Shanias letzter Tag

von Heiko Gärtner
20.11.2017 17:32 Uhr

07.07.2017

Die 14 Tage der gemeinsamen Zeit zu dritt neigen sich nun dem Ende entgegen. Das Tattoo ist vorerst fertiggestellt, darf nun einige Monate bis zu Shanias nächstem Besuch heilen und wird dann noch einmal nachgestochen. Die Themen, die wir uns vorgenommen haben, wurden bearbeitet, ein Plan für die Zukunft wurde erstellt und die Rückreise nach Deutschland ist geplant. Blieb nun nur noch zu hoffen, dass wir in dem Ort, in dem Shania den Zug nach Manchester erwischen sollte, auch einen Schlafplatz bekamen.

Die direkte Umgebung ist schön, nur das, was dahinter kommt nicht.

Die direkte Umgebung ist schön, nur das, was dahinter kommt nicht.

Schöne Wege durch unschöne Gegenden

Das die Gegend zwischen Glasgow und Edinburgh nicht die schönste der Welt werden würde, war uns klar gewesen und doch übertraf das, was wir vorfanden all unsere Erwartungen. Rein optisch war es hier sogar gar nicht mal so übel. Der Weg, der unsere Startortschaft mit unserem Etappenziel verband, schlängelte sich an einem Kanal entlang, führte über vier verschiedene Golfplätze und kam die meiste Zeit fast ohne Verkehr aus. Und doch konnte man die Wanderung kaum genießen, weil permanent irgendetwas den Frieden störte. Ob nun die Flugzeuge im Fünfminutentakt über uns hinweg flogen, ob die Golfplätze von Rasenmähern heimgesucht wurden, ob irgendeine Firma eine Lüftungsanlage verwendete, die alles im Umkreis von vier Kilometern beschallte oder ob der Wind den Straßenlärm von einer der vielen Hauptstraßen zu uns herüberwehte. Es gab, obwohl es idyllisch aussah, keine einzige Sekunde Ruhe an diesem Tag. Ist das nicht erschreckend?

Die Pilgerreise geht weiter...

Die Pilgerreise geht weiter...

Ein paar Fragen kamen bei der Sache schon in uns auf. Wenn etwa alle 5 Minuten Flugzeuge hier in Glasgow ankommen dann macht das rund 300 Flugzeuge pro Tag. Was passiert mit all den Leuten, die darin sitzen? Ich meine, Glasgow ist weder ein beliebtes Touristenziel, noch hat es eine große wirtschaftliche Bedeutung. Was also motiviert so viele Menschen hier herzufliegen. Man muss bedenken, dass Edinburgh ja auch schon wieder einen Flughafen hat.

Der einzig erkennbare Grund, warum überhaupt jemand hier herflog war, um Golf zu spielen. So wie es in anderen Gegenden in jedem Ort einen Bäcker oder einen Friedhof gibt, gibt es hier in jedem kleinen Dorf mindestens einen Golfplatz. Teilweise liegen sie so dicht, dass man aufpassen muss, dass man nicht aus Versehen auf dem falschen weiterspielt, wenn man den Ball zu weit verzieht. Doch auch hier wieder stellte sich uns die Frage, warum es für jeden Spieler in Ordnung ist, sich bei so einem Elitesport mitten in einem Kriegsgebiet zu befinden. Man zahlt hier tatsächlich tausende von Pfund im Jahr, um in Ruhe golfen zu gehen und dann fährt einem ununterbrochen ein Rasenmähermann direkt neben dem Ohr herum. Da muss man doch eigentlich eine Krise bekommen. Aber für die Menschen hier war das überhaupt kein Problem.

Nun geht es in die Highlands.

Nun geht es in die Highlands.

Um das Risiko zu minimieren, dass wir doch noch irgendwo in diesem Lärmchaos zelten mussten, weil wir keinen Platz fanden aber wegen Shanias Zug auch nicht weiter gehen konnten, telefonierte ich am Mittag sämtliche Kirchen unserer Zielortschaft ab. Es waren immerhin sieben Stück für einen Ort mit nicht einmal 10.000 Menschen. Vier davon konnte ich erreichen und davon war gerade einmal ein Pfarrer bereit, nach einer Lösung zu suchen. Einen Schlafplatz hatten wir damit schon einmal sicher, jedoch mit dem Haken, dass wir erst um 19:00 Uhr hinein konnten.

Leider entpuppte sich die Stadt wieder einmal als ein Ort, an dem man sich auf keinen Fall länger als 10 Minuten aufhalten wollte. Ich weiß nicht wie sie es geschafft haben, denn die Stadt selbst hatte eigentlich sogar das Potenzial richtig schön zu sein. Es gab eine Fußgängerzone, mehrere Parkanlagen und einige alte Gebäude, die durchaus sehenswert hätten sein können. Doch die Grundstimmung und der unbändige, all präsente Lärm machten einen Aufenthalt hier zur wahren Tortur. Das Härteste daran war jedoch, dass es keine Möglichkeit gab, sich irgendwo hin zurückzuziehen. Denn von den sieben Kirchen waren alle fest verschlossen. Der einzige Ort, den man uns zunächst anbieten konnte war das sogenannte Friendship-House, ein kleiner, kirchlicher Treffpunkt mit Tee- und Kaffeeausschank, in dem sich die alten Leute trafen, wenn ihnen langweilig war. Hier bekamen wir den sogenannten „Ruheraum“, der täglich um 11:00 Uhr für eine Gebetsrunde genutzt wurde. Ruheraum in diesem Fall bedeutete jedoch ein kleines Zimmer direkt über der Hauptstraße mit nahezu nicht existenten Fenstern, die einem das Gefühl gaben, direkt auf dem Mittelstreifen der Straße zu sitzen. Abgesehen davon, dass es hier nicht regnete, bot er keinen echten Vorteil gegenüber dem Bürgersteig und da das Haus um 16:00 Uhr bereits wieder schloss, stand schnell fest, dass wir eine andere Lösung brauchten. Immerhin konnten wir unser Gepäck in der anliegenden Kirche unterstellen. Wir selbst durften uns nach 16:00 Uhr jedoch auch in der Kirche nicht aufhalten, da diese stets verschlossen bleiben musste.

Es heißt Abschied nehmen

Es heißt Abschied nehmen

Heiko und Shania beschlossen, die Zeit für einen Spaziergang durch ein nahegelegenes Waldstück zu nutzen und ich machte mich auf die Suche nach einer sinnvolleren Alternative.

Es war ein Wahnsinn! Wir wollten nun noch weniger als je zuvor. Nicht einmal einen Schlafplatz, sondern nur einen irgendwie gearteten Raum, der nicht vollkommen grauenhaft war, in dem wir uns für einige Stunden am Nachmittag aufhalten konnten. Und trotzdem schien es unmöglich. Vor drei Jahren in Spanien hatte es einige größere Städte gegeben, in denen ich genauso umhergeirrt bin wie nun hier, doch damals hatte ich in Hotels angefragt, ob wir eine kostenlose Übernachtung bekommen könnten. Jetzt hatte ich einen umfangreichen Präsentationsordner mit mehr als 15 Presseartikeln und Referenzen und trotzdem war es unmöglich einen Raum für den Nachmittag zu bekommen.

Nach einigen erfolglosen Versuchen bei den schottischen Kirchen, deren Verantwortliche allesamt mit ihren Kirchenschlüsseln in den Urlaub gefahren zu sein schienen, klingelte ich an der Tür zum katholischen Pfarramt. Eine Frau mittleren Alters öffnete und schaute mich etwas missmutig an.

Eine Akupunktur zum Schluss.

Eine Akupunktur zum Schluss.

Dann kam die Höhe! Sagt mir diese Frau nicht allen Ernstes, dass wir uns in die Kirche nicht würden setzen können, da es aus Sicherheitsgründen nicht erlaubt sei, diese zu öffnen und Besucher hereinzulassen, wenn kein Verantwortlicher der Kirche anwesend ist. Könnt ihr euch das Vorstellen? Es gibt hier Kirchen im Überfluss, aber wenn jemand beten möchte, dann muss er es zu Hause oder auf der Straße tun, weil die Kirchen aus Sicherheitsgründen gesperrt sind. Warum hat man dieses Zeug dann überhaupt?

Kurz war ich überlegt, eine Grundsatzdiskussion mit ihr anzufangen, doch dann erinnerte ich mich wieder daran, was Heiko gestern über die Ablenkungen gesagt hatte. Diese Frau und ihre Argumente waren genau der Köder, den ich normalerweise schluckte, um mich selbst an den Haken der sinnlosen Zeitverschwendung zu hängen und dann mit leeren Händen weiter ziehen zu müssen.

„Kann ich bitte mit dem Pfarrer persönlich sprechen?“, fragte ich daher nur und stand kurz darauf einem freundlichen, grauhaarigen Herren gegenüber. Obwohl seine Sekretärin, was die rechtliche Lage betraf, durchaus recht hatte, schämte er sich zu tiefst für diese Aussage und war mehr als nur einverstanden, uns in die Kirche zu lassen. Dabei erzählte er mir auch einiges über die Hintergründe, die zu dieser Politik der geschlossenen Kirchen geführt hatten. In seinen ersten Jahren als Pfarrer waren alle Kirchen stets offen gewesen, doch dann hatte es immer wieder einige Übergriffe von frustrierten und gewaltbereiten Jugendlichen gegeben. Der Gipfel, den er selbst miterlebt hatte war, dass eine Gruppe Teenager Molotowcocktails in die Kirche geworfen hatten um zu sehen, was passiert. Er selbst hatte auch diesen Überfall nicht als Anlass gesehen, die Kirche zu verschließen, doch kurze Zeit später hatte er von der Polizei offiziell die Order bekommen, das von nun an alle Kirchen verschlossen sein mussten. Obwohl er als Pfarrer die ranghöchste Person in Sachen Kirche war, durfte er von nun an nicht einmal mehr über seine eigenen Gebäude entscheiden.

Ein erster Versuch mit der Ohrakupunktur.

Ein erster Versuch mit der Ohrakupunktur.

Kurz vor 19:00 durchquerten wir die Stadt dann ein weiteres Mal um zu unserem Schlafplatz zu gelangen. Die Kirche war mit Abstand die hässlichste der Stadt und es war schon fast etwas Klischeehaft, dass es wieder genau diese war, die uns letztlich aufnahm. Leider gibt es auch hier nun in jedem Raum irgendeinen Apparat, der brummt, surrt oder pfeift und da es keine richtigen Türen gibt, herrscht ein dumpfer, matter Hintergrund-Sound, der niemals aufhört. Abgesehen davon, ist der Platz aber nicht verkehrt. Er hat diesen besonderen Charme, kompletten verfallenen und man fühlt sich permanent wie in einer Zombie-Apokalypse aber es war ein Platz und wir bekamen sogar noch eine Lasagne dazu.

Spruch des Tages: Shania, komm bald wieder, ...

Höhenmeter: 240 m

Tagesetappe: 26 km

Gesamtstrecke: 23.940,27 km

Wetter: Windig, Regnerisch, Ungemütlich

Etappenziel: Kirche, Tarbert, Schottland

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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