck lohnt es sich, Geld zu verlangen

Der Höhepunkt naht allmählich

Draußen atmete ich erst einmal tief durch. Es war anstrengend aber wie es aussah, war alles geklärt. Doch weit gefehlt. Kaum war ich wieder bei uns im Zimmer, klopfte es auch schon an die Tür. Eine Frau, die uns bis dahin unbekannt war, trat herein und beschwerte sich darüber, dass wir im Gang draußen das Licht hatten brennen lassen. Wir entschuldigten uns und sie schaltete es aus. Dann aber ging es richtig los! Sie sei hier um die Gebühr für die Nacht einzutreiben. Dabei wedelte sie uns mit einer kleinen Mappe vor dem Gesicht herum und befühlte die Heizung. Da wir die Heizung eingeschaltet hatten, verlangte sie nun zwanzig Euro von uns. Ich machte ihr klar, dass wir kein Geld hatten. Am liebsten hätte ich sie dabei auch auf den erbärmlichen Zustand dieses Rattenlochs aufmerksam gemacht, aber das hätte unsere Situation wahrscheinlich nicht verbessert. Sie begann damit, sich immer weiter aufzublähen, bis sie schließlich aussah wie ein Ochsenfrosch zur Paarungszeit.

Ich erklärte ihr, dass uns der Mann vom Touristenbüro diese Unterkunft als Gratis beschrieben hatte und dass wir nie hergekommen wären, wenn wir von den Kosten gewusst hätten. Doch sie zeigte sich nicht beeindruckt und pochte immer wieder auf ihre 20 Euro. ‚Verdammt nochmal wir haben kein Geld du alte Schreckschraube, warum will das nicht in deinen holen Schädel!’, fluchte ich im Stillen. Laut sagte ich, dass es OK für uns ist, wenn sie uns rausschmeißen will. Wir packen dann einfach unsere Sachen und zelten irgendwo. Das schien ihre Einstellung tatsächlich zu verändern. Gehen müssten wir nicht, sagte sie großmütig. Wir könnten schon hier übernachten, aber wenn wir nichts bezahlen, dann dürfen wir auch nichts verwenden. Keine Heizung, keine Dusche, kein Wasser, kein Herd und nur eine Lampe! Da wir wirklich keine Lust darauf hatten, uns jetzt noch einen Zeltplatz zu suchen, willigten wir ein.

Wollt ihr wissen, woher der Begriff Schreckschraube kommt? Mehr über die Herkunft und das Synonym dafür, findet ihr super leicht im Web vor. Viele kennen auch den gängigen Begriff, die alte Schreckschraube, wenn man einfach super genervt wird. Aber manchmal ist es eben dran, es zu denken.
Auch das Klo der Pilgerherberge ist sehr einladend

Auch das Klo der Pilgerherberge ist sehr einladend.

 

Mit der Aufforderung auf sie zu warten, damit sie den Stempel holen könne, verschwand sie durch die Tür.

„Alter Schwede!“, rief ich als die Schreckschraube endlich weg war. „was war denn das bitte für eine angepisste Brunskachel?“ Wir verbrachten die nächsten Minuten damit, uns über die Frau und ihre Art mit Pilgern umzugehen, aufzuregen. Es war nicht einmal die Tatsache, dass man uns unter falschen Aussagen in diese Herberge gelockt hatte. Auch nicht, dass sie generell Geld von uns wollte. Doch die herablassende und aufgespielte Art mit der sie uns begegnet war, brachte mich fast zum Platzen. Diese Herberge war wirklich dass letzte Loch! Sie war dreckig, schäbig, heruntergekommen und ungemütlich. Hinzu kam, dass man ab 22:00 eingesperrt wurde und das Haus erst dann wieder verlassen konnte, wenn der Hausdrache am nächsten morgen das Tor wieder aufsperrte. Gleichzeitig gab es jedoch keine Privatsphäre. Die Frau konnte jederzeit in unserem Zimmer auftauchen und uns nerven. Während unserer Abwesenheit hatten sie sogar unsere Sachen durchstöbert und festgestellt, dass wir etwas zu Essen dabei hatten. Dafür Geld zu verlangen war mehr als nur dreist. Doch es noch in einem solchen Ton zu tun, dafür fehlten mir die Worte.

Tobi mit dem eBook-Reader "Tolino"

Tobi mit dem eBook-Reader "Tolino"

 

Wir sind nicht anspruchsvoll und können uns unter fast allen Bedingungen heimisch fühlen. Ein Lagerfeuer im Wald reicht aus, um uns das Gefühl von Wohnzimmer zu geben und unsere Schlafsäcke in einem verwanzten Bett, sind genug um wohlig zu schlafen. Was aber muss jemand denken, der ohne diese Vorerfahrungen in eine solche Herberge kommt. Wie mag sich beispielsweise ein Mann fühlen, der sich in der Rente den Traum seines Lebens verwirklichen und die Freiheit des Pilgerns erleben will. Ist er nicht für sein Leben traumatisiert, wenn er in ein solches Loch gerät, in dem er dann auch noch eingesperrt wird? Die Obdachlosenunterkünfte in denen wir bei unserer Landstreichertour geschlafen hatten, waren allesamt in einem besseren Zustand gewesen. Selbst die schlimmsten. In jeder von ihnen gab es die Möglichkeit zu flüchten, wenn es brennt. Hier aber sitzt man fest. Und ob die alte Wachtel im Falle einer Feuerkatastrophe wirklich an die Pilger denkt und nicht nur ihre eigene Haut rette, ist stark zu bezweifeln.

 
Die Sehenswürdigkeiten von Chablis

Die Sehenswürdigkeiten von Chablis

Doch es kam noch besser!

Die Frau kehrte wenige Minuten später zu uns zurück. Einen Stempel hatte sie nicht, aber sie wollte sicher gehen, dass wir am Morgen auch wirklich spätestens um 8:00 aufbrachen. Bevor sie ging, drehte sie sich noch einmal um und sagte: „Und wehe ihr benutzt die Heizungen! Ich werde es kontrollieren!“

Doch auch das war noch nicht genug! Zwei Minuten vor zehn, stand sie wieder bei uns im Raum. Diesmal trug sie ein weißes Nachthemd, dass sie noch mehr wie ein Schlossgespenst wirken ließ. „Von wo seid ihr los gepilgert?“, fragte sie ohne Einleitung. „In Deutschland, genauer gesagt in Nürnberg!“, antwortete ich. Daraufhin wiederholte sie ihre Frage noch dreimal, jedes Mal in einem aggressiveren Ton, bis sie mir endlich zuhörte. Sie wollte unsere Pilgerausweise sehen. Ich gab sie ihr und sie blätterte darin, wie in einem Strafregister. Dann gab die Schreckschraube sie mir zurück und sagte: „Macht jetzt das Licht aus! Ihr nutzt es schon viel lange und verursacht damit Kosten die ihr nicht erstattet!“

Es bleibt wohl eine Pilgernotunterkunft

Es bleibt wohl eine Pilgernotunterkunft.

 

Ich bin normalerweise ein wirklich friedlicher Mensch, aber in diesem Moment hätte ich sie am liebsten erwürgt. Sie wünschte uns eine gute Nacht und ging. Ich sagte nichts, denn ich wollte nicht lügen.

Seit etwa drei Absätzen schreibe ich wegen dieser doofen Schreckschraube nun also im Dunkeln und langsam wird es kalt.

Spruch des Tages: Jeder Mensch, über den du dich ärgerst, ist ein Spiegel deiner eigenen Probleme und Lebensthemen.

Tagesetappe: 19 km

Gesamtstrecke: 1063,37 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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