Tag 1014: Stift Melk

von Heiko Gärtner
13.10.2016 02:14 Uhr

28.09.2016

Werners Job brachte es mit sich, dass er immer auf Achse sein musste. Er betreute alle Autohändler seines Fabrikats in Südostösterreich und fuhr dafür teilweise mehr Zeit mit dem Auto umher, als er bei seinen Kunden verbrachte. Ein ganz normaler Außendienstjob also. Heute bedeutete dies, dass er um acht Uhr aus dem Haus und zuvor bereits zwei Stunden Bürokram erledigen musste. Dies wiederum bedeutete für uns, dass unsere Nacht gegen sieben Uhr vorbei war, damit wir alles rechtzeitig zusammenpacken und dann noch entspannt einen Tee zusammen trinken konnten.

In der Nacht war die Temperatur auf weit unter zehn Grad gefallen und auch um acht Uhr in der Früh war es noch immer so bitter kalt, dass unsere dünnen Sommerjacken kaum ausreichten. Jeden Tag freuten wir uns nun immer etwas mehr auf den Besuch von Heikos Eltern, die uns schon bald unsere neue Ausrüstung vorbeibringen würden, zu der auch meine Robe und eine anständige Winterkleidung gehörte.

Über dem Donautal lag noch ein dichter Nebel, der auch die Sonne verschleiherte, die bereits am Himmel stand, aber noch keine Kraft hatte. Alles schien noch zu schlafen, nur der verehr war schon wach. Um auf die andere Flussseite zu gelangen, an der sich das Kloster Melk befand, mussten wir über eine Brücke, die sogar noch stärker befahren war, als alle Straßen zuvor. Das Überwechseln von einer Donauseite zur anderen hatte sich bereits in der Vergangenheit immer als Tortur erwiesen und es wurde auch in dieser Region nicht besser.

Direkt hinter der Brücke ragte von seinem Plateau aus das riesige Kloster Melk empor. Bereits von hier aus konnte man erkennen, dass es nicht einfach nur ein Kloster war. Es war eien Festung, ein Schloss, ein Prunkbau von einem Ausmaß, auf das mancher König neidisch gewesen wäre. Doch bevor wir uns mit diesem Komplex näher beschäftigen konnten, brauchten wir erst einmal ein Frühstück. Unsere Wahl fiel dabei auf einen Schlachter in der Mitte des Kirchplatzes, der auch einen angegliederten Restaurantbetrieb hatte. Der Besitzer war ein frölicher junger Mann, der uns nicht nur zum Essen einlud, sondern sich auch noch einen Moment zu uns gesellte. Es gab Schnitzel mit Kartoffelsalat und Hackfleischknödeln, was ein etwas ungewöhnliches aber durchaus angemessenes Frühstück nach unserem Geschmack war.

"Eine Reise wie eure sollte definitiv in der Zeitung erwähnt werden!" meinte er und beschrieb uns den Weg zur Lokalredaktion der Niederösterreichischen Zeitung, die sich gleich um die Ecke befand. Frisch gesättigt standen wir dort wenige Minuten später vor der Tür und bekamen auch promt ein entspanntes und angenehmes Interview und einen warmen Tee. Wenn alle Pressekontakte immer so entspannt wären, dann könnte man so etwas fast beruflich machen.

Nach unserem Pressegespräch und einem Fotoshooting auf dem Platz vor besagter Schlachterei machten wir uns dann aber doch endlich einmal auf, um das Kloster zu besuchen. Wieder mussten wir feststellen, dass man die heiligen Hallen nur dann betreten durfte, wenn man einen nicht unerheblichen Eintritt auf die Kasse legte. Oder natürlich, wenn man freundlich mit den Kassierern sprach und erklärte, warum einem eben dies nicht möglich war.

Bereits im Vorhof wurde klar, dass dieses Kloster mit einem Kloster wieder einmal so viel zu tun hatte, wie mit einem Baseballspiel. Das heißt, das stimmt nicht ganz, denn die Parallelen zum Baseballspiel sind tatsächlich bedeutent größer. Allein was die Besucherzahlen anbelangt konnte sich das Kloster Melk locker mit einer Großsportveranstaltung messen. Wie wir später erfuhen ist es das meistbesuchte Kloster in ganz Europa. Die Führungen werden hier in neun verschiedenen Sprachen abgehalten und in der Hauptsaison herrschte ein Betrieb, der es einem unmöglich machte stehen zu bleiben, wenn man nicht überrannt werden wollte. Dabei war der tourisisch Erschlossene Teil des Klosters nur der kleinste. Der größte Teil der Gebäude wird von der ältesten Schule Österreichs eingenommen, in der bis heute Gimnasialunterricht stattfindet. Laut Angaben der Dame vom Kassenschalter handelt es sich dabei natürlich um eine der besten Schulen des Landes. Mit "am Besten" ist dabei jedoch wahrscheinlich "am elitärsten" gemeint, denn dass es den Schülern wirklich gut tat, hier unterrichtet zu werden, war nur schwer vorstellbar. Könnt ihr euch vorstellen, in eine Schule zu gehen, in der tagtäglich hunderttausende von Touristen an eurem Klassenfenster vorbeischieben und zu euch hineingaffen als wärt ihr ein Teil der Ausstellung des Museums? Ich muss ehrlich zugeben, ich könnte es nicht.

Der hintere Teil des Komplexes, der für die Touristen vollständig gesperrt war, war das Konvent der Mönche, in dem heute 30 Benediktinerbrüder lebten. Die Zahl der Mönche im Melker Stift hatte offenbar im Laufe der 900 Jahre seiner Existenz sehr stark geschwankt. Es gab Episoden in denen gerade einmal zwei oder drei Brüder hier lebten und dann wiederum gab es Hochphasen in denen das Kloster von mehr als Hundert Mönchen bewohnt war. Seit seiner Gründung war es immer wieder erweitert und angebaut worden und tatsächlich war es in seinem Ursprung kein Kloster sondern eine Festung zur Verteidigung des Donauufers gewesen. Im Laufe der Zeit hat sich das Stift dann immer mehr zu einem Dreh- und Angelpunkt der Kirche entwickelt. Es war definitiv kein Bergkloster, wie wir es aus Italien kannten, also kein Ort, an den man sich zurückzog, um geistige Einkehr und seinen Weg zu Gott zu finden. Es war eine politische Hochburg in der die Bischöfe und Kardinäle ihre Entscheidungen trafen und in der Pakte und Verträge mit der weltlichen Regierung geschlossen wurden. Irgendwann bekam sogar die Königsfamile einen eigenen Flügel im Kloster, den die einfachen Mönche nicht einmal betreten durften.

In unserer Eintrittskarte war keine Führung enthalten, aber es war fast unmöglich, nicht trotzdem immer irgendwo bei einer dabei zu sein. Die ersten beiden waren chinesisch und die dritte Tschechisch, was uns persönlich jezt nicht so richtig viel brachte. Aber dann kamen immer mehr deutsche Gruppen, bei denen man hin und wieder ein paar Worte aufschnappen konnte. Im Nachhinein betrachtet was das jedoch auch nicht viel interessanter, als das chinesische. Der Hauptunterschied bestand darin, dass die Deutschen einen immer wieder anmeckerten, wenn man versuchte, ein Foto zu machen. Denn im kompletten Innenbereich des Klosters war das Fotografieren und Filmen verboten, selbst wenn man nur eine Handykamera hatte. Besonders Heiko ärgerte sich über dieses Verbot. Wie konnte es sein, dass man hier als normaler Tourist rund 20€ Eintritt zahlte, und nicht einmal ein Foto machen durfte. "Kein Blitz" war ja in Ordnung, aber gar keine Bilder? Nur damit man dann im Anschluss Postkarten mit Fotos für 55 Cent verkaufen konnte?

Der erste Bereich des Besucherteils war in ein Museum verwandelt worden. Ähnlich wie in Auschwitz hatten sich hier verschiedene Künstler und Innenarchitekten ausgetobt, um die antiken Säle in hochmoderne, Cyberräume zu verwandeln. Überall funkelten abstrakte Glaskonstruktionen und alles leuchtete im Licht versteckter LEDs. Auf der einen Seite sah das schon recht lustig aus, auf der anderen Seite musste man aber auch sagen, dass dadurch wieder einmal jedes Gefühl abgetötet wurde. Die ursprünglichen Säle hatten eine Ausstrahlung, eine besondere Atmosphäre, die mit ihrer jahrhundertealten Geschichte verbunden war. Doch die neumodernen Glasgebilde waren in erster Linie kalt und steril. Ästhethisch, außergewöhnlich, extravagant, das auf jeden Fall, aber auch unpersönlich und seelenlos. Warum es uns heute so wichtig ist, alles in ein durchdesigntes Kunstwerk zu verwandeln, damit man den wahren Charakter nicht mehr erkennt, ist mir ein Rätsel. Vielleicht fällt es mir aber auch nur deshalb so stark auf, weil es ja gerade genau mein Thema ist.

Der zweite und wesentlich beeindruckendere Teil war die alte Klosterbibliothek, von der man leider nur zwei Räume besichtigen durfte. Noch heute war die Bibliothek aktiv und man konnte zum Studieren und Schmökern herkommen, wenn man dafür einen triftigen Grund hatte. Beispielsweise, weil man Student der Wiener Universität war, die bereits seit mehr als 600 Jahren in einer engen Verbindung zum Kloster stand. Viele der Werke waren noch aus der Zeit vor der Erfindung des Buchdrucks und waren handgeschriebene, wissenschaftliche Abhandlungen über Medizin, Physik und dergleichen mehr. Lustigerweise erinnerten uns die meisten dabei an jene Werke, die wir in der antiken Bibliothek in Italien einfach hatten durchblättern dürfen. Hier war natürlich alles hinter verschluss und durfte wie gesagt nicht einmal fotografiert werden.

Am Ende des Bibliothekbereichs führte eine Wendeltreppe hinab in die Stiftskirche. Es war die mit Abstand protzigste und prunkvollste Kirche die wir je gesehen hatten und sie sprühte geradezu vor Gold und Glitzer. Auch hier war das Fototgrafieren natürlich wieder stengstens untersagt, woran wir uns, wie ihr euch denken könnt natürlich auch strikt hielten. Besucher, die keinen Eintritt zahlen konnten oder wollten, durften auch die Kirche nicht betreten. Für sie gab es einen kleinen Seitengang, der mit Glasscheiben vom Rest des Kirchenschiffs abgetrennt war und von dem aus sie einen flüchtigen Blick erhaschen konnten. Mehr war hier für sie nicht drin.

Die Kirche selbst war die letzte Station des touristisch begehbaren Klosterbereichs. Mit der Eintrittskarte konnte man nun noch in den Klostergarten, der außer einem Café mit überteuertem Kuchen jedoch so gut wie nichts zu bieten hatte, und in eine Sonderausstellung mit moderner Kunst, die wieder einmal Geschmacksache war. Alles in allem hatten wie genau wie in Klosterneuburg auch hier das Gefühl, dass wir wahrscheinlich enttäuscht gewesen wären, wenn wir den Eintritt wirklich hätten zahlen müssen. Das Kloster war definitiv beeindruckend, gar keine Frage, aber es war eben auch zu einer reinen Touristenabzocke verkommen. Und dies spürte man leider überdeutlich. Auch Vezeley, Fátima und Santo Torribio waren Touristenhochburgen gewesen, doch dort hatte es noch immer einen gewissen Geist gegeben, irgendeine Art von Magie oder von Ausstrahlung, die den ganzen Trubel rechtfertigte. Hier konnten wir etwas ähnliches leider nicht spüren.

Wieder auf der Straße machten wir uns zurück auf den Weg zum Donauufer. Der Weg führte nun wieder direkt am Wasser entlang und wurde von keiner Straße begleitet. Doch das änderte am Lautstärkepegel leider zunächst nur wenig, denn in etwa hundert Meter Entfernung rauschte die Autobahn vorbei und alle vier bis fünf Minuten wurde die Zuglinie mit kilometerlangen Güterzügen befahren. Hinzu kam ein heftiger Gegenwind, der die Pappeln um uns herum ordentlich zum Rauschen brachte. Es war wie verflucht, so als wollte das Universum verhindern, dass es auch nur eine einzige Ruhige Minute geben durfte.

Mitten in diesem Rauschkonzert wurden wir von einem älteren Herren angesprochen, der ein Foto von uns machen wollte. Er war gerade in die Rente gekommen und nutzte nun seine Zeit so gut wie Möglich um unterwegs zu sein und das Leben zu genießen. Direkt nach dem Ruhestand hatte er sich ein Fahrrad gekauft und war mit diesem innerhalb der ersten Monate bereits 30.000km durch Europa gefahren. Auch sein Sohn war ein begeisterter Weltenbummler und Abenteurer und als er von ihm erzählte, spürte man in jeder Pore, wie stolz der alte Mann darauf war. 45 Jahre lang hatte er in der Arbeit gebuckelt und dabei all seine Träume hinten angestellt. Nun wollte er sie endlich leben und er war voller Begeisterung dafür, dass sein Sohn bereits in jungen Jahren das selbe tat. Eine seiner Lieblingsroutinen, die er bereits als Berufstätiger regelmäßig machte und die er sich bis heute erhalten hat, ist es, den Sonnenaufgang auf der Spitze eines Berges zu beobachten. Wenn der Wetterbericht einen klaren Morgen voraussagt, steht er bereits um drei oder vier Uhr in der Früh auf und steigt mit einer Strinlampe im Dunkeln auf einen Berg in der Umgebung, den er sich zuvor herausgesucht hat. Wenn er den Gipfel erreicht sind es meist nur noch ein paar Minuten, bis das erste Morgenrot am Himmel erscheint. Dann schiebt sich langsam die Sonne über den Horizont. Er zeigte uns Bilder, die er im letzten Winter gemacht hatte. Ganz langsam und vorsichtig begann der Schnee das rote Licht der Sonne zu spiegeln, bis er schließlich vollkommen zu glühen begann. "Dieser Momen", meinte er, "gehört ganz mir! Und er gibt mir eine unglaubliche Kraft. Wenn ich das gemacht habe, habe ich immer den ganzen Tag, manchmal sogar die ganze Woche viel mehr Energie und Gelassenheit als gewöhnlich. Es ist erstaunlich, was für eine Power die Berge haben!"

Unser heutiger Zielort hieß Pächlarn. Einen Pfarrer trafen wir hier schon wieder nicht an, nur ein Schild an seiner Tür, das besagte, dass er aufgrund von zu vielen Seelsorgestunden so gut wie nie erreichbar wäre. Im Rathaus konnte man uns hingegen weiterhelfen und so bekamen wir für heute ein Bootshaus, in dem wir nächtigen dürfen. Es ist das Vereinshaus des Rudersportvereins. Leider sind die Wände recht dünn und man hört den Straßenlärm hier drinnen lauter, als wir ihn gestern im Wohnmobil gehört hatten. Am späten Nachmittag bekamen wir dann einen etwas seltsamen Besuch von einer Radfahrerin, die zunächst einmal um das ganze Haus herumlungerte und schaute, ob jemand da war. Obwohl das Licht brannte, schien sie uns jedoch nicht zu bemerken und zunächst dachte ich, sie wolle einfach wieder fahren. Dann aber baute sie ihr Zelt direkt bei uns vor der Tür auf. Als inzischen relativ erfahrene Wildcamper stellten sich uns bei diesem Anblick ehrlich gesagt die Armhaare auf. Mit ihrer Zeltplatzwahl verstieß die junge Dame gegen jede Regel der Vernunft, die man beim Wildcampen beachten sollte. Sie zeltete in unmittelbarer Nähe zur Hauptstraße auf einem Privatgrund mitten in einer Stadt, direkt neben einem Sportplatz, in einem Land, in dem Alkohol so beliebt war wie sonst kaum etwas. Fast schon hatten wir den Impuls, hinauszugehen und ihr zu sagen, dass dies eine verdammt riskante und unüberlegte Idee war. Doch dann stand sie plötzlich bei uns im Raum und fing ohne einen Gruß an, in irgendwelchen Unterlagen herumzuwühlen. Als wir sie fragten, was das solle meinte sie nur, dass sie bereits im letzten Jahr hier gezeltet hätte, das es damals kein Problem gegeben hätte und dass es hier irgendwo ein Gästebuch zum eintragen geben müsse. Einen Moment lang war ich perplex und wusste nicht recht, wie ich damit umgehen sollte. Als ich mich wieder gefasst hatte, erklärte ich ihr, dass wir selbst nur Gäste waren und daher nicht entscheiden konnten, was in Ordnung war und was nicht. Sicher wäre es das Beste, wenn sie den Vereinsvorstand anrief und alles mit ihm besprach. Das war das letzte, was wir von ihr hörten, aber wie es aussieht scheint sie irgendetwas abgeklärt zu haben, denn sie geistert nun noch immer gelegentlich durch unser Haus und hat dafür zuvor eine Einführung von einem Einheimischen bekommen.

Am Abend drehten wir noch einmal eine kurze Runde durch die Stadt um ein Abendessen aufzutreiben. Zunächst wurden wir dabei von der örtlichen Dönerbude unterstützt und dann von Johnys Burger-Restaurant. Beides war sehr lecker, obwohl man zugeben muss, dass wir uns langsam immer mehr danach sehnen, unseren alten Ernährungsplan wieder aufzunehmen, den wir nun schon vor über einem Jahr haben fallen lassen.

Spruch des Tages: Politik und Kirche sind dasselbe. Sie halten die Menschen in Unwissen. (Bob Marley)

Höhenmeter: 30 m Tagesetappe: 42 km Gesamtstrecke: 18.563,27 km Wetter: bewölkt und regnerisch, abends sonnig Etappenziel: Gästezimmer von Heikos Schwester, Osterhofen, Deutschland

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

1 Kommentare

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare