Tag 1062: Ordentlich geföhnt

von Heiko Gärtner
02.12.2016 22:35 Uhr

21.11.2016

Als wir die Gardinen zurückzogen strahlte uns auch heute gleich wieder die Sonne entgegen. Gleichzeitig konnte man aber auch gut erkennen, dass sich sämtliche Bäume und Büsche bereits wieder in alle Richtungen verbogen. Es war auch heute wieder mindestens genauso stürmisch wie vor drei Tagen. Mit Verlassen der Kirche stellten wir jedoch fest, dass dieser Wind unerwartet warm war. Er fühlte sich nicht wie ein Unwettersturm sondern tatsächlich wie ein Föhn an, also so wie man es aus dem Badezimmer kennt. Erst jetzt verstand ich auch, warum man diesen Wind „Föhn“ nannte, oder besser gesagt, warum man unsere Haartrocknungsgeräte nach ihm benannt hatte. Es erinnerte fast ein bisschen an die Sauna-Aufgüsse, die wir in Ungarn mitgemacht hatten und bei denen die heiße Luft mit großen Fahnen verwirbelt worden war.

Der zweite Vorteil den dieser Sturm gegenüber dem letzten und gegenüber fast allen Stürmen hatte, die wir miterlebt hatten war, dass er uns heute von hinten anschob. Und das tat er wirklich. Teilweise war er so kräftig, dass wir die Bremsen von unseren Wagen anziehen mussten, um nicht zu schnell zu werden. Wie wir von unserem Pfarrer erfuhren kamen diese Föhnwinde hier sehr häufig vor. Sie waren dafür verantwortlich, dass das Mikroklima in dieser Gegend innerhalb von Sekunden und im Abstand von wenigen Metern schlagartig ändern konnte. Nur einige Kilometer weiter, in einer hinteren Talecke, die vom Föhn abgeschnitten war, sammelte sich häufig der Nebel und in der Regel war es dort bedeutend kälter als hier im Haupttal. Deswegen konnte man hier auch Feigen und Kiwis anbauen und gleich nebenan skifahren. Auch heute waren Autobahnen, Zugstrecken und Schnellstraßen unsere ständigen Begleiter. Für uns selbst machte es dieses Mal jedoch nicht ganz so viel aus, zum einen, weil wir uns recht gute Schleichwege suchen konnten, die möglichst weit von allem entfernt durch die Felder und Dörfer führten, zum anderen, weil der Föhn ohnehin so laut war, dass er alles andere übertönte.Trotzdem tat uns der Anblick in der Seele weh. Wie überwältigt mussten einst die ersten Wanderer gewesen sein, die in dieses Tal kamen, als es noch vollkommen Menschenleer war? Es gab sicher nur wenige Gegenden auf der Erde, die so schön waren. Nun musste man sich die Ohren zuhalten und zwischen den Strommasten hindurchblicken, um die Schönheit noch wahrnehmen zu können.

Seit wir die Schweiz erreicht hatten, fiel uns immer wieder die starke Militärpräsenz auf, die uns hier begegnete. Gleich an der Grenze waren wir von alten Bunkeranlagen begrüßt worden, in Walenstadt hatte es eine große Militärbasis gegeben und nun fuhren auf den Autobahnen immer wieder Militärkonvois an uns vorbei. Sogar ein Panzer rollte an uns vorüber. Er rollte allerdings nicht selbst, sondern als Ladung auf einem LKW. Trotzdem war es auffällig, dass wir hier nun in drei Tagen mehr Militärpräsenz wahrgenommen hatten, als zuvor in drei Jahren. Zum Übernachten bekamen wir heute wieder ein Zimmer im Pfarrhaus. Da der Pfarrer aber erst ab 20:00 Uhr zuhause war verbrachten wir den Nachmittag im Altenheim. Dies hatte gewisse Vorteile. Einer war, dass wir hier mit einem Mittagessen versorgt wurden. Der zweite bestand darin, dass Altenheime immer sehr gut geheizt sind und wir es somit mollig warm hatten, während der Föhn, der draußen wütete stetig kälter wurde.

Beim Abendessen sprachen wir mit dem Pfarrer über Glauben im Allgemeinen und über die Art, wie wir heute in der Regel damit umgehen. Unter anderem kamen wir dabei auf die folgenden beiden Geschichten, die ich gerne mit euch teilen möchte:

Der Mann und die Hilfe Gottes Ein Hochwasser überflutete eine kleine Stadt und viele Menschen verloren ihr Hab und Gut, einige sogar ihr Leben. Ein alter Mann, für den der Weg auf eine rettende Anhöhe zu weit gewesen wäre, schaffte es gerade noch, sich auf das Dach seines Hauses zu retten. Doch das Wasser stieg weiter und weiter und bald schon erreichte es die untersten Dachziegel. Da kam ein Nachbar mit einem Boot vorbei uns rief: „Komm her, du kannst mit uns mitfahren, wir bringen dich aufs Trockene!“ Doch der Mann erwiderte nur: „Vielen Dank, aber ich brauche eure Hilfe nicht! Gott wird mich erretten! Fahrt ihr nur ruhig ohne mich weiter!“ Eine Weile versuchte der Nachbar ihn zu überreden, doch der alte Mann blieb stur und so fuhr er schließlich weiter. In den nächsten Stunden stieg das Wasser weiter an und es hatte bereits die untere Hälfte des Daches verschlungen, als plötzlich ein Rettungsboot auftauchte, das nach Überlebenden suchte. „Keine Sorge!“ rief der Katastrophenhelfer zu dem Mann herüber, „wir sind hier um Sie zu retten!“ Doch auch dieses Mal erwiderte der alte Mann nur wieder gelassen: „Ich habe keine Angst und ich brauche auch keine Rettung! Gott wird nicht zulassen, dass mir etwas passiert! Er wird mich von hier retten! Kümmert ihr euch lieber um die anderen!“ Auch dieses Mal mussten die Bootsführer schließlich aufgeben und den alten Mann auf seinem Dach zurücklassen. Als das Wasser bereits bis zu den Füßen des Mannes reichte, kam ein Helikopter. Man ließ eine Strickleiter herunter und forderte den Mann auf, daran nach oben zu klettern. Doch der Mann winkte ab! „Ich brauche eure Hilfe nicht!“ rief er über den Motorenlärm des Helikopters hinweg. „Gott wird mich retten!“ Als der Helikopter am Horizont verschwunden war, dauerte es nicht mehr lange, bis das Wasser den Dachgiebel überstiegen hatte und der alte Mann ertrank. Völlig entrüstet trat er im Himmel vor Gott und rief: „Gott, wie konntest du zulassen, dass ich in diesen Fluten sterbe? Mein Glaube was unerschütterlich und ich habe felsenfest darauf vertraut, dass du mich rettest. Und doch lässt du mich einfach in den Fluten ertrinken. Daraufhin erwiderte Gott beschwichtigend: „Junge, ich habe dir einen Nachbarn vorbeigeschickt, ein Rettungsboot und dann sogar noch einen Helikopter, alles nur um dich zu retten! Was bitte hätte ich denn noch alles tun sollen?“

Die zweite Geschichte handelte von unserem Hang zu Bewerten:

Gut oder schlecht Es lebte einst ein armer Bauer, der stets gerade so viel hatte, dass es für ihn uns seine Familie reichte. Eines Tages kam ihm ein Wildpferd zugelaufen, das auf seiner Weide blieb. Sofort kam das ganze Dorf zusammen, um das Pferd zu besichtigen und die Menschen riefen: „Bauer, was für ein Glück du hast! Wie selten geschieht es, dass einem so etwas gutes widerfährt!? Du bist wahrlich gesegnet!“ Der Bauer aber erwiderte nur: „Ob es etwas gutes, oder etwas schlechtes ist, das weiß ich nicht! Es ist wie es ist, mehr kann ich nicht sagen.“ In den kommenden Wochen machte sich der Sohn des Mannes daran, das wilde Pferd zuzureiten. Für einen kurzen Moment nur war er dabei unkonzentriert und sofort warf ihn das Pferd zu Boden. Als der Junge nun mit schweren Verletzungen im Bett lag, kam wieder das Dorf zusammen, um nach ihm zu sehen. „Du armer Bauer!“ riefen sie nun, „so ein schreckliches Schicksal, dass da deinem Sohn ereilt ist! Es ist wirklich furchtbar! Vielleicht wäre es besser gewesen, das Pferd wäre dir nie zugelaufen.“ Wieder aber gab der Mann nur zurück: „Ob es etwas gutes, oder etwas schlechtes ist, das weiß ich nicht! Es ist wie es ist, mehr kann ich nicht sagen.“ Wenige Wochen später brach ein Krieg aus und alle jungen Männer wurden eingezogen, um in einer hoffnungslosen Schlacht zu kämpfen. Der Sohn des Bauern jedoch durfte als einziger zuhause bleiben, da er noch nicht fit genug für den Krieg war.

Spruch des Tages: Es gibt viele Wege, um sich zu verlieren, aber nur einen um sich zu finden.

Höhenmeter: 40 m Tagesetappe: 22 km Gesamtstrecke: 19.355,27 km Wetter: bewölkt, kalt und windig mit einigen Sonnenflecken Etappenziel: Privates Gästezimmer, Giswil, Schweiz

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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