Tag 1052: Von Bad Waldsee bis Weingarten

von Heiko Gärtner
18.11.2016 02:27 Uhr

09.11.2016

Erst einmal möchten wir uns an dieser Stelle noch ganz herzlich bei der „Kissenwelt“ für die großartigen Reisekissen bedanken. Seit wir sie dabei haben schlafen wir gleich noch einmal ein gutes Stück besser und vor allem Heiko mit seinem aufblasbaren Sofa ist jedes Mal fast traurig, wenn wir irgendwo ein Bett angeboten bekommen und wir daher keine Möglichkeit haben, unsere eigene Schlafausrüstung zu nutzen. Auch die Kamerakissen haben sich schon als sehr praktisch erwiesen. Vor allem dann wenn wir Fotos mit uns beiden darauf machen wollen und die Kamera dafür irgendwo positionieren müssen.

Das einzige, was unsere Nacht dieses Mal doch etwas unruhig werden ließ, waren die Hauptstraße, die direkt hinter und vorbei führte und die vielen Träume die uns besuchten. Wirklich erinnern konnten wir uns am Morgen beide nicht daran, aber wir wussten, dass wir im Geiste einiges erlebt hatten, was uns tief beschäftigte. Zum Frühstücken waren wir noch einmal bei unserer Nachbarin eingeladen. Sie lebte in einem großen, alten Bauernhaus mit vielen leeren Zimmern. Früher hatte es hier immer reichlich Trubel gegeben, doch nun waren die Kinder aus dem Haus und auch der Mann war bereits vor einigen Jahren verstorben. Seither war es still und oft auch sehr einsam geworden. Wieder einmal jemanden zum Reden zu haben, tat der alten Dame sichtbar gut und sie begann nach kurzer Zeit regelrecht aufzuleben. Manchmal war gar nicht viel nötig, um einen Beitrag zu leisten. Man brauchte nur da zu sein um einem Menschen ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern, und ihm seinen Tag zu versüßen.

Die Stärkung und vor allem der heiße Tee vom Frühstück waren aber gerade heute auch für uns besonders wichtig. Wir näherten uns nun immer mehr den Alpen und man spürte deutlich, wie es mit jedem Meter, den wir höher kamen, auch immer kälter wurde. Gegen Mittag fielen die ersten Flocken und an den Schneeresten im Wald und auf den Dächern konnte man deutlich erkennen, dass es an den letzten Tagen hier bereits ordentlich geschneit hat. Als wir aus einem Wald heraustraten, wurde nach Rechts plötzlich der Blick auf die Berge frei. Die durchgehend graue Wolkendecke endete kurz vor den schroffen Riesen und ließ einen Spalt für das Sonnenlicht frei. Dieses tauchte die Alpen in ein sanftes Orange-Gelb, wodurch sie gleich noch beeindruckender wirkten. Nicht nur ihre Gipfel waren schneebedeckt. Der Schnee reichte hinunter bis zu ihren Füßen. So faszinierend der Anblick auf der einen Seite war, so besorgniserregend war er es auf der anderen. Hier war es ja bereits bitterkalt, wie sollte es dann erst werden, wenn wir in der Schweiz ankamen und mitten durch dieses Gebirge kamen?

Unser heutiges Etappenziel war die Stadt Bad Waldsee. Der Jakobsweg, auf dem wir uns befinden hatte uns ja bereits an vielen Sehenswürdigkeiten und Touristenzielen vorbeigeführt, doch diese kleine Stadt war mit Abstand die schönste davon. Sie war, wie ihr Name vermuten ließ, direkt am Ufer eines kleinen Sees gebaut worden und bestand aus einer ruhigen, malerischen Altstadt mit vielen Fachwerkgebäuden, einem bunt verzierten Rathaus und einer durchaus imposanten Kirche. Nur den Wald, der dem See einst seinen Namen gegeben hatte, den gab es heute nicht mehr. Man hatte ihn gefällt, weil man ja Platz für die Stadt brauchte.

Als wir Bad Waldsee erreichten, war die Temperatur bereits unter den Nullpunkt gefallen. Kleine, feine Schneeflocken rieselten vom Himmel und verliehen der Stadt noch einmal eine ganz besondere Stimmung. Alles wirkte ruhig und friedlich, fast wie aus einem Märchen.

10.11.2016

Langsam nähern wir uns nun wieder der Grenze zu, um Deutschland zu verlassen. Heute haben wir Ravensburg erreicht und in zwei Tagen sind wir am Bodensee. Wie es von dort aus weiter geht wissen wir noch nicht genau, aber sicher ist, dass wir unserem Heimatland dann wieder den Rücken zukehren und uns der Schweiz zuwenden. Grund genug, noch einmal ein wenig über unsere Zeit hier zu resümieren. Als allererstes fällt dabei auf, dass wir uns wirklich noch einmal bei vielen Kulturen, die wir in den letzten drei Jahren besucht haben, für unsere Fehleinschätzung entschuldigen müssen. Es gab so viel, von dem wir geglaubt haben, dass es in Deutschland besser funktioniert, sinnvoller oder schöner ist als in anderen Ländern, doch nun wissen wir, dass dies einfach nicht stimmt. Es gibt überall Dinge die funktionieren und Dinge die vollkommen unfunktional sind und da ist Deutschland kein bisschen besser als alle anderen Länder auch. Es stimmt nicht, dass wir mehr auf unsere Lebensqualität achten, als zum Beispiel die Italiener.

Wir sind auch nicht leiser als die Spanier oder genauer als die Serben. Wir bauen unsere Hauptstraßen genauso überall hin, wie jeder andere auch, wir nutzen Maschinen und Geräte, die so laut sind, dass wir uns selbst bei der Arbeit damit schaden, verbauen noch immer Fenster und Türen ohne Isolierung und Dichtungen, wenn uns danach ist und haben die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft ebenfalls nicht mit Löffeln gefressen. Vieles, von dem wir dachten, es sei typisch für eine Kultur, ist in Wirklichkeit viel mehr typisch für unsere Zeit. Wir leben insgesamt mit sehr viel Angst und Misstrauen.

Das hat nichts damit zu tun, dass man in Griechenland vor einer wirtschaftlichen Katastrophe steht, es ist einfach überall so, weil diese Angst überall geschürt wird und wir sie als unsere eigene Annehmen. Und hier wie überall sonst gibt es Menschen, die sich das Leben und die Freude davon nicht verderben lassen, die sich ihr Vertrauen und ihre innere Sicherheit erhalten. In Italien haben wir uns oft darüber geärgert, dass die Menschen sogar die Verantwortung für ihre Zentralheizung abgeben und sich von einer automatischen Zeitschaltuhr vorschreiben lassen, wann sie frieren müssen und wann nicht. Gestern wie auch an einigen Tagen zuvor mussten wir feststellen, dass wir es hier inzwischen ganz genauso machen. Es ist kein kulturelles Getue, sondern eine technische Neuerung, die wir in ganz Europa eingeführt haben. Wieso man auf die Idee kommt, gerade Nachts die Heizungen komplett auszuschalten, war uns hier sogar noch mehr ein Rätsel, als im Süden, wo es zumindest einigermaßen warm war.

Auch dass wir in Deutschland teilweise härtere Streckenverläufe erleben würden, als in Moldawien und der Ukraine. Und das sogar in beide Richtungen. Teilweise kam man nicht umhin, an Hauptstraßen entlang zu wandern, die bedeutend unangenehmer sind, als die in den ukrainischen Karpaten und teilweise mussten wir Schlammwege bewältigen, gegen die die moldawischen Dirt-Roads wie ein roter Teppich wirkten. Vor allem hier im Südschwäbischen Raum muss man leider sagen, dass der Jakobsweg was seine Streckenführung anbelangt deutlich nachgelassen hat. Er führte noch immer durch wunderschöne Gebiete, daran bestand kein Zweifel, aber er schickte einen oft über die unmöglichsten Routen hindurch. Hin und wieder ist es ja ganz schön, wenn es etwas abenteuerlicher ist und ich bin der letzte, der etwas dagegen hat. Aber wenn man pro Tag zum Teil zwei oder drei Stunden durch kalten, glitschigen Schlamm stapft, denkt man sich hin und wieder schon, dass ein JakobsWEG auch mal ganz nett wäre.

Spannend ist zudem, dass es auch vom Essen her in Deutschland bei weitem nicht so unkomplex ist, wie wir zunächst dachten. Man bekommt hier immer und überall etwas, keine Frage und man kann in diesem Land definitiv nicht verhungern. Aber einen Ernährungsplan einzuhalten ist hier genauso schwer wie im Balkan oder in Rumänien. Obst und Gemüse bekommt man fast nur in Supermärkten und das einzige, was es auf dem Land an Einkaufsmöglichkeiten zum Befragen überhaupt noch gibt, sind Bäcker und Schlachter.

Man bekommt also Brot und Schweinefleisch, alles andere wird schwierig. Und selbst diese werden immer weniger, weil alles zentralisiert wird. Als wir vor drei Jahren aufgebrochen sind gab es noch fast in jedem kleinen Ort einen Bäcker oder einen Schlachter, oft sogar beides. Doch bereits damals haben wir im Gespräch mit vielen Besitzern erfahren, dass sie kurz davon waren, ihre Geschäfte zu schließen. Viele waren Familienbetriebe über mehrere Generationen hinweg, die sich nun jedoch immer weniger lohnten. Die Alten ließen das Geschäft am Leben, doch wenn sie in Rente gingen, kamen keine Jungen mehr nach. Und dies wiederum führt natürlich auch wieder dazu, dass der Verkehr selbst in den kleinen Ortschaften immer mehr zunimmt. Früher konnte man fast alles zu Fuß erreichen, heute braucht man für alles ein Auto, und wenn man sich nur eine Leberkässemmel besorgen will.

Auf der anderen Seite war Deutschland aber auch eines der Länder mit den schönsten Wäldern und Wegesystemen. Auch unsere Tierwelt ist noch weitaus reichhaltiger als wir e selbst glauben. Heute zum Beispiel durften wir drei Rotmilanen bei ihrem majestätischen Spiel mit dem Wind zusehen. Sie sind wahre Flugkünstler und haben ein unglaubliches Talent dafür, sich mit einer anmutigen Leichtigkeit auf die Luftströmungen zu legen, so dass sie mühelos durch den Himmel gleiten. Später wurden wir dann von kleinen Katzenbabys verfolgt, die am liebsten gleich mit uns mit gewandert wären, einfach nur um zu sehen, was diese Welt sonst noch so zu bieten hat.

Auch heute blieb der Jakobsweg seiner Linie treu und führte uns wieder zu einer der beeindruckendsten Sehenswürdigkeiten der Region. Kurz vor der Ravensburger Innenstadt erreichten wir Weingarten, eine Kleinstadt, die direkt an Ravensburg angegliedert ist. Der Ort selbst wird von einem monumentalen Kloster beherrscht, in dem heute eine kirchliche Akademie und eine Fakultät für Pädagogik untergebracht ist. Hier einen Schlafplatz zu finden war wieder einmal fast unmöglich und so beschlossen wir, wieder das Konzept von Ulm anzuwenden und uns vom Platz finden zu lassen. Es dauerte nur wenige Minuten, da kam eine junge Mutter auf uns zu und bot uns an, in der leerstehenden Wohnung über ihrer eigenen zu übernachten.

Spruch des Tages: Verhalten, wenn es schneit: 2 % bauen einen Schneemann, 3 % machen eine Schneeballschlacht, 95 % posten "Schnee!" auf Facebook.

Höhenmeter: 40 m Tagesetappe: 18 km Gesamtstrecke: 19.253,27 km Wetter: Bewölkt, 6-8°C, teilweise Regen, teilweise Sonne Etappenziel: Italienische Pfarrgemeinde, Schaan, Liechtenstein

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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