Tag 896: Zwielichtige Gegend

von Heiko Gärtner
13.07.2016 21:49 Uhr

20.05.2016 So einsam und verlassen, wie unser Schlafplatz gelegen war, waren auch die Wege, die uns von hier aus weiter führten. Es waren holprige Sandpassagen mitten durch eine unberührte und idyllische Natur. In einem weiten Tal erstreckten sich die Wälder und Wiesen und zum ersten Mal seit langem hatten wir wieder das Gefühl, dass hier auch Bären und Wölfe heimisch sein konnten. Einen Bären sahen wir dann letztlich zwar nicht, dafür aber eine Zecke, die sich so vollgesogen hatte, dass sie fast die Größe eines Grislis hatte. Wir brauchten einen Moment, um sie überhaupt als Zecke identifizieren zu können, denn sie sah eher aus wie ein aufgeweichter Lutschbonbon. Ihre Beine waren nun im Verhältnis zu ihrem Körper so kurz, dass sie sich damit kaum noch fortbewegen konnte. Vielleicht hatte sie es mit ihrem letzten Wirt ein bisschen übertrieben, denn in diesem Zustand war sie selbst nun eine leichte Beute. Wenn sie es aber schaffte, einen ruhigen und sicheren Ort zu finden, dann war sie nun bereit, eine ganze Metropole voll kleiner Zeckenlarven in die Welt zu setzen.

[AFG_gallery id='866']

Der einzige Mensch, dem wir auf dem gesamten Weg begegneten, was der Schäfer von gestern Nachmittag. Er war noch immer genauso betrunken wie bei unserem kennenlernen und war über Nacht auch kein bisschen sympathischer oder angenehmer geworden. Dennoch waren wir beeindruckt, wie er es schaffte, in diesem Zustand eine Pferdekutsche über die holprigen Sandwege zu lenken, ohne dabei den Berg hinunter zu fallen. Ich selbst hätte mir das auf dieser Piste nicht einmal nüchtern zugetraut. Heute war es an der Zeit, wieder einmal unsere Computerakkus zu betanken. Heiko lud seinen für gewöhnlich über die Solarsegel, doch für beide reichte die Sonne im Moment nicht aus. Deswegen machte ich mich am Abend noch einmal auf in das nächste Dorf, um eine Bar mit einer Steckdose zu finden. Die letzten Ortschaften, die wir durchquert hatten, waren allesamt verschlafene Nester gewesen, die wirkten als wären sie vor gut 200 Jahren aus der Schweiz hier hergebracht und dann in der Zeit eingefroren worden. Dieses Dorf jedoch war anders. Ich merkte es gleich beim Eintreten, dass es sich irgendwie sonderbar, ja sogar etwas gruselig anfühlte. Als ich ins Zentrum kam, verstand ich warum. Es war ein Dorf, das fast hauptsächlich von Sinti und Roma bewohnt war, die ähnlich wie beim letzten Mal zu Dutzenden in winzigen, verfallenen Häusern lebten. Die meisten Menschen, denen ich auf der Straße begegnete waren noch betrunkener als mein Schäfer und viele schauten mich mit argwöhnischen Blicken an. Insgesamt gab es nur zwei winzige Lädchen, die sich beide in hölzernen Baracken befanden und die jeweils von einer Horde biertrinkender Alkoholiker belagert wurden. Die einzige Bar befand sich mitten auf dem Platz und wurde von rund dreißig zwielichtigen Jugendlichen umringt. Ich spürte, wie ich eine Gänsehaut bekam. War es wirklich eine gute Idee, hier meinen Laptop auszupacken und zu laden, wenn ich anschließend im Dunkeln wieder durch das ganze Dorf musste? Vorsichtshalber lief ich einmal die Straßen auf und ab, um zu prüfen, ob es nicht doch irgendwo eine Alternative gab. Doch es gab keine. Strom oder kein Strom?

[AFG_gallery id='867']

Das war jetzt die Frage. Vertrauen, das alles gut geht, oder auf Nummer sicher gehen und umdrehen. War es den Menschen hier gegenüber ungerecht, ihnen eine böse Absicht zu unterstellen, oder wäre es naiv und blauäugig, genau dies nicht zu tun? Ich schaute noch einmal aufmerksam in die Runde und versuchte anhand der Gesichter irgendetwas aus ihrer Seele zu lesen. „Verdammt, wenn ich das doch nur könnte!“ Fakt war, ich hatte keine Ahnung. Aber ewig auf dem Platz herumzustehen und dabei unentschlossen und dämlich auszusehen machte die Sache auch nicht besser und so beschloss ich schließlich ohne besonderen Grund, dass ich den Menschen doch trauen konnte. Die Bar selbst schien ohnehin leer zu sein und vielleicht bemerkte mich ja nicht mal jemand. Kaum hatte ich mich hingesetzt und mein mobiles Büro eingerichtet, zeigte sich das zumindest der letzte Gedanke reine Naivität war. Binnen Minuten füllte sich die Bar mit Gästen und plötzlich saß ich mitten in einer Traube von schnatternden, trinkenden und gestikulierenden Einheimischen. Zu meiner großen Verwunderung nahm aber trotzdem niemand eine Notiz von mir. Sie behandelten mich, als wäre ich Luft und langsam stellte sich wieder ein Gefühl von achtsamer Gelassenheit in mir ein.

[AFG_gallery id='868']

Dann aber wurde es spannend. Solange ich in der Bar saß, hatte ich nichts zu befürchten, dessen war ich mir bewusst. Aber was war nun, wenn ich wieder nach draußen ging und die kleinen, sandigen Gassen alleine mit meinem Gepäck durchquerte, von dem nun jeder wusste, was es war? Die Sonne war bereits untergegangen und über dem Dorf lag nun ein schummriges Zwielicht, so wie man es gerne in Horrorfilmen einsetzt, um eine dramatische Spannung zu erzeugen. Eines war also klar, wenn ich mich in die Höhle des Löwen begeben wollte, musste ich vorbereitet sein! Also Rucksack auf, Wasserflasche in die rechte Hand und das entsicherte Bärenabwehrspray so eingesteckt, dass ich es im Sekundenbruchteil im Anschlag haben konnte. Eigentlich fehlte mir nun nur noch ein rotes Stirnband und schon fühlte ich mich wie ein kleiner Möchtegernrambo für Arme. Mit wachsamen Blick durchquerte ich die Straßen und achtete dabei auf jede Bewegung. An der Ecke hingen ein paar Jugendliche ab, die mich zuvor bereits eingehend gemustert hatten. Als ich näher kam drehten sie sich zu mir um und schauten mich erneut an. Ich spürte, wie ich mich bereits kampfbereit machte. Dann hob einer der Jungs die Hand und rief: „Aide!“ was sich grob übersetzen lässt mit „Servus!“ Er und seine Kumpels lächelten und wünschten mir eine gute Reise. Mein Misstrauen war also vollkommen umsonst gewesen. Plötzlich fiel die Anspannung von mir ab und die Menschen wirkten mit einem Mal weitaus weniger düster als zuvor. Bis zum Ortsausgang begegneten mir insgesamt noch rund zehn weitere Leute, die alle meinen Gruß freundlich erwiderten. Die Gefahr, in der ich geschwebt war, hatte also die ganze Zeit nur in meinem Kopf stattgefunden.

Spruch des Tages: Es gibt keinen größeren Feind, als die eigene Angst.

Höhenmeter: 160 m Tagesetappe: 22 km Gesamtstrecke: 15.818,27 km Wetter: bewölkt und warm, leichter Regen, später heftiges Gewitter Etappenziel: Zeltplatz im verlassenen Lagerhaus, kurz vor 907145 Independența, Rumänien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare