Tag 1059: Die Gräfin von Liechtenstein

von Heiko Gärtner
28.11.2016 17:40 Uhr

18.11.2016

Anders als ich es vermutet hätte heißt die Hauptstadt von Liechtenstein nicht etwa Liechtenstein-Stadt, sondern „Vaduz“. Genaugenommen ist Vaduz auch nicht wirklich eine Hauptstadt, sondern eher ein Ortsteil mit Regierungsgebäuden. Zu unserer großen Überraschung war Vaduz jedoch vollkommen unspektakulär. Wären wir nicht in Liechtenstein sondern in irgendeinem anderne Land gewesen, hätten wir nicht einmal ein Foto gemacht. Wir hatten irgendeine Besonderheit erwartet, ein imposantes Schloss, eine beeindruckende Kirche, eine historische Altstadt, alte Burgmauern oder wenigstens ein hübsches Rathaus. Oder zumindest pompöse Banken und Einkaufszentren, die darauf hindeuten, dass man sich hier in einem Steuer- und Finanzparadies befindet. Doch es gab nichts.

Vaduz bestand aus einer kleinen Einkaufszeile die nicht ganz so umfangreich und sehenswert war, wie die von Postbauer-Heng. Alle Häuser waren moderne oder halbmoderne Betonbauten, so wie man sie überall dort findet, wo es eigentlich nichts zu sehen gibt. An ihrem Ende stand ein einziges historisches Gebäude. Auch dieses war schlicht und hätten nicht gerade in dem Moment als wir ankamen zwei tiefschwarze Regierungsfahrzeuge davor geparkt, wäre es uns nicht einmal aufgefallen. Neben diesem Gebäude befand sich ein seltsamer, pyramidenartiger Bau, in dem es fast keine Fenster gab. Am ehesten hätte man es für ein Theater halten können, denn die werden ja gerne auf so abstrakte Weise gebaut. Genaugenommen war es von einem Theater auch nicht weit entfernt, denn es war der Liechtensteiner Regierungssitz.

Auf der anderen Seite der Straße befand sich die Kathedrale. Das sie Kathedrale hieß lag vermutlich daran, dass es in Liechtenstein insgesamt keine großen Kirchen gab, so dass man die größte einfach hatte Kathedrale nennen können, auch wenn sie eher wie eine Kapelle wirkte. Auch die von Monaco war damals nicht die beeindruckendste gewesen, die wir je gesehen hatten, doch sie hatte einen ganz eigenen Charme und Stil, so dass man sofort erkannte, dass sie etwas besonderes war. In gewisser Weise passte auch die Vaduzer Kathedrale genau ins Bild, denn wie der Rest der Stadt hatte sie das gewisse nicht.

Als wir die Kirche wieder verließen, wurde unsere Aufmerksamkeit erneut auf das Haus mit den beiden schwarzen Edelkarren gelenkt. Denn nun hatten sich einige Menschen auf den Hof begeben, die von einem Kamerateam und einigen Polizisten begleitet wurden. Darunter befand sich auch die Fürstin von Liechtenstein. Sie sagte ein paar Worte und stieg dann ins Auto ein. Kurz darauf setzte sich die Kolonne in Bewegung. Die Vorhut machten zwei Polizisten auf Motorrädern, die versuchten, den gewöhnlichen Straßenverkehr des gemeinen Fußvolkes aufzuhalten, so dass die Fürstin ohne zu warten aus der Hocheinfahrt hinaus auf die Straße fahren konnte. Doch den Autofahrern war es relativ egal, wer da ihre Fahrbahn kreuzen wollte. Sie nahmen die Polizisten entweder nicht wahr oder nicht ernst und fuhren einfach weiter wie immer.

Wir selbst machten uns nach diesem Aufmarsch der fürstlichen Elite auf zum Vaduzer Medienhaus, wo wir der Liechtensteiner Presse einen Besuch abstatten wollten. Die Zeitung hier trug den Namen „Liechtensteiner Vaterland“ was sich au Deutscher Sicht recht befremdlich anhörte. Gäbe es bei uns eine Tageszeitung mit dem Namen „Deutsches Vaterland“, wäre man sich zu 100% sicher, dass es sich dabei um ein rechtspopulistisches Blatt handelt. Hier war es die ganz normale Tageszeitung.

Nach einem kurzen Gespräch am Empfang trafen wir uns mit dem Redaktionsleiter und einer Fotografin. Dabei erfuhren wir noch ein spannendes Detail über Liechtenstein. Das Land hat insgesamt 35.000 Einwohner, also gerade einmal so viel wie Neumark. Dies ist auch relativ genau die Zahl der Arbeitsplätze die es hier gibt. Rein theoretisch gibt es also eine Vollbeschäftigung. Praktisch gibt es aber natürlich auch Rentner und Kinder, die gar nicht arbeiten, was bedeutet, dass es sogar deutlich mehr Arbeitsplätze gibt, als hier benötigt werden. Es ist also noch genug für die angrenzenden Österreicher und Schweizer da.

Auf dem Weg aus Vaduz heraus kamen wir durch eine Gegend mit lauter großen Beton-Wohnblöcken, die im traditionellen Ost-Block-Stil gehalten waren. Der Anblick irritierte uns, denn eigentlich waren wir davon ausgegangen, dass Liechtenstein eher eine noble, reiche Gegend ist und daher nicht aussehen sollte wie die Städte in Bosnien. Zunächst vermuteten wir, dass die Häuser vielleicht gar nicht bewohnt sind, sondern nur Platzhalter für die Briefkastenfirmen darstellen, die hier offenbar so verbreitet sind. Doch an den Schildern standen ganz gewöhnliche Namen und aus den Häusern kamen Menschen mit genau den fleckigen und zerschlissenen Jogginganzügen, Bierbäuchen und Gesichtsausdrücken, wie man sie klischeehaft an einem solchen Platz erwarten würde. Entweder, die Tarnfassade was so gut, dass man sie nicht durchblicken konnte, oder es sind einfach ganz normale, langweilige, heruntergekommene Wohnblocks, wie man sie überall findet. Etwas wahrscheinlicher ist wohl zweiteres. Eines muss man den Liechtensteinern aber trotzdem lassen. Sie wussten, wie man sich unauffällig gibt. Dass das Fürstentum Einfluss und Macht hat und dass es eine wichtige Rolle in unserem Finanzsystem spielt, steht außer Frage. Und doch merkt man nichts davon. Es ist eine kleine Bergregion, mit einigen kleinen Orten, ohne größere Besonderheiten.

Je weiter es in Richtung Mittag ging, desto heftiger wurde der Sturm. Schon am Morgen war es windig gewesen, aber nun wurde der Wind immer stärker und stärker. Bald schon hatte es unsere heftigsten Tage in Italien übertroffen. Das fiese dabei war, dass es kein gleichmäßiger, sondern ein böiger Sturm war. Für einen kurzen Moment war alles still und dann fegte es einen förmlich von der Straße. Es dauerte nicht lange und die ersten Äste kamen uns entgegen. Es war nun so laut, dass wir uns nur noch schreiend verständigen konnten. Von Gemütlichkeit hatte das nichts mehr. Wir beschlossen daher, unsere Wanderung etwas abzukürzen und noch einen weiteren Tag in Liechtenstein zu bleiben. Im letzten Ort vor der Grenze suchten wir die Kirche auf. Gleich auf dem Weg dorthin trafen wir einen Pfarrer. Er selbst war zwar nicht für den Ort verantwortlich sondern leitete nur den Religionsunterricht in der Schule, aber er konnte uns immerhin an einen Kollegen verweisen. Wenig später stand ich bei diesem vor der Tür und klingelte. Zunächst passierte nichts. Ich klingelte noch einmal und nun öffnete sich die Tür.

„Ist es ein Notfall oder warum stören Sie mich in der Mittagszeit?“ fuhr mich der Mann an, der dahinter zum Vorschein kam. „Naja,“ sagte ich etwas überrascht und zögerlich, „nicht so direkt aber in gewisser Weise schon.“

Jetzt war es gut, dass wir zuvor den Kollegen getroffen hatten, denn dadurch konnte ich nun auf ihn verweisen, was den Mann ein wenig beruhigte. Als ich ihm von unserem Anliegen erzählt hatte, verschwand der Ärger zunehmend aus seinem Gesicht. Wenn ich mir vorstellte, dass ich hier Pfarrer war und jeden Tag irgendjemand angekleckert kam, wenn ich gerade in Ruhe Mittagessen wollte, dann konnte ich den Ärger auch sehr gut nachvollziehen. Einen Platz im Pfarrhaus oder im Gemeindezentrum hatte er allerdings trotzdem nicht für uns. Stattdessen verwies er mich an das Gutenberghaus, das sich nahe der Kirche auf einem Berg befand. Falls es nicht klappen sollte, könnten wir notfalls in der Taufkapelle schlafen aber das kirchliche Seminarhaus war sicher die bessere Adresse.

Wenig später sprach ich mit einer jungen Frau aus dem Seminarbetrieb, die mich an einen älteren Pfarrer weiterleitete. Diesen Mann hatte ich zwar nicht beim Mittagessen gestört, doch seine Stimmung war trotzdem noch um einiges schlechter, als die des Ortspfarrers. Jedenfalls war dies mein erster Eindruck. Er bat mich in ein kleines Besprechungszimmer und analysierte für die nächsten 10 Minuten jede Einzelheit unserer Reise und ihrer Hintergründe. Ich fühlte mich ein wenig wie bei einem Referat in der Schule, bei dem ich eine Hausarbeit geschrieben hatte, die ich nun gegenüber den bissigen Hinterfragungen des Lehrers verteidigen musste. Doch wie es aussah machte ich meinen Job ganz gut, denn am Ende bekam ich ein „Bestanden!“, oder in diesem Fall ein „Ihr dürft bleiben!“

Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass der Mann, bei dem es sich um den Ordensleiter einer Priestergemeinde handelte, tatsächlich der freundlichste und offenherzigste seiner Gemeinschaft war. Als er uns wenig später einem Zimmernachbarn vorstellte, kommtentierte dieser unsere Anwesenheit mit einem abschätzigen: „Du musst wissen ob wir hier eine Pilgerherberge sind oder nicht!“ und verschwand wieder in seinem Zimmer.

Tatsächlich empfanden wir die kühle Distanz unserer Gastgeber jedoch als sehr angenehm, denn so hatten wir seit langem mal wieder einen Tag nur für uns. Draußen tobte der Sturm als wolle er die Welt auseinander reißen und wir hatten ein warmes, ruhiges Plätzchen, noch dazu mit einer unvergesslichen Aussicht über die Berge. Anders als Vaduz war dieser kleine Ort tatsächlich sehenswert. Er befand sich am Fuße eines spitzen, felsigen Berges, auf dessen Gipfel eine alte Festung stand. Darunter befand sich das Gutenberghaus und noch etwas weiter darunter stand die alte, natursteinerne Kirche. Alles war umgeben von den hohen Bergen, dessen Gipfel noch immer verschneit waren. So in etwa hatten wir uns die Schönheit von Liechtenstein vorgestellt.

Spruch des Tages: Verdammt, nicht einmal die Staatspolizei wird hier richtig ernst genommen!

Höhenmeter: 590 m Tagesetappe: 26 km Gesamtstrecke: 19.314,27 km Wetter: heiter bis wolkig und windstill, Temperaturen um die 15°C, im Tal eisige Kälte Etappenziel: Pilgerhaus des Klosters Ingebohl, 6440 Brunnen, Schweiz

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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