Tag 1109: Gegenwind auf allen Ebenen

von Heiko Gärtner
04.02.2017 03:04 Uhr

13.01.2016

Heute zeigte sich der Gegenwind in Sachen Wandlungsritual gleich in der Früh. Und zwar wirklich in Form eines starken Windes, der sogar im inneren des Pfarrhofes schon ordentlich wütete, obwohl dieser eigentlich von allen Seiten geschützt war. Hinzu kam ein leichter Regen bei einem komplett wolkenlosen Himmel. Da wir bis um 11:30 Uhr nichts zu tun hatten, schliefen wir aus. Das heißt Heiko schlief aus. Ich blieb im Bett und wälzte mich, immer wieder versunken in Tagträume und kurze Döse-Phasen. Um 10:15 waren wir mit dem Pfarrer zum Frühstück verabredet. Eine halbe Stunde später brachen wir auf, da der Pfarrer einen Termin hatte und wir nicht länger im Pfarrhof bleiben konnten. Noch immer hatten wir nun eine dreiviertel Stunde, die wir irgendwie herum bringen mussten und so spazierten wir noch einmal durch die Innenstadt und schauten uns hier und dort eine der Kirchen an.

Dann war es kurz vor halb zwölf und damit Zeit um zum Treffpunkt zurückzukehren. Es war bereits alles vorbereitet und nach einer kurzen Wartezeit war es dann wirklich so weit, dass ich meinen Schritt gehen konnte. Alles lief genau wie es laufen sollte und nachdem es vorbei war, war es, als vielen tausend Steine von mir ab. Ich war erleichtert und stolz, wenngleich noch immer eine gewisse Sorge in mir schwebte, ob sich auch weiterhin alles gut entwickeln würde. Der Wind, der sich bereits in der Früh angekündigt hatte, frischte beim Verlassen der Stadt noch einmal auf und auch Béziers selbst zeigte sich zum Abschied noch einmal richtig von seiner Schokoladenseite. Den Weg, den wir vor zwei Jahren in die Stadt genommen hatten, fanden wir dieses Mal nicht. Stattdessen folgten wir einer Hauptstraße hinunter bis zum Canal du Midi, den wir von unserem ersten Besuch in Südfrankreich als eine der schönsten Abschnitte unserer ganzen Reise in Erinnerung hatten. Nun aber präsentierte sich der Kanal im wahrsten Sinne des Wortes als leere Enttäuschung. Die schönen Schleusentreppen, an denen wir beim ersten Mal entlanggewandert sind, wurden gerade umgebaut und der Kanal war vollkommen trocken gelegt. Er war nun nichts anderes, als ein schlammiger, vermüllter und stinkender Graben voller Dreck. So hatten wir uns das nicht vorgestellt.

Zum Glück hielt diese Form der Kanalbewirtung nicht lange an und schon nach einigen Kilometern führte der Canal du Midi wieder wie gewohnt Wasser. Nun tauchten auch die schönen Alleen wieder auf, die zu dieser Jahreszeit natürlich nicht ganz so zauberhaft wirkten, wie im goldenen Herbst. Auch der heftige Sturm, der uns entgegen blies, führte dazu, dass wir das Wandern nicht ganz so genießen konnten, wie wir es gehofft hatten. Obwohl es am Kanal seit vor sich hin ging, war es durch den Wind, als würden wir permanent bergauf laufen. Der Unterschied bestand nur darin, dass ein Berg einem nicht so stark in den Ohren rauscht, als befände man sich die ganze Zeit in einer Disco, in der der DJ aus versehen eine Radiofrequenz eingestellt hatte, auf der sich kein Sender befand.

Nach knapp zehn Kilometern erreichten wir einen Ort namens Colombiers. Hier hatten wir vor zwei Jahren in einem Saal der Kirchengemeinde übernachtet, hatten im Hafen Bisamratten fotografiert und wurden von einem kleinen Café auf ein großartiges Steak mit Pommes eingeladen. Im Rathaus trafen wir nun wieder auf die gleichen Menschen, die wir auch vor zwei Jahren getroffen hatten und sie reagierten auch heute fast genau wie damals. Erst befasste sich eine ältere blonde Dame mit unserem Anliegen, die mich fast in den Wahnsinn trieb, weil sie ums Biegen und Brechen nicht zuhören konnte. Sobald man auch nur ein einziges Wort sagte, beendete sie den Satz für einen und antwortete dann mit Dingen, die nicht das geringste mit dem zu tun hatten, was man eigentlich hatte fragen wollen. Schon nach dem ersten Satz erinnerte ich mich schmerzlich daran, dass ich vor zwei Jahren mit dieser Frau ebenfalls fast verzweifelt wäre. Ich war schon kurz davor, einfach wieder zu gehen, als eine jüngere, dunkelhaarige Frau erschien, die mir ebenfalls vor zwei Jahren zu Hilfe geeilt war. Sie war es damals gewesen, die mir den Pfarrer vermittelt hatte und auch heute probierte sie es mit der gleichen Taktik. Dieses Mal jedoch ohne Erfolg, denn der alte Pfarrer war nun im Ruhestand und der neue hatte beschlossen, niemanden aufzunehmen, ganz gleich, wer es war. Das wir bereits vor zwei Jahren hier waren und dass uns sowohl die Rathausmitarbeiter als auch der Hilfspfarrer als vertrauenswürdige Personen kannten, änderte daran nicht das geringste. Eine Weile probierte die junge Frau noch verschiedene andere Kontakte aus, doch ihre Bemühungen blieben ohne jeden Erfolg. So zogen wir schließlich weiter und kamen eine knappe Stunde später in einen anderen kleinen Ort, den wir bei unserer ersten Wanderung am Kanal ebenfalls bereist hatten. Damals waren wir wirklich gemütlich unterwegs gewesen, denn so wie es aussah, hatten wir fast in jeder Ortschaft übernachtet, die es hier gab. Doch auch hier stellte sich die Sache als weitaus schwieriger heraus, als erwartet. Beim letzten Mal waren wir ins Rathaus gegangen, hatten dort eine Sekretärin nach einem Platz gefragt und nach kurzer Rücksprache mit der Bürgermeisterin einen gut beheizten Raum direkt unter den Verwaltungsäumen bekommen. Heute aber war das Rathaus geschlossen und auch bei der Bürgermeisterin zu hause konnten wir niemanden antreffen. Die Sonne ging nun langsam unter, der Wind blies eisiger als je zuvor und wir hatten keine Idee, was wir nun tun sollten. Die nächste Ortschaft war noch einmal weit größer als diese hier und hatte bereits zuvor am Telefon angekündigt, das sie uns nicht helfen würde. Mir fiel jedoch ein, dass ich vor zwei Jahren bei einer Frau nach Essen gefragt hatte, die gut Spanisch sprach und damals sehr hilfreich war. Ich klingelte erneut bei ihr und sie konnte sich in der Tat noch an uns erinnern. Kurzerhand steckte sie mich in ihr Auto und fuhr mit mir durch den Ort, um jeden abzuklappern, der evtl. eine Idee haben könnte. Die Fahrt endete bei der Schwester der Bürgermeisterin. Hier bekam ich die Telefonnummer der Frau, die das Sagen hatte und für einen Moment sah es aus, als wären wir nun am Ziel. Doch wieder gerieten wir in eine Sackgasse. Heute Abend war Stadtfest im Ort, und der Saal den wir vor zwei Jahren bekommen hatten, war bis spät in die Nacht hinein belegt. Es gab zwar Alternativen, aber ob irgendetwas davon möglich war, könne sie uns erst um 18:00 Uhr sagen, wenn sie zur Vorbereitung der Feier ins Rathaus kam. Das bedeutete, dass wir noch über eine Stunde in der Kälte verbringen mussten um dann eine „Möglicherweise-Option“ zu haben. Ein echtes Angebot war das nicht, aber es war trotzdem die beste Option, die wir hatten. Weiter zu gehen hätte uns kaum etwas gebracht, denn nachts im Dunkeln in einer Stadt zu landen, war bisher immer ein aussichtsloses Unterfangen gewesen. Zumindest, wenn es keinen Pfarrer gab.

Wir beschlossen daher, die Wartezeit in Kauf zu nehmen und sie zu nutzen, um schon mal etwas zum Essen aufzutreiben. Und genau in diesem Moment passierte der Switch. Ich ließ los und versuchte nun nicht mehr krampfhaft einen Schlafplatz zu finden, sondern schlenderte einfach um die Häuser. Gleich das erste Haus, bei dem ich nach einem Abendessen fragte, wurde ein Jackpot. Ein freundlicher, älterer Herr öffnete die Tür und machte sofort den Eindruck, als würde er uns weiterhelfen wollen. Als er dann auch noch erzählte, dass sein Sohn gerade eine Hitch-Hiking-Tour durch Südamerika machte und dass er selbst viele Monate durch Afrika gereist war, war dies bereits fast wie eine Einladung zum bleiben. Ich fragte, ob er vielleicht wüsste, wo wir hier übernachten könnten und nach einer kurzen Rücksprache mit seiner Frau bekamen wir ein kleines Apartment auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Normalerweise lebte hier sein Sohn, doch der war ja gerade auf Reisen. Wir bekamen also die Wohnung mit Küche, Bad und Schlafzimmer und gleich auch noch genügend Zutaten für ein Abendessen dazu. Besser ging es fast nicht. Schade war nur, dass es bereits so spät war, dass wir unser kleines Reich kaum noch genießen konnten. Viel mehr als Essen, Filmschauen und Schlafen war nicht drin. Der Tag war anstrengend genug gewesen. Spannend aber war noch, dass ich auf dem Weg um Heiko und die Wagen zu holen tatsächlich noch einmal auf die Bürgermeisterin traf. Sie begrüßte mich und meinte: „Oh, wenn ihr noch einen Platz sucht, dann könnten wir jetzt einmal schauen, ob wir irgendetwas auftreiben können!“ Sie hatte uns also wirklich eine komplette Stunde warten lassen und in dieser Zeit nicht einmal versucht, etwas zu finden. Jetzt konnte ich jedoch dankend ablehnen. Gerade als wir den letzten Weg des Tages zu unserem Quartier antreten wollten, stellte ich fest, dass meine linke Steckachse fast vollständig aus ihrer Befestigung herausgezogen war. Sie hing nur noch am seidenen Faden und war kurz davor, auf den Boden zu fallen. Die Schraube, mit der sie befestigt war, war fast vollständig herausgedreht. So etwas war uns auf der ganzen Reise noch nicht passiert und das obwohl wir schon viele Strecken hatten, die weitaus holpriger waren als der Weg am Kanal entlang. Seltsam war auch, dass es zuvor keinem von uns beiden aufgefallen war. Entweder jemand hatte die Stange in unserer Abwesenheit herausgezogen, was wir uns aber nicht vorstellen konnten, denn dazu hätte man den Wagen aufstellen, den passenden Schraubenschlüssel besitzen, die Schraube lösen, den Wagen wieder abstellen und die Achse herausziehen müssen. Oder aber sie hatte sich von selbst gelöst und war durch irgendeine Macht so weit nach außen gerutscht. Langsam wurde es wirklich gruselig, was heute alles auf einmal passierte und was sich normalerweise nicht erklären ließ.

Spruch des Tages: Pessimisten fürchten den Wind. Optimisten hoffen dass er sich dreht. Realisten richten ihr Segel danach aus.

Höhenmeter: 210 m Tagesetappe: 16 km Gesamtstrecke: 20.303,27 km Wetter: extremer, kalter Gegenwind Etappenziel: Kleine, private Wohnung, 34310 Poilhes, Frankreich

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.