Tag 1054: Der Taschendieb

von Heiko Gärtner
21.11.2016 19:06 Uhr

13.11.2016

Im Moment fühlt sich unsere Reise immer wieder fast wie ein Pauschalurlaub an. „14 Tage Rundreise zu den Sehenswürdigkeiten in Deutschlands Süden“ könnte man es nennen und man müsste an der Reiseroute nichts verändern. Klar ist es touristisch und daher oft auch ein bisschen nervig oder anstrengend, dafür ist es aber auch absolut sehenswert und man kann sehr gut nachvollziehen, warum dieser Jakobsweg ausgerechnet hier entlang gelegt wurde. Heute hatten wir dabei eine der wahrscheinlich schönsten Streckenabschnitte. Der Weg von Friedrichshafen nach Lindau führte immer mehr oder minder direkt am Ufer des Bodensees entlang. Der Nebel, der gestern das ganz Tal verschleiert hatte, so dass man den Eindruck bekam, der See sei ein Meer, dessen anderes Ufer weit hinter dem Horizont verborgen lag, hatte sich heute verzogen.

Dadurch wurde der Blick auf die Alpen frei, die bis weit ins Tal hinunter von einer dicken Schneeschicht überzogen waren. Der Anblick weckte gemischte Gefühle in uns. Auf der einen Seite sah es wunderschön und malerisch aus und es weckte eine tiefe Lust in mir, im Schnee zu spielen und mit den Füßen durch die weiße Wunderwelt zu stapfen. Auf der anderen Seite machte der Gedanke, dass wir eine Alpenüberquerung vor uns hatten aber auch reichlich Pippi in den Augen. Das was wir sahen waren gerade einmal die letzten Ausläufer der Alpen, die niedrigsten Berge also, die das Gebirge zu bieten hatte und von hier aus blickten wir auch noch auf Hänge, die einen Großteil des Tages Sonne abbekamen. Wenn diese schon so sehr mit Schnee bedeckt waren, was würde uns dann erst im Zentralmassiv erwarten? War es überhaupt möglich, die Alpen um diese Jahreszeit zu Fuß und mit Pilgerwagen zu durchqueren? Es war sicher nicht die schlauste Idee, die wir je hatten, aber gerade deshalb war es auch so reizvoll. Die Berge flößten uns einen mächtigen Respekt ein, aber sie hatten auch eine immense Anziehungskraft, die uns wie magisch in ihren Bann zog.

Lindau selbst war nett, aber nicht so überragend und spektakulär, wie wir es in Erinnerung hatten. Das besondere an der kleinen Stadt war vor allem ihre Lage. Wäre die Stadt irgendwo anders auf dem Festland gelegen, würde sie kein Mensch auch nur mit dem Hintern anschauen. Aber als Inselstadt hatte sie natürlich ihren Reiz. Etwas bestürzt mussten wir jedoch feststellen, dass auch hier die Altstadt über eine stark befahrene Hauptstraße mit dem Festland verbunden war. Genau so, wie es in Süditalien der Fall gewesen war. Damals waren wir schockiert darüber, dass die Italiener so wenig Respekt vor ihren eigenen Kulturgütern hatten, dass sie eine so schöne Stadt mit so viel hässlichem und lautem Verkehr verschandelten. Wie um alles in der Welt konnten sie das nur tun? Jetzt wurde uns klar, dass wir in dieser Beziehung keinen Deut besser waren. Wir Menschen mögen einfach keine ruhigen, schönen Orte. Darin unterscheiden wir uns alle nicht.

Als wir uns Deutschland zum Überwintern ausgewählt hatten, war eine unserer Hauptmotivationen das sichere System mit den Unterkünften bei der Kirche. Wir waren uns einfach sicher, dass in Deutschland jeder oder zumindest fast jeder Pfarrer einen Pilger für eine Nacht aufnehmen würde. Wenn wir nun noch einmal zurück blickten, mussten wir jedoch feststellen, dass die Quote dieses mal relativ erbärmlich war. In den letzten zwei Wochen hatten wir nur ein wenige Male bei der Kirche übernachtet. In den meisten Fällen war ein Pfarrer nicht einmal auffindbar gewesen und in vielen anderen hatte er uns abgewiesen. So erging es uns auch heute und wieder war die Begründung, dass der Aufwand zu hoch, die Räume dafür ungeeignet und die Unsicherheit, dass wir versteckte Schwerverbrecher sein könnten, zu groß war. Das dicht gestrickte, soziale und humanitäre Netzwerk, auf das wir so stolz waren, ließ also doch eher zu wünschen übrig. Auch unsere Pfarrer waren durchaus bereit, einen Wanderer, der sich auf einer Glaubensreise befand, in der Kälte und im Regen stehen zu lassen. In Italien hatten wir dies oftmals unfassbar gefunden und dabei muss man sagen, dass es dort wenigstens noch warm genug war, um notfalls zelten zu können. Hier fielen die Temperaturen nachts teilweise bereits deutlich unter den Gefrierpunkt und doch schickten uns die Pfarrer vollkommen ungerührt fort. Das einzige Kommentar heute lautete: „Ihr werdet schon irgendwas finden!“ Damit schloss er die Tür, auf der ein großes Plakat mit der Aufschrift: „Unsere Identität: Barmherzigkeit!“ klebte. Das nenne ich mal Ironie!

Natürlich hatte der Pfarrer Recht und es dauerte keine 20 Minuten, bis wir einen warmen Platz fanden, doch davon konnte er ja eigentlich nicht ausgehen. In diesem Fall war es ein russisches Pärchen, das der Gemeinde der Adventskirche angehörte. Diese hatte ihr Gemeindehaus nur wenige Meter von der evangelischen Kirche entfernt, was uns direkt zum Klingeln einlud. Anders als der Pfarrer zuvor war der Mann, der uns hier öffnete ein offener und herzlicher Zeitgenosse. Beide Männer hatten eines gemeinsam: Es wäre vollkommen egal gewesen, wer an ihrer Tür klingelte, sie hätten immer genau gleich reagiert. Der Pfarrer hätte jeden abgewiesen und dieser Mann hätte jedem geholfen. Der erste Impuls war es, uns in den Räumen der Kirchengemeinde unterzubringen, doch die hatte man einige Jahre zuvor abgerissen. Es gab nur noch einen Gebetsraum im Erdgeschoss, der sich als Schlafraum anbot. Dafür aber brauchten wir die Einverständniserklärung des Gemeindevorstandes. „Wie immer!“ kommentierte der Mann trocken, nachdem er versucht hatte, die Verantwortlichen telefonisch zu erreichen, „Wenn man einen Chef anrufen will, ist er nie erreichbar, das ist wohl überall auf der Welt und bei jedem Chef das gleiche!“

Er hatte jedoch sofort eine Alternativlösung parat und lud uns zu sich in die Wohnung in ein Gästezimmer ein. Seine Frau war sogar schon dabei, es vorzubereiten. Wieder einmal waren wir fasziniert davon, wie unterschiedlich wir Menschen waren. Für den einen war es zu viel, einen leeren Jugendgemeinderaum bereit zu stellen, weil wir ja etwas kaputt machen könnten, die anderen luden uns in ihre Wohnung ein, ohne uns zuvor auch nur gesehen zu haben und ohne irgendetwas über uns zu wissen. „Es ist doch schade, wie viel man sich selbst kaputt macht, wenn man nicht offen ist!“ meinte unsere Gastgeberin später beim Essen. Sie erzählten uns dabei von einer Geschichte, die sie vor vielen Jahren in Russland erlebt hatten. Damals hatten sie in einem kleinen Dorf im heutigen Usbekistan gelebt. Eines Tages war eine der Nonnen in die Gemeinde gekommen und hatte einen vollkommen verwahrlosten Mann mitgebracht.

Er hatte einen verkrüppelten Arm, trug zerrissene Kleider, war halb verhungert und stank erbärmlich. Die Nonne erklärte, dass sie diesen Mann auf der Straße gefunden habe, er sei Obdachlos und würde den Winter ohne Hilfe sicher nicht überleben, weshalb sie fragte, ob irgendjemand bereit war, dem Mann für eine Weile Unterschlupf zu gewähren. Eduard und Frida, so hießen unsere Gastgeber, waren die Einzigen, die ja sagten und so zog der Mann für einen guten Monat zu ihnen. Sie päppelten ihn wieder auf, besorgten ihm neue Kleider, aßen gemeinsam und führten viele interessante Gespräche mit ihm. Eines Tages jedoch wühlte einer der Nachbarn, dem der Fremde nicht geheuer war, in dessen Vergangenheit herum, und fand heraus, dass er ein professioneller Taschendieb war. So jemand durfte sich hier im Ort natürlich nicht aufhalten! Eduard hingegen nahm die Information auf, ohne darüber zu urteilen und sprach den Gast auf das Thema an. Dieser erzählte offen und ehrlich von seiner Vergangenheit und seiner diebischen Karriere. Gerade der verkrüppelte Arm war dabei stets sein bestes Werkzeug gewesen, denn niemand vermutete, dass er damit in der Lage war, heimlich in eine Tasche zu greifen. Am Ende waren es zwei Punkte, die Eduard ihm klar und deutlich mitteilte: „Solange du in unserem Haus wohnst, bist du ein Teil unserer Familie und wir werden nicht zulassen, dass dich jemand aufgrund deiner Vergangenheit angreift oder dir Schwierigkeiten bereitet. Solltest du aber je auf die Idee kommen, irgendetwas von uns zu stehlen, werde ich dich höchst persönlich vom Hof jagen und glaub mir, dass wird kein Vergnügen!“

Der Mann entgegnete beruhigend: „Da brauchst du dir keine Sorgen machen! Unter uns Taschendieben gibt es einen Ehrenkodex, gegen den wir nicht verstoßen. Dazu gehört auch, dass wir niemals die Menschen beklauen, bei denen wir leben oder die uns auf irgendeine Weise etwas gutes tun. Wenn ein Dieb dagegen verstößt und die anderen bekommen das mit, dann wird er von ihnen dafür bestraft und das bedeutet in der Regel, dass man sein Leben verliert. Glaub mir, mein Leben ist zwar beschissen, aber es ist mir trotzdem lieb genug, dass ich keine Lust habe, mich umbringen zu lassen. Selbst wenn ich es wollte, was ich definitiv nicht will, würde ich allein deswegen niemals etwas von dir stehlen.“ Der Mann wohnte noch mehrere Tage bei Eduard und seiner Frau, bis der Bürgermeister kam und ihm drohte, die Polizei zu rufen, wenn der er den Dieb nicht verjagen würde. Eduard stand weiter für den Gast ein, berichtete ihm aber von der drohenden Gefahr einer Verhaftung. Dennoch entschied er sich dafür zu bleiben, was letztlich keine besonders gute Idee war. Wenige Tage später kam die Polizei wirklich und holte den Mann ab. Die Beamten zeigten Eduard eine lange Liste mit verschiedensten Verbrechen, die dem Gast vorgeworfen wurden. Ob er diese wirklich begangen hatte oder nicht, konnte er nicht sagen, doch letztlich musste er sich der Staatsgewalt beugen. Was später aus dem Mann wurde, erfuhr er leider nie.

Eduard selbst hatte seit drei Jahren starke Probleme mit seinen Muskeln, die ihm fast am ganzen Körper so stark schmerzten, dass er teilweise weder stehen, noch liegen, noch sitzen konnte. Es war inzwischen wieder deutlich besser geworden, unter anderem dank der intensiven Massagearbeit seiner Frau. Dennoch hatte er noch immer keine Ahnung, woher diese Schmerzen kamen, denn die Ärzte konnten ihm hierüber keine Auskunft geben. Grund genug also, um ein längeres Anamnese-Gespräch zu führen und am Ende konnten wir tatsächlich eine längere Liste mit Therapieformen und Heilungsansätzen zusammenstellen. Seine Frau hatte also Recht gehabt. Man weiß nie, was man sich selbst wegnimmt, wenn man sich verschließt.

Spruch des Tages: Jeder, der vor deiner Tür steht, könnte ein Geschenk des Himmels sein

Höhenmeter: 45 m Tagesetappe: 19 km Gesamtstrecke: 19.225,27 km Wetter: Dauerregen von morgens bis Abends Etappenziel: Praxisraum im evangelischen Pfarrhaus, Walenstadt, Schweiz

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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