Tag 132: Heilnahrung

von Franz Bujor
13.05.2014 23:29 Uhr

Bevor ich euch von den Ereignissen des Tages erzähle, ist hier erst einmal das Video von Javier Lopéz, dem Hang-Spieler aus Antillana del Mar:

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So glücklich wir über die Aufnahme in der Pilgerherberge waren, so schnell wurde uns diese Freude auch schon wieder madig gemacht. Anders als erwartet, teilten wir uns den Schlafplatz mit nur wenigen Pilgern. Dafür aber wohnte eine Schulklasse im Stockwerk über uns, die ihre Klassenfahrt nutzte, um mal wieder ordentlich Party zu machen. Bis Nachts um drei rannten sie über die Gänge und riefen dabei durchs ganze Haus. Für mich war das nicht ganz so schlimm wie für die anderen Gäste, da ich mit meinem Bericht eh nicht viel früher fertig geworden war. Die Tage in Spanien waren einfach viel ereignisreicher als die in Frankreich oder Deutschland. Auf der einen Seite war das Spannend, aber auf der anderen bedeutete es auch viel mehr Arbeit.

Doch die Berichte waren nicht das einzige, mit dem wir uns an diesem Abend beschäftigten. Heiko hatte seit ein paar Tagen immer wieder Schmerzen in seinem linken hinteren Backenzahn. Der Zahn hatte bereits eine Plombe, machte aber seit Jahren keinerlei Probleme. Da wir in unserem Notfallgepäck auch ein Zahnarztbesteck dabei hatte, wurde mir die Ehre zuteil, mir den Übeltäter einmal genauer anzuschauen. Ich entdeckte leichte Anzeichen von beginnender Karies. Es war noch nicht schlimm, doch so, dass es auf jeden Fall zur Aufmerksamkeit rief.

Es war auch kein Wunder! Seit wir in Spanien waren, ernährten wir uns so ungesund wie noch nie in unserem Leben. Wir aßen Unmengen an Süßigkeiten, weil uns diese ständig geschenkt wurden. Dazu bekamen wir immer wieder Cola und Limonade und weil wir nicht mehr so entspannt unterwegs sein konnten wie in Frankreich nutzten wir all dies, um uns mit künstlichen Highlights bei Laune zu halten. Wir hatten sogar darauf geachtet, dass wir immer ausreichend Rescue-Kekse dabei hatten, falls eine anstrengende Wegpassage kam. Der Backenzahn von Heiko sagte nun vor allem eines: „Damit ist jetzt Schluss! Ihr seit auf diese Reise aufgebrochen, um euch zu heilen und um gesunder zu werden. Ihr habt euch sogar vorgenommen, täglich einen Wildmischsalat zu essen. Doch stattdessen macht ihr nun eine Zuckerdiät und stopft so viele ungesunde Dinge in euch hinein, wie nur irgend möglich. Ist es wirklich das, was ihr wollt?“

Betroffen senkten wir den Blick. Nein, das war es sicher nicht, da hatte der Zahn eindeutig Recht. Es konnte nicht sein, dass wir auf einem Medizinweg noch mehr in die Zuckersucht abglitten, als wir es während unserer Arbeitszeit zu hause getan hatten. Ab heute stellten wir daher einen neuen Ernährungsplan auf. Mit sofortiger Wirkung gilt ein absolutes Zuckerverbot, dass sich vor allem durch den Verzicht auf Kekse, Limonade, Süßgebäck, Kuchen, Schokolade und Eis auszeichnete. Außerdem verzichten wir weiterhin auf Kaffee und schwarzen Tee. Die Rescue-Kekse werden ab sofort durch Rescue-Nüsse oder –Früchte ersetzt. Soweit der Plan.

Die Umsetzung begann sehr vielversprechend. Der erste Laden den wir um Nahrung baten schenkte uns eine Tüte mit Obst, darunter Pfirsiche und Kiwis, die wirklich als Highlight durchgingen und uns genauso glücklich machten wie Kekse. Der Weg führte uns wieder über schmale Kieswege an der Küste entlang, die sich im genauso atemberaubenden Licht präsentierte, wie am Vortag. So oft wir uns auch über viele Erlebnisse in Spanien ärgerten, so sehr wurden wir doch von der Natur dafür entschädigt. Auf der linken Seite des Weges ragten die Berge in den Himmel, die ein ebenso beeindruckendes Panorama abgaben, wie die Steilküste. Besonders stimmungsvoll waren die dunkelgrauen Wolken, die seit einer Woche vor den Bergspitzen hingen und immer bedrohlich aussahen. So als würde jeden Moment ein Gewitter heraufziehen, dass jedoch nie kam.

Etwa hundert Meter vor uns, sahen wir die beiden deutschen Pilger, die wir mit Blasenpflaster verarztet hatten. So viel also zum Thema „Wir sind so schnell, dass ihr uns wahrscheinlich nicht so bald wiederseht.“

Das absolute Gegenstück zu den beiden war ein Slow-Motion-Pilger, der ebenfalls nur wenige Meter vor uns ging und sich dabei mit einer Geschwindigkeit fortbewegte, die jedes Faultier vor Neid hätte erblassen lassen.

„Ich glaube,“ sagte Heiko, „wir haben eine reale Chance, ihn noch einzuholen!“

Dieses Vorhaben begannen wir mit einem Frühstück, denn aus der Herberge waren wir ohne gestartet. Als wir fertig waren, war der Mann jedoch verschwunden.

„Wo ist er hin?“ fragte ich irritiert, denn den Weg konnten wir bis zum Horizont einsehen. Kurz darauf stellten wir fest, dass der Mann gar kein Pilger war, sondern wenige Meter weiter vorne in einen Garten eingebogen war, der zu seinem Haus gehörte. Kurze Zeit später fielen Die Felsklippen wieder unvermittelt ab und machten einem Strand platz, der ebenso in die Top-Ten der Traumstrände einging, wie seine Brüder, die wir am Vortag gesehen hatten.

Anschließend führte der Weg in ein kleines Küstendorf, in dem wir etwas den Faden verloren. So kam es, dass wir und einen steilen Berg hinauf schleppten, der uns auf geradem Weg wieder zurück in die Richtung brachte, aus der wir gekommen waren. Immerhin sahen wir kurz zuvor die beiden Pilger wieder, die immer im gleichen Abstand wanderten und jede Kommunikation strickt vermieden. Abgesehen von dieser Angewohnheit zeichneten sie sich vor allem dadurch aus, dass sie jedes ansprechende Motiv am Wegesrand erst mit einem i-Pad und dann mit einem i-Phone fotografierten. Noch drolliger wurde die ganze Sache, weil sie dazu neongelbe Jacken trugen und die Frau obendrein einen überdimensionierten, knallgelben Hut auf dem Kopf hatte. Man konnte über Pilger sagen was man wollte, aber dass es unter ihnen keine schrägen Typen gab, konnte man nicht behaupten.

Um wieder zurück auf den Jakobsweg, oder zumindest in die richtige Richtung zu finden, fragten wir uns bei den Einheimischen durch. Dabei stellten wir wieder einmal fest, dass sich in diesem Land einfach niemand auszukennen schien. Ein Mann sagte uns, es gäbe eine kleine Straße in den richtigen Ort. Eine Frau, die wir kurz darauf fragten, erklärte uns jedoch, dass diese Straße enden würde und wir nur die Nationalstraße nehmen konnten. Wieder ein anderer Mann deutete auf eine Richtung und sagte: Immer da hinauf bis zum Spielplatz und dann rechts. Als wir seiner Anweisung folgten, landeten wir vor einem Stahlgitterzaun. Den Spielplatz und die richtige Straße fanden wir später in einer vollkommen anderen Richtung.

Das ganze Weg-Chaos führte uns jedoch zu einem kleinen Restaurant, in dem wir zu einem Essen eingeladen wurden. Eigentlich hatte ich nur nach Brot gefragt, doch die Besitzerin deutete auf einen Tisch im Freien und bat uns Platz zu nehmen. Wir bekamen eine Linsensuppe und als Hauptgericht Fisch mit Pommes Frites. Beides lag absolut in unserem neuen Ernährungsplan. Nur beim Nachtisch ging es etwas schief, denn die Frau brachte ihn uns, bevor wir etwas dagegen sagen konnten. Wir beschlossen ihn aus höflichkeitstechnischen Gründen als unsere letzte Süßspeise anzunehmen und zu zelebrieren.

Die ganze Essenszeit über wurden wir von einem kleinen Spatz beobachtet, der einen halben Meter von uns entfernt auf einem Blumenkasten saß. Ich bot ihm einen Brotkrümel an, den ich auf die Tischkannte legte. Einige Male nahm er wirklich Anflug darauf, flatterte dann aber im letzten Moment wieder zurück, weil er bemerkte, dass er doch zu schüchtern war. Schließlich startete er ein geschicktes Ablenkmanöver. Er verschwand in den Büschen auf der anderen Straßenseite, wartete einen Moment und kam dann im großen Bogen zu unserem Tisch geflattert, um das Brot zu schnappen und damit zu verschwinden.

Wer Weg führte uns nun unter der Autobahnbrücke hindurch, die von unten noch weniger vertrauenserweckend aussah, als die letzte. Vor allem deshalb, weil überall Bäume aus den Pfeilern wuchsen. Faszinierend, wo Pflanzen überall wachsen konnten, auch wenn es dort nicht den Hauch eines Nährbodens gab.

Wir wanderten weiter an einem verlassenen Kloster vorbei, dessen Bewohner wahrscheinlich vor der Autobahn die Flucht ergriffen hatten. Früher musste es einmal ein Wundervoller Ort gewesen sein, mitten in einem ausgedehnten Tal, durch den sich ein Fluss voller Fische bis ins Meer schlängelte. Doch nun war er im wahrsten Sinne des Wortes von der Autobahnbrücke überschattet worden.

Langsam wurde es Zeit um nach einer Unterkunft zu suchen. Irgendwie bereitete mir der Gedanke daran nach den Erlebnissen der letzten beiden Tage ein leicht mulmiges Gefühl. Irgendwie würde es schon klappen, doch es war schwer daran zu glauben, dass es Problemlos und Entspannt möglich war. Gleichzeitig fing ich jedoch damit an, die ganze Sache immer mehr wie eine Art Sport anzusehen, bei dem ich meine Fähigkeiten in Sachen Überzeugungskunst trainieren konnte. Auch wenn die ersten Versuche allesamt ohne Erfolg blieben, begann es doch immer mehr, mir Spaß zu machen. Ich probierte neue Fragen, veränderte meine Geschichte, versuchte mehr Gefühl einzubringen und begann damit, Gegenleistungen für einen Schlafplatz anzubieten, die wir anstelle von Geld geben konnten. Den Hotels bot ich Werbung über unseren Blog an, den Herbergsleitern eine Antlitzdiagnose, eine Dorntherapie oder was immer sie sonst an Heilungsprozessen brauchen konnten. Es führte nicht wirklich zum Erfolg, doch mit jedem mal taten sich meine Gegenüber schwerer, mich abzuweisen. Nach jedem Gespräch erzählte ich Heiko von dessen Verlauf und er coachte mich um weitere Schwachstellen in meinem Verkaufsgespräch auszumerzen.

Eine Herberge hatte jedoch den perfekten Abwehrmechanismus gegen jede Art der Überzeugungskunst entwickelt. Sie verzichteten einfach komplett auf Personal. An der Tür stand eine Telefonnummer, unter der man sich anmelden sollte. Darunter standen die Preise mit dem Zusatz: „Enthält eine Matratze, einen Bettbezug und ein Kopfkissen. Optional können eine Decke (3€) und ein Handtuch (1,5€) hinzugebucht werden.“ Der Preis selbst betrug außerhalb der Saison 10€ in der Nebensaison 12€ und in der Hauptsaison 15€. Die Tür war immer geöffnet und kurz vor Schlafenszeit kam jemand zum kassieren vorbei. Wenn jemand eine Pilgerabzocke perfektioniert hatte, dass die Betreiber dieser Herberge. Es wurde nichts geboten, man musste sich mit nichts beschäftigen, es gab keinerlei Service und man musste einfach nur abkassieren.

Die nächste Herberge war etwas freundlicher. Man wollte uns zwar auch hier nicht aufnehmen, dafür erzählte man uns jedoch von einer deutschen Familie, die einen Kilometer weiter im nächsten Ort wohne und die Pilger auch dann aufnahm, wenn sie nichts zahlen konnten.

Zunächst waren wir nicht ganz sicher, ob diese Familie wirklich existierte, oder ob man sie nur erfunden hatte, um uns los zu werden. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass so etwas passiert. Zu wie vielen kostenlosen und städtischen Herbergen wir schon geschickt wurden, die es nicht gab und auch nie gegeben hatte, ließ sich nicht mehr an zwei Händen abzählen.

Doch diesmal existierte die Herberge tatsächlich Die Familie wohnte zwar nicht in einem Kilometer Entfernung, sondern im 4km entfernt gelegenen Cuerres, aber ansonsten hatte man uns die Wahrheit gesagt. Manfred und Brigitte waren vor zweieinhalb Jahren hierher ausgewandert, nachdem sie selbst als Pilger nach Santiago gewandert waren. Sie hatten sich und den Pilgern, die hier vorrüberkamen eine wahre Oase der Ruhe und der Erholung geschaffen. Als wir die beiden in ihrem Garten antrafen, waren wir sofort von ihnen begeistert. Es tat so gut, wieder einmal freundlichen und gut gelaunten Menschen zu begegnen, die uns aus vollem Herzen willkommen hießen. Das wir kein Geld hatten war kein Thema, denn sie betrieben ihre Herberge auf Spendenbasis, so dass jeder genau das geben durfte, was er konnte. Beim Abendessen erzählten wir von unserer Reise und stellten fest, wie lange es her war, dass wir so ausführlich von unseren Erlebnissen berichten konnten.

Spruch des Tages: Überall auf der Welt gibt es herzliche Menschen. Man muss sie nur finden.

 

 

Höhenmeter: 450 m

Tagesetappe 25 km

Gesamtstrecke: 2676,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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