Tag 1031: Maria vom Bogenberg

von Heiko Gärtner
05.11.2016 18:54 Uhr

13.10.2016

Als Quatrier für die Nacht hatten wir dieses Mal sogar ein ganzes Pfarrhaus zur Verfügung. Es stand bereits seit 15 Jahren leer, wurde aber noch immer zwei Mal die Woche geputzt und gepflegt. Dies war dann wohl doch ein Unterschied zu Italien, denn dort waren die Gebäude fast immer dem Verfall übergeben worden, wenn man sie nicht mehr brauchte. Neben dem gut geheizten Büro zählte vor allem die Badewanne zu den besonderen Vorzügen unseres Quartiers. Obwohl das Haus topp in Schuss war und man von heute auf morgen hätte einziehen können, merkte man doch, dass gerade die sanitären Anlagen darunter litten, dass sie überhaupt nicht mehr genutzt wurden. Auch wenn man sie regelmäßig putzte, konnte man nicht verhindern, dass sich der Kalk ablagerte und dass die Toiletten braune Ränder bekamen. Es war eben doch ein Unterschied, ob man eine Spühlung einmal in der Woche oder dreimal am Tag betätigte. Bei der Badewanne hatte das zur Folge, dass der Stöpsel so vergriesgnaddelt war, dass man ihn nicht mehr runterdrücken konnte. Eine Weile stand Heiko ratlos davor, doch dann fiel ihm ein altes Hausrezept ein, das in dieser Hinsicht wahre Wunder wirken konnte. Kalkablagerungen ließen sich mit Säure auflösen und wenn man sonst keine zur Verfügung hatte, besaß man doch stets die, die man tagtäglich selbst produzierte. Eigentlich darf man das wohl keinem so direkt sagen,denn es war ja nicht unsere eigene Badewanne. Aber ein klein wenig in die Wanne pinkeln reichte aus und der Stöpsel flutschte wieder wie geschmiert.

Eigentlich hätte uns der Donauradweg heute direkt in Stefansposching mit einer kleine Fähre über die Donau führen sollen. Seit vielen Jahrzehnten fuhr die Fähre hier schon auf die gleiche Weise über den großen Fluss, wie wir es in Ungarn gesehen hatten und die Einheimischen waren durchaus stolz auf ihr traditionelles, kleines Schiffchen. Im letzten April jedoch hatte sie einen Traktor mit anhänger transportieren wollen. Kurz vor der Abfahrt war dann noch ein Kleinlaster mit an Bord gefahren und hatte sich in der Hektik dummerweise auf die Steite gestellt, die ohnehin schon nahezu ausgelastet war. Damit war die Fähre überfordert gewesen und sie war schlicht und ergreifend gesunken. Einfach abgesoffen, mit Mann und Maus untergegangen. An der Straße, die zum Anleger führte stand nun, dass die Fähre vorrübergehend nicht verfügbar war, doch die Frau vom Gemeinderat machte sich da nichts vor. Es war noch nicht offiziell, aber so wie es aussah, würde Stefanposching keine neue Fähre bekommen. Mit der alten war nun also auch die Anbindung ans andere Ufer untergegangen. Nicht nur für die Einheimischen, sondern auch für die Radfahrer, die den Donauweg nutzten.

Bis zur nächsten Brücke, blieben wir also auf unserer Seite, was zunächst auch nicht weiter tragisch war, da es auch hier sehr schöne Wege gab. Dennoch waren wir bestürzt darüber, wie laut es hier in Deutschland überall ist. Die Wege führten uns mitten durch den Wald und über die Felder und es gab keine großen Straßen in unserer direkten Nähe. Und doch war die Autobahn, die nun bereits rund 10km entfernt war, allzeit präsent. Das Hintergrundrauschen hörte niemals auf und wurde nur teilweise von anderen Störgeräuschen übertönt. Waren wir gerade in einer komischen Gegend oder war das schon immer überall in Deutschland so gewesen? Wir mochten es nicht mehr mit Sicherheit sagen.

Um die Brücke zu überqueren mussten wir dann natürlich wieder direkt an der Hauptstraße entlang. Auf der gegenüberliegenden Seite erreichten wir den Bogenberg, der als heiligster Berg von Niederbayern gilt. Hundert Höhenmeter auf einer rutschigen Rüttegasse mit Steigungen von weit über 20% zu überwinden klang nich allzu verlockend, doch es war immer noch deutlich besser, als unten an der Hauptstraße entlang zu gehen. Teilweise mussten wir die Wägen zu zweit nach oben wuchten und es reichten bereits mehrere Meter, bis wir keuchten wie zwei alte Dampflocks. Die Aussicht oben auf dem Berg war beeindruckend, wenngleich hier das Verkehrsrauschen natürlich noch einmal um einiges lauter war, da es nun von allen Seiten kam. Die Wallfahrtskirche, die sich hier oben befand, hatte eine 500 Jahre alte Tradition. Damals musste es ein wirklicher Rückzugsort gewesen sein, der sicher eine Menge Kraft hatte. Heute wirkte es fast zynisch, dass man hier Bänke zum ausruhen aufgestellt hatte, von denen aus man den LKWs dabei zusehen konnte, wie sie über die Brücke fuhren und die gesamte Ebene beschallten.

Die Tradition der Wallfahrtskirche war durchaus auch eine eigene. Seit dem 15. Jahrhundert gab es einen Pakt der Menschen mit der heiligen Maria vom Bogenberg, dass diese den Befall der Wäder mit Borkenkäfern verhinderte, wenn die Menschen ihr jährlich zu Pfingsten eine Opferzeremonie darbrachten. Diese bestand darin, dass man als Prozession rund 75km von Deggendorf hier her pilgerte und dabei eine 15m lange Kerze mitbrachte, die dann in der Kirche aufgestellt wurde. Die letzten Meter den Berg hinauf wurde die Kerze dann senkrecht aufgestellt und von den jeweils stärksten Pilgern alleine weitergetragen, bis diese nicht mehr konnten und sich von einem anderen ablösen ließen.

In Bogen selbst sprachen wir zunächst mit einem Mann vom Rathaus. Prinzipiell hätte er schon einen Raum für uns und eigentlich spräche auch nichts dagegen, aber woher wisse er denn, dass wir die sind, die wir vorgeben zu sein und nicht doch eine Bombe im Rucksack hatten? Es seien schwierige Zeiten und man könne heutzutage einfach niemandem mehr trauen, weil die Gewalt und die Kriminalität immer mehr zunehme. Lustigerweise hielt ihn seine Skepsis nicht davon ab, uns einen Platz zu organisieren, nur sorgte er dafür, dass wir am Ende in den Gebäudlichkeiten der Kirche und nicht in denen der Stadt landeten. Wenn wir am Ende doch Terroristen waren und das Prarrhaus sprengten, dann war er zumindest aus dem Schneider. In Griechenland hatten wir die Angst der Menschen als besorgniserregend empfunden, da durch sie jede Form der Menschlichkeit immer mehr verloren ging. Je länger wir uns wieder in Deutschland aufhielten, desto klarer wurde uns jedoch, dass es hier nicht anders war. Der Mann war sogar der festen Überzeugung, dass die Angst etwas gutes und wichtiges war. Es wurde eben alles immer schlimmer und gefährlicher und da brauchte man die Angst um sich nicht selbst in Gefahr zu bringen. Aber stimmte das wirklich? War es am Ende nicht vielleicht sogar andersherum, dass die Angst den Anstieg an Verbrechen überhaupt erst ermöglichte? Durch sie wurden wir panisch und unaufmerksam, das kannte ich ja nur allzu gut von mir selbst. Je größer meine Angst wurde, desto weniger bekam ich von meiner Umgebung mit, weil ich mich immer mehr auf mein innen versteifte. Angst sorgte außerdem dafür, dass man pauschalisierte und dazu geneigt war, sich allem zu verschließen, das man nicht kannte. Der Dönermann an der Ecke hatte da eine andere Einstellung. Er erzählte uns, dass er gerne Menschen unterstütze, die etwas brauchte, aber dass er sich stets genau anschaute, wer da vor ihm stand. Warum war er hier, was brauchte er wirklich, war er authentisch, war er freundlich und sympathisch, welches Bauchgefühl kam auf, wenn man mit ihm sprach? Wenn er das Gefühl hatte, ausgenutzt oder belogen zu werden, dann gab es nichts, hatte er aber das Gefühl, dass jemand wirklich Unterstützung brauchte und dass er für eine gute Sache einstand, dann gab er gerne und von Herzen. Warum fällt es uns oft so schwer, die gleiche Unterscheidung zu machen. Die Annahme, dass die Welt immer gefährlicher wird, ganz gleich ob dies nun so war oder nur propagiert wurde, sollte doch eigentlich dazu führen, dass wir wachsamer, aufmerksamer und hellfühliger werden. Dass wir Dinge hinterfragen und nicht alles einfach blind glauben. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Je mehr Angst wir haben, desto mehr klammern wir uns an das vorhandene System, selbst dann wenn wir verstehen, dass es die Ursache unserer Angst ist.

Als wir wenig später beim Pfarrer aufschlugen meinte dieser nur brummig: "Ja, ja, die Jungs vom Rathaus machen es sich immer schön einfach und laden ihre ganzen Fälle bei uns ab. Soll sich doch die olle Kirche darum kümmern!"

Spruch des Tages: Was du für den Gipfel hältst, ist nur eine Stufe. (Seneca, römischer Dichter und Philosoph)

Höhenmeter: 160 m

Tagesetappe: 17 km

Gesamtstrecke: 18.831,27 km

Wetter: teils sonnig, teils bewölkt mit kaltem Wind

Etappenziel: Bierstübchen der katholischen Pfarrgemeinde, 90537 Feucht, Deutschland

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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