Tag 1114: Wissenswertes über Venezuela

von Heiko Gärtner
07.02.2017 02:07 Uhr

18.01.2017

Am Abend bekamen wir noch einmal Besuch von unserem Gastgeber, der uns mit frischem Brot versorgte, sich für einen Moment zu uns gesellte und ein wenig von seinen eigenen Reiseerfahrungen erzählte. Seine bevorzugte Reiseregion war Lateinamerika, wenngleich die Erfahrungen, die er hier gemacht hatte, durchaus der gemischt waren. So hatte er unter anderem, einen Abstecher nach Caracas gemacht, der Hauptstadt von Venezuela. Sie gilt bis heute als die gefährlichste Stadt der Welt, außerhalb von akuten Kriegsgebieten. Jedes Jahr werden hier rund 20.000 Menschen ermordet. In den meisten Fällen wird der Mord dabei niemals aufgeklärt. 20.000 Menschen sind eine stolze Summe. Würde das in Neumarkt passieren, wäre die Stadt innerhalb von eineinhalb Jahren vollkommen leer. Für unsere Verhältnisse ist so ein Zustand also absolut unvorstellbar, aber in Venezuela ist es ganz normal. Die Menschen haben sich daran gewöhnt und so ist es auch kein Wunder mehr, dass sich nach offiziellen Schätzungen zwischen 9 und 15 Millionen illegale Waffen im Besitz von Privatpersonen befinden, ohne das sie irgendwo registriert sind. 9 bis 15 Millionen klingt viel, aber es wird gleich noch einmal bedeutend mehr, wenn man weiß, dass in Venezuela gerade einmal 30 Millionen Menschen leben. Rund jeder zweite ist also im Besitz einer illegal beschafften Handfeuerwaffe. Oder besser ausgedrückt: Es gibt 2 bis drei pro Familie!

Unser Gastgeber hatte jedoch das Glück, nur die kleinen Ausläufer dieses immensen Gewaltpotentials mitzubekommen. Er selbst wurde weder in Überfälle noch andere Unannehmlichkeiten verwickelt, die über bloßen Taschendiebstahl hinaus gingen. Er stellte lediglich fest, dass in Caracas nahezu alles geklaut wurde, was nicht niet- und nagelfest war, angefangen beim Mülleimer, bis hin zu den Stromkästen. Um die wohlhabenderen Einwohner zu schützen, gab es an jeder Ecke private Wachpersonen, die mit ihren Pumpguns oder M.P.s vor den Ladeneingängen standen. Irgendwie war es ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Besucher der Stadt sich sicherer fühlen konnten. Aber bei unserem Gastgeber funktionierte es nur sehr bedingt. Irgendwie wollte bei ihm kein Sicherheitsgefühl aufkommen, wenn sogar beim Socken-Stöbern auf dem Grabbeltisch permanent ein emotionsloser Schrank hinter ihm stand, der eine Waffe in der Hand hielt, mit der er ein Loch in der Größe eines Fußballs in seinen Bauch reißen konnte. Er hatte auch keine Ahnung, woran das lag. Weitaus spannender war jedoch, was er uns über die Medien und die Politik des Landes erzählte. Dass es in ganz Lateinamerika keinen einzigen Politiker gibt, der nicht korrupt ist, ist unter den Einheimischen allgemein Konsens. Von einem Mitarbeiter eines Radiosenders hörte er jedoch eine ganz spezielle und eindrückliche Meinung dazu. Ein Politiker sei in seinem Amt schließlich auch eine Art Vermittler, dessen Aufgabe es ist, sich für die Interessen seines Landes, aber auch der darin arbeitenden Unternehmen einzusetzen. Er sei also letztlich derjenige, der dafür sorgt, dass wirtschaftliche Großbauprojekte wie beispielsweise der Bau eines neuen Staudammes, einer Autobahn oder einer Aluminiumfabrik überhaupt zu Stande kamen. War es da nicht nur fair, dass der Politiker auch seinen Anteil von einem solchen Projekt ab bekam? Nichts anderes war es ja auch bei einem Makler. Man dürfe es natürlich nicht übertreiben, so dass es in Gier ausartet. Aber so 10% des Gewinns, den das Projekt am Ende einfährt, seien als Politiker-Mage schon in Ordnung.

Langsam bekamen wir zum ersten Mal ein Gefühl dafür, was „Bestechung“ und „Korruption“ in diesen Ländern überhaupt bedeutet. Es ging hier nicht darum, irgendwo ein bisschen die Hand aufzuhalten oder sich hin und wieder ein paar Scheine zustecken zu lassen. Es ging um Millionen und Milliardenbeträge, die ein einzelner auf einen Schlag dafür bekam, dass er die Rechte und das Leben seiner Bürger mit Füßen trat. Kein Wunder also, dass wir nahezu alles, was unsere Gesellschaft an Sklavenarbeit benötigt, nach Südamerika, Asien oder Afrika auslagern. Nicht, dass unsere Politiker hier besser wären, aber bei uns ist das Gesamtsystem doch noch einmal ein bisschen anders. Und doch gibt es hier wie dort immer wieder Ausnahmen von der Regel. Ein gutes Beispiel dafür ist der venezuelanische Präsident Chavez. Weltweit gilt er als einer der größten und schlimmsten Diktatoren, der seinem Land nichts als Leid und Kummer bereitet. Vor Ort konnte unser Gastgeber jedoch ein vollkommen anderes Bild erkennen. Persönlich lernte er den Präsidenten natürlich nicht kennen und er hatte auch keine Ahnung, was er vielleicht noch alles trieb, von dem er nichts mitbekam. Aber das was er mitbekam, wirkte so gar nicht nach dem Werk eines skrupellosen Menschenfeindes, der nur an seinen eigenen Profit dachte. Zur venezuelanischen Bevölkerung gehören auch einige indigene Kulturen, die es seit der Kolonialisierung durch die Spanier besonders schwer hatten. Zu ihnen zählen die Yanomami-Indianer, die nach jahrzehntelanger Unterdrückung nun unter Chavez zum ersten Mal Rechte zugesprochen bekamen. Sie bekamen weitgehende Autonomie vom Rest des Landes und dürfen nun wieder ihre eigene Sprache sprechen, schreiben und in der Schule lernen. Zuvor war diese Sprache verboten gewesen und die Kinder des Volkes wurden lediglich in Spanisch unterrichtet. Aber auch für die übrige Bevölkerung gibt es durch den angeblichen Diktator einige weltweit einzigartige Vergünstigungen. Seit er und seine Partei vor gut einem Jahrzehnt die Macht erlangten, wurden in allen 24 Bundesstaaten des Landes Krankenhäuser und Universitäten gebaut um eine Grundversorgung mit Medizin und Bildung sicher zu stellen. Studieren, und das ist das wirklich Spannende, kostet in Venezuela lediglich einen symbolischen Beitrag von 20 Cent pro Semester. Wer aus besonders armen Verhältnissen stammte oder besonders begabt war, konnte außerdem eine Stipendium beantragen, das diese Kosten übernahm und einen darüber hinaus bei der finanziellen Bewältigung des Lebensalltags unterstützte. Aber auch die generelle Aufklärung und Informationsversorgung im Land wurde ausgebaut. Selbst in den abgelegensten Regionen können die Einheimischen nun für ein paar Cent Satellitentelefone nutzen, die über den chinesischen Satelliten „Simon Bolivar“ versorgt werden. Außerdem wurden auf dem Land sogenannte Informationszentren errichtet, also eine Art Internetcafés in denen man kostenlos ins Internet gehen kann. Das besondere dabei ist aber, dass der Internetzugang hier nicht gefiltert oder zensiert wird, wie es sonst in Diktaturen üblich ist. Die Bürger haben also den vollen Zugang auf alle weltweiten Inhalte. Die bemerkenswerteste Errungenschaft, die Chavez seinem Land gebracht hat, ist jedoch die Subventionierung der 17 Grundnahrungsmittel, durch die sich selbst in den ärmsten Regionen die Menschen ausreichend versorgen können.

All dies klingt nicht unbedingt nach der üblichen Vorgehensweise eines Diktators, für den sein Volk nur ein Euter ist, den man melken und auspressen kann. Woher also kommt der international schlechte Ruf des Mannes? Wenn man sich die Situation noch einmal genauer anschaut, lässt sich erkennen, dass dies weniger mit seinen volkspolitischen Entscheidungen als viel mehr mit seinem Umgang gegenüber großen, einflussreichen Unternehmen zu tun hat. Venezuela ist, auch wenn das nicht allzu bekannt ist, das Erdöl reichste Land in ganz Amerika. Hier befinden sich also die größten Ölquellen, die man finden kann, ohne den amerikanischen Kontinent zu verlassen. Eine praktische Sache, wenn man ein Ölkonzern wie beispielsweise BP oder Shell ist. Vor allem, weil die venezuelanischen Ölfelder noch eine äußerst praktische Besonderheit haben. Zu Beginn des Ölzeitalters in den 30ger Jahren war der Aufwand, den man betreiben musste, um ein Barrel Öl zu fördern noch relativ gering. Dementsprechend niedrig war auch der Energiefaktor, also das sogenannte Energy-retournd-on-energy-invested Verhältnis, das besagt, wie viel bereits gefördertes Erdöl man aufwenden muss, um neues fördern zu können. So benötigte man um 1930 nur ein einziges Barrel Öl, um 100 Barrel zu gewinnen. Heute sieht das jedoch etwas anders aus. Die Ölvorkommen sind zwar bei weitem nicht so knapp und erschöpflich, wie man es uns weiß machen will, aber der Aufwand um an das schwarze Öl zu gelangen hat sich trotzdem deutlich erhöht. Was den Mehraufwand ausmacht und worin er begründet ist, konnte uns unser Gastgeber nicht sagen, aber auf jeden Fall brauchen wir heute im Schnitt bereits mehr als 10 Barrel Öl, um die gleichen 100 Barrel zu fördern wie zuvor. Unsere Ausbeute ist nun also auf ein Zehntel der ursprünglichen gesunken. Moderne, unkonventionelle Methoden wie das Gewinnen von Erdöl aus Teersand oder Ölschiefer sind sogar noch weitaus ineffektiver. Mit einem Barrel Öl können wir hier gerade einmal 4 Barrel zu Tage fördern. Das ist ein 25 mal schlechteres Verhältnis, als noch vor rund 80 Jahren. Wenn es so weiter geht, landen wir irgendwann bei einem Verhältnis von 1:1, was dann natürlich gar keinen Sinn mehr macht. Die Ölquellen in Venezuela sind hier im Verhältnis noch deutlich aktiver und bringen daher ein besonders gutes Energie-Gewinn-Verlust-Verhältnis zustande. Dementsprechend interessant sind diese Quellen für die Ölindustrie. Doch Chavez stellt sich hier quer. Die Ölquellen seines Landes befinden sich nicht in der Hand ausländischer Großkonzerne, wie es allgemein üblich ist, sondern in der Hand des Staates. Sie sind es, die das Geld in die Staatskassen fließen lassen, das zumindest zu einem Teil in Form der Sozialfonds für bildungstechnische und medizinische Versorgung dem Volk zugute kommt. Auch der Benzinpreis an den venezuelanischen Tankstellen zeigt deutlich, dass hier kein internationales Öl-Kartel die Finger im Spiel hat. Eine Warteschlange von mehr als 50 Autos vor einer einzigen Zapfsäule sind hier Normalität, denn der Sprit ist in Venezuela günstiger, als fast überall sonst auf der Welt. Wie auch in Deutschland bekommt man an den Tankstellen in der Regel das Benzin günstiger als eine Flasche Wasser. Nur dass hier eine Wasserflasche teurer ist als eine komplette Tankfüllung. Und das ohne einen unverschämt teuren Preis bei den Wasserflaschen. Egal was für einen Wagen man fährt, und sei es ein noch so großer Pick-Up, man kann ihn hier für unter einem Euro komplett volltanken. Da wundert es dann natürlich auch wieder nicht, wenn die Ölkonzerne nicht allzu gut auf das Staatsoberhaupt zu sprechen sind. Venzuela ist eines der wenigen Länder, die überhaupt den Mut haben, sich mit der Macht anzulegen, die hinter den Ölkonzernen steckt. Nicht unbegründet, denn die Geschichte zeigt, dass dies eine wirklich gefährliche Sache ist. Von meiner Zeit in Guatemala wusste ich noch, dass es dort einmal einen Präsidenten gab, der sich nur mit der United-Fruit-Corporation, also der Institution, die den internationalen Obst-Anbau unter Kontrolle hat, angelegt hatte. Es hatte kein Jahr gedauert, bis er einem Putsch zum Opfer gefallen war.

In Venezuela beschränkte man sich bisweilen wohl zunächst einmal auf die Verleumdung des Präsidenten, so wohl im Ausland, als auch im Landesinneren. Denn weder hier noch dort, findet man kaum jemals in einer Zeitung, im Fernsehen, Radio oder sonst einem Publikationsmedium, irgendwo ein gutes Wort über den Mann. Würde alles mit rechten Dingen zugehen, dürfte das nicht sein, denn sonst gibt es über Politiker ja immer eine geteilte Meinung. Die einen loben eine Entscheidung, die anderen kritisieren sie. Das ist vollkommen normal. Selbst wenn ein poltischer Entscheidungsträger überwiegend Mist baut, findet man immer auch irgendetwas, das ihn zumindest hin und wieder einmal positiv darstellt. Vor allem aber für einen angeblichen Diktator dürfte es eigentlich kein Problem sein, die Medienzensur in seinem Land zu seinen Gunsten zu verwenden. Es sei denn, die Medien sind zwar gekauft, aber nicht von ihm. Man muss schon sehr gut suchen, wenn man doch einmal etwas positives finden will. Aber wenn man etwas findet, dann passt es so gar nicht in das propagierte Bild. So war es Präsident Chaves, von dem der Spruch „Wäre das Klima eine Bank, wäre es längst gerettet worden!“ stammte. Und um seine Worte nicht nur im Raum stehen zu lassen, ließ er ihnen auch Taten folgen, zu denen unter anderem das Verbot der Grundschleppnetzfischerei gehörte. Für den Fall, dass euch dieser Begriff nichts sagt: Grundschleppnetzfischerei ist eine der modernsten und abartigsten Methoden des Fischfanges, bei der gigantische Schleppnetze über den Meeresboden geschliffen werden. Gigantisch schreibe ich hier nicht nur, damit es sich besser anhört, sondern, weil es die Netze wirklich am besten beschreibt. Es sind Netze, in denen man bequem mehrere Passagierflugzeuge auf einmal landen könnte. Sie fangen alles, was ihnen in die Quere kommt und da man das meiste davon nicht fangen will, wirft man es tot ins Meer zurück. Auf diese Weise verenden Millionen Meerestiere als ungewollter Beifang. Und als wäre das nicht genug, zerstören die Netze jedes Jahr eine Fläche an Meeresboden, die doppelt so groß ist wie Deutschland. Dies ist einer der Hauptgründe dafür, dass heute bereits drei Viertel aller im Meer lebenden Fischsorten zu den besonders gefährdeten Arten zählen. Ist das nicht der blanke Wahnsinn? Dabei macht ein solcher Raubbau an den Fischbeständen nicht einmal aus wirtschaftlicher Sicht Sinn, denn er ist dafür verantwortlich, dass wir fast den 70fachen Aufwand betreiben müssen, um die gleiche Menge an Fisch zu fangen, wie noch vor ein paar Jahrzehnten. Doch obwohl man weiß, dass diese Art der Fischerei für eine nachhaltige Zerstörung unserer Weltmeere verantwortlich und gleichzeitig wirtschaftlicher Bullshit ist, wird sie ohne Einschränkungen fast überall auf der Welt praktiziert. Venezuela ist eines der wenigen Länder, in der sie verboten ist. Bleibt nur zu hoffen, dass dies auch so bleibt und dass nicht doch eines Tages ein politischer Umbruch kommt, der all diese Errungenschaften wieder rückgängig macht.

Heute trennten wir uns nach längerer Zeit zum ersten Mal wieder vom Canal du Midi, denn dieser führte nun mitten durch Carcassonne und das wollten wir uns nach unseren Erfahrungen von vor zwei Jahren nicht noch ein zweites Mal geben. Stattdessen wanderten wir halb um die Stadt herum und kamen so schließlich in einen kleinen Ort, in dem wir innerhalb weniger Minuten einen Schlafplatz bekamen. Entweder, die Erstverschlimmerung nach meinem Ritual ist nun langsam vorbei, oder der Canal hat uns doch weit weniger Glück und Vorteile gebracht, als wir es uns erhofft hatten. Der einzige Haken an unserer Unterkunft war, dass sie keine richtig funktionierende Heizung hatte und dass es heute noch einmal deutlich kälter wurde, als an den vergangenen Tagen.

Spruch des Tages: Je weniger die Menschen davon wissen, wie Würste und Politik gemacht werden, desto besser schlafen sie (Otto von Bismark)

Höhenmeter: 60 m Tagesetappe: 15 km Gesamtstrecke: 20.386,27 km Wetter: Sonne, Gegenwind und Eiseskälte Etappenziel: Umkleidekabine des Sportplatzes, 11800 Villedubert, Frankreich

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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